Grußwort von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Jahrestagung der Nationalstiftung "Demokratie auf dem Prüfstand: Bürger, Staaten, Weltwirtschaft" am 5. April 2001 in Berlin (Rathaus, Wappensaal)
"Stünde dieser Tage der Deutsche Bundestag zur Wahl,
würden - laut jüngster Umfrage - 32 Prozent aller
Jugendlichen darauf verzichten, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu
machen. Beinahe ein Drittel aller Jugendlichen bliebe zu Hause! Sie
fühlen sich offenbar nicht zuständig für die Belange
des Staates, oder glauben, ihre Stimme sei nicht wirklich gefragt.
Und warum? Weil sie die Funktionsweise und Teilhaberegeln der
Demokratie nicht durchschauen? Weil sie nur mit Mühe einen
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden können und uns auf
diesem Wege ihren Frust vermitteln wollen? Weil sie - im Lichte
aktueller politischer Skandale - dem demokratischen System
mißtrauen, es gar insgesamt in Frage stellen? Oder etwa, weil
sie sich lieber von anderen, scheinbar zeitgemäßeren
Wertvorstellungen leiten lassen - von der Spaßkultur, von den
hehren Versprechungen des "rein privaten" Glücks, von
austauschbaren Statussymbolen und dem Glanz der Warenwelt?
Ich will das Umfrageergebnis nicht dramatisieren. Denn mit diesen
Zahlen lässt sich ja auch ein anderer, ein gegenläufiger
Trend belegen - über zwei Drittel aller Jugendlichen sind
bereit, ihre demokratische Verantwortung wahrzunehmen. Zwei Drittel
wissen, dass in der Demokratie den Rechten und Freiheiten auch
Pflichten gegenüber stehen. Ihnen ist klar, dass man sich
einbringen muss, will man etwas erreichen, gestalten,
verändern.
Der größte Teil unserer Jugend ist nicht unpolitisch,
nicht orientierungslos. Das eine Drittel jedoch, dass uns per
Umfrage seine politische Passivität, ja Ignoranz bekundet,
darf uns nicht gleichgültig sein. Um die Integration dieser
Jugendlichen müssen wir uns verstärkt kümmern -
gerade die demokratischen Parteien stehen hier in der Pflicht. Denn
wie beschrieb einer der Autoren der Shell-Jugend-Studie die
Situation? Nicht die Jugendlichen seien politikverdrossen, nein,
sie hätten vielmehr das Gefühl, die Politik sei
jugendverdrossen.
Fünfeinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende und eine gute Dekade
nach Beitritt der neuen Länder zum Grundgesetz leben wir in
einer stabilen Demokratie - und denken deshalb, hinsichtlich der
Grundwerte, der Ziele und Schutzgüter von Artikel 1, 2 und 3
unseres Grundgesetzes sei alles gesagt und alles verstanden.
Erst im Lichte der von Rechtsextremismus und Gewalt sehen wir uns
gezwungen aufzuhorchen und uns zu fragen, was haben wir -
Parlamentarier, Journa-listen, Lehrer, Eltern - falsch gemacht,
versäumt, dem Selbstlauf überlassen? Wo wurzeln diese
sehr kenntlichen Defizite in der Wertevermittlung? Was können,
was müssen wir anders und besser machen, um die Jugendlichen
für die Werte der Demokratie zu öffnen, zu begeistern,
sie aktiv gestaltend in die demokratischen Prozesse
einzubinden?
Eine Selbstvergewisserung über unsere demokratischen Werte
findet offenbar bisher in nicht ausreichender Weise statt. Noch
viel zu häufig wird übersehen, dass sich die
Grundeinsichten, die 1949 Verfassungsrang erhielten und sich dann
allmählich zum gesellschaftlichen Konsens entwickelten, nicht
von selbst an die nächste Generation weiter vermitteln, dass
nicht immer voraussetzungslos auf sie verwiesen werden kann,
sondern dass sie - etwa in der Tradition Carlo Schmidts - wieder
viel mehr erläutert und begründet werden müssen.
Hier sind nicht nur der Staat und seine Institutionen, die
Multiplikatoren in Parteien und Medien gefragt, sondern alle
Bürgerinnen und Bürger. Eine parla-mentarische Demokratie
bedarf politisch wacher und politisch gebildeter Akteure. Junge
Menschen, die in einer stabilen Demokratie aufwachsen, erleben sie
als Selbstverständlichkeit - sie ist einfach da. Erst in der
Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte
erfahren sie, dass die parlamentarische Demokratie eben nicht
naturgegeben ist, dass sie kein Geschenk des Himmels ist.
Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht unterscheiden zu
können, setzt einen Lernprozess voraus. Die Demokratie und die
rechtsstaatlichen Prinzipien als kostbares Angebot für
Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu
erkennen, bedarf der Mitwirkung, des Ausprobierens, der echten
Teilhabe an politischen Gestaltungsaufgaben. Dafür müssen
wir die Wege ebnen und Gelegenheiten schaffen. Dazu müssen wir
die Jugendlichen immer wieder neu ermutigen - innerhalb, aber auch
verstärkt außerhalb der klassischen
Parteienlandschaft.
Politisches Engagement findet bei uns überwiegend in Parteien
statt, die im Prozeß der Willensbildung eine herausragende
Rolle spielen. Ich halte das für eine Stärke unseres
Systems, die ganz wesentlich zur Stabilität der Demokratie in
Deutschland beigetragen hat. Aber vielleicht hat die
"Parteiendemokratie" auch die Neigung befördert, die Politik
"den Politikern" zu überlassen. Inzwischen wird Politik
tatsächlich weitgehend von Berufspolitikern gestaltet, und die
Distanz zwischen den Bürgern und den von ihnen gewählten
Vertretern ist gewachsen. Gerade das belegt ja auch die eingangs
zitierte Umfrage.
Trotz allem bleiben die Parteien für unsere Demokratie
unersetzlich. Ich sehe jedenfalls nicht, wer ihre Rolle
übernehmen könnte. Wer dafür plädiert, die
Parteien zurückzudrängen, der muss auch sagen, was dann
an ihre Stelle treten soll. Der muss belegen, dass auch dann nicht
das Kapital allein das Sagen hat. Denn die demokratischen Parteien
- und darin besteht ihre herausragende Leistung in der Geschichte
der Demokratien - sind ja auch Institutionen, die der Macht des
Geldes, der Vorherrschaft des ökonomischen Interesses sozialen
Ausgleich und über Markt und Wettbewerb hinausreichende Werte
entgegensetzen.
Das Ansehen der Parteien, das Ansehen der Demokratie hat -
darüber müssen wir offen sprechen - im Zuge der
Parteispendenaffäre Schaden genommen. Im Osten Deutschlands
hat sie ein altes und tief sitzendes, von der DDR gezüchtetes
Vorurteil gegen die Demokratie scheinbar bestätigt - nach dem
Motto: Im Kapitalismus beherrscht das große Geld die Politik.
Das hat Demokratiefremdheit gefestigt, schlimmer noch:
antidemokratische Vorurteile bestärkt.
Andererseits läßt ja gerade die Aufdeckung des
Spendenskandals auch die Stärken der Demokratie erkennen.
Demokratie geht nicht davon aus, dass es irgendwo oben die besseren
Menschen gäbe, ohne Fehl und Tadel. Sie verleiht Macht nur auf
Zeit und setzt auf Kontrolle und kritische Öffentlichkeit.
Entgegen den düsteren Szenarien vom Untergang des Staates und
der Demokratie hat dieser Vorgang auch gezeigt: Die staatlichen
Institutionen funktionieren, Verfehlungen werden aufgedeckt,
Verletzungen der Regeln nicht geduldet Die Parlamente, die
Regierungen, die Gerichte, die Verwaltungen, die Medien tun ihre
Arbeit. Jetzt müssen wir beweisen, dass wir es in diesem und
in anderen Fällen ernst meinen mit der Aufklärung
politischen Fehlverhaltens, und zwar in allen Parteien. Geschieht
das nicht oder nur unzureichend, wird der Schaden für die
Glaubwürdigkeit der Demokratie sehr nachhaltig sein, vor allem
im Osten Deutschlands.
Von allen Seiten, von jungen Menschen ebenso wie von Leuten aus der
Wirtschaft, den Banken, den Medien, ertönt seit Jahren der
Ruf, die Parlamente, ja Politik allgemein, seien zu kraftlos, zu
zögerlich, sie hinkten dem Leben hinterher. Und verwiesen wird
dann häufig auf die sich immer stärker verschärfende
Diskrepanz zwischen der Schnelligkeit und der Reichweite
ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und der
Langsamkeit und Kurzatmigkeit politischer Prozesse und
Entscheidungen andererseits.
Doch Vorsicht! Die Kritik der Langsamkeit demokratischer Verfahren
ist gefährlich, schließlich stellt sie nicht weniger als
die demokratischen Verfahrensweisen selbst in Frage. Das Tempo
demokratischer Entscheidungsprozesse ergibt sich nicht aus der
Unfähigkeit oder Entscheidungsscheu von Parteien und
Politikern. Es ergibt sich aus der Gewaltenteilung, aus dem
Föderalismus, aus dem Mehrheitsprizip, das zugleich dem
Minderheitenschutz verpflichtet ist, aus der Gleichheit vor dem
Gesetz und den Regeln des Rechtsstaats, die nicht zuletzt deshalb
so kompliziert sind, weil sie der Gleichheit vor dem Gesetz ebenso
gerecht werden wollen wie der Spezifität jedes Einzelfalles.
Der Vorwurf der Langsamkeit greift an die Wurzeln der Demokratie,
wenn nicht mehr vermittelbar ist, dass der Ausgleich von Interessen
und das Aushandeln von Entscheidungen notwendig für den
Zusammenhalt der Gesellschaft sind.
Die mit der Wahrnehmung dieser Diskrepanz sich verstärkende
Ungeduld der Bürger gegenüber politischem Handeln
schlägt sich bei diesen natürlich in sehr kenntlichen
Erwartungshaltungen nieder. Der Widerspruch zwischen diesen
Erwartungshaltungen, dem Problemdruck, den die Bürger mehr
oder minder deutlich wahrnehmen, auf der einen Seite, und die
quälende Langsamkeit der politischen Prozesse auf der anderen
Seite, scheinen mir das eigentliche Problem zu sein, mit dem wir
uns heute zu beschäftigen haben.
Was ist zu tun? Wir müssen an einer neuen politischen Kultur
arbeiten, die es vermag, mehr und mehr Bürger an politischen
Entscheidungsprozessen zu beteiligen, in der wir aber zugleich auch
die Langsamkeit des demokratischen Entscheidungsprozesses
verteidigen. Es geht um die Öffnung der Parteien, um mehr
Bürgerpartizipation. Warum sollte auf Bundesebene nicht gehen,
was in vielen Ländern schon möglich ist?
Ich plädiere seit langem dafür, die Beteiligungsrechte zu
erweitern und unser parlamentarisches System durch plebizitäre
Elemente zu ergänzen. Derentwillen bin ich vor Jahren in die
gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat
gegangen, noch voller Euphorie, als jemand, der die Demokratie der
Straße erlebt und gesagt hat, dass dies vielleicht die
kostbarste politische Erfahrung ist, die wir Ostdeutschen in das
gemeinsame Deutschland einbringen. Das müsste eine Chance
haben, auch im Grundgesetz einen Widerhall zu finden. Doch - Sie
wissen es - die damaligen Mehrheitsverhältisse im Bundestag
standen dagegen. Inzwischen haben sich nicht nur die
Mehrheitsverhältnisse gewandelt, auch die Stimmung ist heute
eine etwas andere, zumindest in dieser Frage. Auch bei CDU/CSU und
FDP wird inzwischen eine größere Öffnung auf
Bundesebene nicht mehr ausgeschlossen. Gerade Anfang dieser Woche
setzte ja die CDU-Präsidiumssitzung ein entsprechendes
Zeichen.
Der Parteivorstand der SPD hat im vergangenen Monat die Erweiterung
der Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger
beschlossen - und zwar auf Bundesebene. Die SPD setzt sich
dafür ein, die Bevölkerung an wichtigen
Sachentscheidungen teilhaben zu lassen, wofür allerdings eine
Verfassungsänderung erforderlich ist. Unsere Vorschläge
sehen Verbesserungen und Ergänzungen beim Petitionsrecht
ebenso vor wie die Einführung neuer Instrumente - also
Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid. Die SPD wirbt um
die Zustimmung der anderen Parteien, damit ihre Vorschläge
noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden
können.
Franz Müntefering hat in seinem Brief an die
Generalsekretäre der anderen im Bundestag vertretenen Parteien
zu Gesprächen eingeladen, um Möglichkeiten eines
gemeinsamen Vorgehens zu erörtern.
Ich bin optimistisch. Ich denke, es ist in absehbarer Frist
möglich, die erste Beteiligungsstufe (Volksinitiative) auch
auf Bundesebene zu erreichen, mit der die Bürger bei
vorliegendem Quorum den Bundestag veranlassen können, sich mit
einem Thema oder Gesetz zu befassen. Perspektivisch setze ich
darauf, dass wir die drei grundlegenden Elemente auf Bundesebene
haben werden.
Neue, wirkungsvollere Formen der Bürgerbeteiligung bewirken
keine Schwächung oder gar Delegitimierung unseres
parlamentarischen repräsentativen Regierungssystems, sondern -
ganz im Gegenteil - dessen Ergänzung, Bereicherung,
Differenzierung und Öffnung. Aber plebizitäre Elemente
sind kein Allheilmittel. Sie werden, darüber sollte sich
niemand wundern, die demokratischen Prozesse gewiß nicht
beschleunigen: Die gründliche Information und die
erschöpfende Diskussion werden notwendiger sein denn je.
Demokratie ist und bleibt ein Instrument der Bürgerinnen und
Bürger. Doch ob sie dieses Instrument, dieses Angebot annehmen
und nutzen, das liegt nicht allein in der Hand der Parteien oder
einzelner Politiker. Das liegt in der Entscheidung jedes
einzelnen.
Es bleibt eine unserer wichtigsten Aufgaben, für
demokratisches Engagement zu werben. Zu den zeitgemäßen
Wertvorstellungen, von denen ich eingangs gesprochen habe,
gehören auch heute die im Grundgesetz verankerten Werte und
Verfahren. Wir müssen der jungen Generation - besser als
bisher - vermitteln, warum das so ist: Politische
Gleichgültigkeit, Politikferne kann sich nur der leisten,
dessen privates Glück nicht durch politische Unfreiheit
bedroht ist. Auch die Spasskultur, die unsere Jugend so fasziniert,
ist nur in einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft
denkbar."