Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eröffnet Jugendbegegnung anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse begrüßt heute
200 Jugendliche aus Deutschland, Polen und Frankreich, die sich zum
Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar)
auf Einladung des Bundestages zu einer Begegnung in Berlin
aufhalten. Auf dem Programm der Jugendlichen stehen am Donnerstag,
25. Januar, u.a. Besuche von Gedenkstätten im Raum Berlin
sowie eine von Iris und Oliver Berben vorgetragene Lesung des
Dialogs "Mama, was ist Auschwitz" (19.30 Uhr, Festsaal des Berliner
Abgeordnetenhauses). Am Freitag, 26. Januar, nehmen die
Jugendlichen an der Gedenkstunde zur Erinnerung an die Opfer des
Nationalsozialismus im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes
(Beginn 13 Uhr) teil und treffen sich anschließend u.a. mit
Bundespräsident Johannes Rau und Bundestagspräsident
Thierse zu einem Gesprächsforum über das Thema: "Was
lehrt uns die Geschichte - Wie können wir heute
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus entgegentreten?"
(14.30 Uhr, Reichstagsgebäude, Saal der
CDU/CSU-Fraktion).
Bei der Begrüßung der 200 Jugendlichen heute im
Reichstagsgebäude (16 Uhr, Raum 1 S 034) führt
Bundestagspräsident Thierse u.a. aus:
"Vor fünf Jahren erklärte der damalige
Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar, an dem 1945 das
Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz befreit wurde, zum
Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus. Wir
gedenken an diesem Tag aller Opfer des Nationalsozialismus. Wir
wollen uns zu diesem Anlass einerseits der damaligen Ereignisse
erinnern und damit zurückschauen. Wir wollen aber auch und
angesichts der aktuellen Problematik des Rechtsextremismus in
Deutschland ganz besonders dringend fragen, welche Konsequenzen
diese historischen Erfahrungen heute und in Zukunft für uns
haben könnten oder sollten.
Darum lädt der Deutsche Bundestag in jedem Jahr Jugendliche
aus Deutschland und den Nachbarländern ein, an der
Gedenkstunde hier im Hause teilzunehmen und gemeinsam darüber
nachzudenken, was uns mit diesem Gedenktag und mit seinem Anliegen
verbindet. Mit wem könnten wir dies besser tun, als mit jungen
Menschen, die sich wie Sie in Projekten, Initiativen oder
Gedenkstätten engagieren. Ich freue mich daher sehr, dass
über 200 junge Menschen aus Deutschland und den
Nachbarländern unserer Einladung gefolgt sind; und besonders
freue mich, dass auch sieben Gäste aus meiner Geburtsstadt
Breslau in diesem Jahr dabei sind.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus liegen mittlerweile 60 Jahre
und mehr zurück. Und dennoch sind sie in vielen unserer
politischen Diskussionen präsent; Begegnungen mit den letzten
Überlebenden und Zeitzeugen berühren uns ganz
unmittelbar. Vielleicht um so mehr, weil wir wissen, dass diese
Möglichkeit der persönlichen Begegnung zeitlich begrenzt
ist. In einigen Jahren werden an die Opfer des Nationalsozialismus
nur noch Bücher, Filme und die stummen Zeugen aus Stein in den
ehemaligen Konzentrationslagern erinnern. So einig wir uns sind,
dass es notwendig bleibt, an die Opfer und Verbrechen des
Nationalsozialismus zu erinnern, so unsicher sind wir, in welcher
Form dies geschehen soll. Ich bin sehr gespannt, welche Anregungen
und Gedanken Sie uns mit auf den Weg geben.
Je größer der zeitliche Abstand zur Nazi-Diktatur wird,
um so größer wird die Notwendigkeit der Aufklärung:
was ist damals passiert, was wurde Menschen angetan, warum und wie
waren die Verbrechen überhaupt möglich, wer waren die
Täter, wer hat geschwiegen oder gejubelt, wer hatte die Kraft
und den Willen zu widerstehen? Auf diese Fragen kann es keine
letztgültigen Antworten oder Ergebnisse geben, wie bei einer
mathematischen Aufgabe. Jede Generation stellt diese Fragen neu und
sucht nach möglichen Konsequenzen. Aber unabhängig von
unseren unterschiedlichen Erfahrungen als Zeitgenossen oder
Nachgeborene können wir die Geschichte nicht verändern
oder sie nach aktuellen Absichten hinbiegen - auch wenn Menschen
dies immer wieder versuchen. In der DDR habe ich erlebt, wie ein
ganzer Staat dies 40 Jahre lang tat, wie das Andenken an die Opfer
instrumentalisiert und mißbraucht wurde, um die eigene
Parteiherrschaft zu legitimieren.
Um so wichtiger ist es mir daher zu betonen, dass ehrliches
Gedenken untrennbar mit kritischer Aufklärung verbunden sein
muß. In besonderer Weise wird diese Verbindung an den vielen
Gedenkstätten in Deutschland hergestellt. Darum möchten
wir Sie morgen zu einem Projekttag an Berliner Gedenkstätten
einladen: Sie können dabei nicht nur die vielfältigen
historischen Bezüge, sondern auch die ganz unterschiedlichen
Formen der Vermittlung und Bildungsarbeit an diesen Orten
kennenlernen. Ich bin sicher, daß Ihnen der morgige Vormittag
viel Anregung zur gemeinsamen Diskussion geben wird, zumal sich
viele von Ihnen ja selbst in Geschichtsprojekten engagieren und
somit ihre eigenen Erfahrungen einbringen können.
Wenn ich mit jungen Menschen wie Ihnen über diese Fragen
diskutiere, werde ich in den letzten Monaten immer wieder gefragt,
ob es nicht wichtiger sei, sich mit der Gegenwart zu
beschäftigen. Haben wir überhaupt aus der Geschichte
gelernt, wenn es in Deutschland wieder Anschläge auf
jüdische Gotteshäuser gibt, wenn Menschen gejagt und
geschlagen werden, weil sie "Fremde" sind; wenn in den letzten zehn
Jahren mehr als 100 Menschen eben deshalb totgeschlagen
wurden?
Ich bin nicht sicher, ob die Geschichte so einfach wie ein Lehrbuch
"benutzt" werden kann. Aber eines ist für mich ganz
gewiß: wenn wir der Opfer des Nationalsozialismus gedenken,
so dürfen wir nicht schweigen, wenn deren Gräber und
Gedenkstätten geschändet werden, wenn sich Menschen der
Symbole und Parolen der Nazis bedienen, um schließlich deren
Werk des Hasses fortzusetzen.
Deshalb war und ist es wichtig, unsere historischen Erinnerungen
und Erfahrungen immer wieder in Bezug zu bringen mit der Gegenwart.
Darüber lade ich Sie ein, am Freitag im Anschluß an die
Gedenkstunde im Deutschen Bundestag mit dem Bundespräsidenten
Johannes Rau und anderen Gesprächspartnern zu
diskutieren.
Viele von Ihnen engagieren sich in Projekten gegen
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Ich bin daher sehr auf ihre
Fragen und Beiträge am Freitag gespannt.
Ich begrüße Sie hier im Reichstagsgebäude, dem Sitz
des Deutschen Bundestages, das selbst ein besonderer historischer
Ort ist. Sie werden gleich selbst die vielfältigen Spuren und
Steine im Hause, und gerade hier in diesem Raum sehen; Spuren, die
an den Nationalsozialismus und seine Opfer erinnern.
Die Abgeordneten des Deutsche Bundestages arbeiten hier ganz
unmittelbar im Angesicht dieser Geschichte, wir können ihr
nicht ausweichen. Und genau das haben wir so gewollt, als wir uns
vor fast zehn Jahren entschlossen, den Sitz des gesamtdeutschen
Bundestages im Reichstagsgebäude zu nehmen. Wir hätten
zwar die Spuren und Steine beseitigen können, aber nicht das
Gedächtnis der Völker der Welt. Und in diesem
Gedächtnis bleibt der Name Auschwitz das Symbol für die
Verbrechen des Nationalsozialismus.
Ich wünsche Ihnen für die nächsten beiden Tage in
Berlin gute Gespräche, Einsichten und Begegnungen. Ihr
Engagement in vielfältigen Projekten, Initiativen und
Gedenkstätten ist für das demokratische Fundament unseres
Gemeinwesens und ein tolerantes Miteinander wichtig und letztlich
unersetzlich. Sehen Sie Ihre Einladung hier in den Deutschen
Bundestag daher auch als Dank und Anerkennung für dieses
Engagement."