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Was sich ändern soll
In Sachen Leistung sind Deutschlands Schüler international nur Mittelmaß. Es gibt zu wenig Abiturienten – dafür aber zu viele Abbrecher in Schulen wie Hochschulen. In keinem anderen vergleichbaren Industriestaat hängt der Bildungserfolg so stark von Einkommen und Vorbildung der Eltern ab wie in Deutschland. Die Studienzeiten gelten als zu lang, die Klagen über eine unzureichende Betreuung reißen nicht ab. Nach dem Studiengebührenurteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein bundesweites Stipendiensystem noch nicht in Sicht. Die offene Föderalismusdebatte erschwert gegenwärtig notwendige Reformschritte.
Das deutsche Bildungssystem hat nicht nur bei den beiden weltweiten PISA-Schulvergleichen schlechte Noten erhalten. Auch der jährliche Bildungsreport der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fordert von der Bundesrepublik Deutschland mehr Mut bei der Modernisierung seiner Schulen und Hochschulen. „Alles Schwarzmalerei!“, warnen dagegen viele Kultusminister der Länder und verweisen auf ihre bereits eingeleiteten Reformen. In den knapp 18 Monaten zwischen der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Dezember 2001 und dem neuen Testtermin von PISA II im Frühsommer 2003 hätten diese Reformen noch keine Wirkung entfalten können – so ihr Argument. Dies gelte für die bessere und frühere Förderung von Migrantenkindern und Schülern mit schwierigem sozialen Hintergrund wie auch für die neu entwickelten bundesweiten Bildungsstandards. Diese beschreiben konkreter als die bisherigen Lehrpläne, was ein Schüler am Ende einer bestimmten Klasse können muss.
Doch die Kritik an der deutschen Schule will nicht so schnell verstummen. Zwar konnten die Schüler in Deutschland beim jüngsten PISA-Test ihre Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften leicht verbessern. Ins Kreuzfeuer der Kritik ist jedoch die unzureichende soziale Förderung an den Schulen gerückt. Generell gilt: Kinder reicher Eltern haben eine 5,7-mal größere Chance, das Gymnasium statt einer Realschule zu besuchen, als Kinder aus der unteren Mittelschicht – und das bei gleicher Begabung. Zugleich hat die hohe Zahl von Schulabbrechern und Risikoschülern Wirtschaft und Bundesregierung im „Pakt für Ausbildung“ alarmiert. Unzureichende Schulkenntnisse erschweren zunehmend die Vermittlung von Jugendlichen. Die Bundesagentur für Arbeit investiert Jahr für Jahr mehrere hundert Millionen Euro in ihre Nachqualifizierung.
Das Angebot von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) an die Länder, gemeinsam mit dem Bund nationale Bildungsstandards zur Qualitätsverbesserung des Schulunterrichtes zu entwickeln, hatten die Kultusminister unter Hinweis auf ihre Kulturhoheit abgelehnt. Verzichtet haben die Länder dabei auch auf Geld, das ihnen der Bund zum Aufbau eines zentralen Instituts zur Qualitätssicherung in Aussicht gestellt hatte. Die Kultusministerkonferenz der Länder hat inzwischen an der Humboldt-Universität zu Berlin eine eigene Einrichtung mit 20 Stellen gegründet, das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungssystem. Zum Vergleich: Das entsprechende Nationale Institut der Niederlande verfügt über 200 Stellen.
Deutlicher Reformfortschritt ist bei der frühkindlichen Bildung der Drei- bis Sechsjährigen wie auch bei der Betreuung der ganz Kleinen zu verzeichnen. Gemeinhin galt der deutsche Kindergarten bisher als „buchstabenfreie Zone“. Doch der PISA-Schock hat ein Umdenken ausgelöst, der Kindergarten in Deutschland erhält ein neues Gesicht. Die Jugend- und Kultusminister der Länder haben sich im vergangenen Jahr erstmals über einen Rahmenplan mit Bildungszielen für die Kindergärten verständigt. Dabei soll die natürliche Neugier im Kindesalter genutzt werden, um besser auf die Schule vorzubereiten. Zugleich sollen Sprachdefizite ausgeglichen werden. Das Lern- und Aufnahmevermögen wie die Persönlichkeit der Drei- bis Sechsjährigen soll gestärkt werden durch musische und künstlerische Bildung wie auch durch die spielerische Vermittlung von naturwissenschaftlichem und mathematischem Grundwissen. Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule soll nicht länger als „Bruch zwischen zwei Lebensphasen“ oder als „Eintritt in eine neue Welt“ erfahren werden.
Anders als in den neuen Bundesländern gibt es im Westen auch bei der Quantität der Kinderbetreuungsangebote noch erheblichen Nachholbedarf. Erst 1996 hatte der Bundestag mit der Neuregelung des Abtreibungsparagrafen einen Kindergartenrechtsanspruch für die Dreijährigen beschlossen. Inzwischen gibt es im alten Bundesgebiet für 88 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen Plätze. Doch immer mehr Familien wollen heute schon in der Kleinkindphase Beruf und Familie verbinden.
In diese Richtung zielt das im vergangenen Jahr vom Bundestag verabschiedete Gesetz zum Ausbau der Kindertagesbetreuung. Damit wird den Kommunen aufgetragen, bis 2010 für ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot auch für unter Dreijährige zu sorgen. Zum Ausbau der Angebote wie zur Qualitätsverbesserung der Kleinkinderbetreuung überlässt der Bund im Rahmen der Hartz-IV-Arbeitsmarktreform den Kommunen künftig pro Jahr 1,5 Milliarden Euro.
Mehr frühkindliche Förderung gilt für viele als Schlüssel, die großen sozialen Unterschiede bei der Bildungsbeteiligung auszugleichen und damit in den Schulen für ein Mindestmaß an Chancengerechtigkeit zu sorgen. Erwartet wird zugleich, dass es dann Deutschland auch gelingt, seine Begabungsreserven besser auszuschöpfen und mehr Schüler als bisher zu weiterführenden Schulabschlüssen und zum Abitur zu führen. Während heute im Schnitt der OECD-Staaten mehr als jeder zweite Schüler eine Studienberechtigung erwirbt, liegt Deutschland mit einer Quote von 37 Prozent (Abitur plus Fachhochschulreife) weit zurück.
Zwar konnte der Anteil der Studienanfänger an der entsprechenden Altersgruppe seit 1998 von 28 Prozent auf 36 Prozent gesteigert werden, doch das Potenzial für die gewünschte weitere Steigerung gilt als ausgeschöpft. Die Bundesregierung strebt eine Studienanfängerquote von 40 Prozent an. Doch dazu müssten zunächst in den Ländern die Abiturientenquoten erhöht sowie die Einstiegschancen zum Studium für beruflich Qualifizierte ohne klassisches Abitur ausgeweitet werden.
Der jüngste OECD-Bildungsreport macht dabei auf das neue Kernproblem der deutschen Bildungspolitik aufmerksam: Einem steigenden Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften in der Wirtschaft steht ein deutlicher Rückgang der jungen Bevölkerung gegenüber. Allein um den jetzigen – im internationalen Vergleich ohnehin schon niedrigen – Bestand an Hochschulabsolventen in Deutschland langfristig zu sichern, müsste die akademische Bildungsbeteiligung in den nächsten Jahren in weit stärkerem Maße wachsen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Die Studiengebührenpläne 9 einiger Bundesländer stoßen vor diesem Hintergrund nicht überall auf Zustimmung. Nach der Aufhebung des bundesweiten Studiengebührenverbots im Hochschulrahmengesetz durch das Bundesverfassungsgericht haben fünf unionsgeführte Länder die Einführung von allgemeinen Gebühren in Höhe von etwa 500 Euro pro Semester ab 2006/2007 in Aussicht gestellt.
Dagegen fürchten die SPD-geführten Bundesländer durch die Gebühren einen zu großen Abschreckungseffekt – vor allem bei Abiturienten aus einkommensschwachen Familien. Sie möchten deshalb an dem gebührenfreien Erststudium festhalten. Die Unionsländer suchen hingegen nach praktikablen Modellen einer Gebührenvorfinanzierung über Kredit. Einige Unionsländer streben dabei langfristig sogar die Umstellung des bisherigen Bafögs auf ein zu verzinsendes Volldarlehen an.
Die Gebührenbefürworter – allen voran Baden-Württembergs Wissenschaftsminister Peter Frankenberg (CDU) und sein bayerischer Amtskollege Thomas Goppel (CSU) erhoffen sich mit den zusätzlichen Einnahmen eine bessere Lehre und eine bessere Einzelbetreuung für die Studierenden an den Hochschulen – etwa durch zusätzliche Tutoren. Die SPD-Länder, die an der Gebührenfreiheit im Erststudium festhalten wollen, fürchten allerdings künftig einen zusätzlichen Ansturm von Studierenden aus Unionsländern. Der rheinland-pfälzische Wissenschaftsminister Jürgen Zöllner (SPD) droht in diesem Zusammenhang gar mit einer Landeskinderregelung und will von den Zugereisten allenfalls Bafög-Studenten und die Besten eines jeden Jahrgangs an seinen Landeshochschulen gebührenfrei studieren lassen.
Damit stellt sich im Föderalismus natürlich auch die Frage der künftigen Hochschulfinanzierung neu. Rheinland-Pfalz hat eine Bundesratsinitiative für einen so genannten Vorteilsausgleich nach Schweizer Vorbild angekündigt. Dabei hat das Bundesland für die Studienkosten eines jungen Menschen aufzukommen, in dem er geboren oder aufgewachsen ist. Ein interner Finanzausgleich der Länder soll eine gerechtere Kostenverteilung sicherstellen.
Auch ohne Studiengebühren sind die Kosten für die Hochschulausbildung zwischen den Ländern heute schon sehr unterschiedlich verteilt. So bilden die Hochschulen in Bayern, Hessen und Niedersachsen deutlich weniger Nachwuchsakademiker pro Jahr aus, als ihre Unternehmen anteilsmäßig im Land beschäftigen. Die Wirtschaft dieser Bundesländer profitiert dabei von einem Hochschulabsolventenimport vor allem aus Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen, die jeweils weit über den eigenen Landesbedarf hinaus jungen Menschen ein Studium finanzieren.
Am Beispiel Bayern hat der Bildungsforscher Klaus Klemm ausgerechnet, um wie viel Geld es dabei geht. Jahr für Jahr stellen die bayerischen Unternehmen zwischen 4.000 und 5.000 akademisch ausgebildete Nachwuchskräfte mehr ein, als die Landeshochschulen selbst ausgebildet haben. Dies entspricht der jährlichen Absolventenzahl einer Hochschule etwa von der Größenordnung der Ludwig-Maximilian-Universität München. Ihr Grundmitteljahresetat (ohne Klinikum): 270 Millionen Euro.
Text: Karl-Heinz Reith
Fotos: Picture-Alliance
Grafiken: Karl-Heinz Döring
Erschienen am 15. März 2005