Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Verleihung des Lew-Kopelew-Preis an HALO Trust
Der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse,
hielt am 8. April in Köln anlässlich der Verleihung des
Lew-Kopelew-Preises an die Organisation HALO Trust die Laudatio und
führte dabei u.a. aus:
"Wann immer ich nach Köln komme, denke ich - und ähnlich
ergeht es mir in Dresden - an die Bilder der einst dem Erdboden
gleichgemachten Stadt. An die Wüste der Zerstörung.
Mahnend stehen noch die "Trauernden Eltern" in der Ruine von Sankt
Alban, geschaffen nach einem Entwurf der Künstlerin Käthe
Kollwitz, in deren Museum wir uns befinden.
Vor dieser Folie sieht der, der in das heutige Köln kommt, das
geschäftige Treiben in den Strassen und wird sich bewusst, mit
wie viel Kraft und Lebensmut die Menschen damals die Stadt wieder
aufgebaut haben. Gewiss: unter großen Entbehrungen,
häufig genug in der täglichen Sorge um das nackte
Überleben und auch in der ständigen Gefahr, durch
Blindgänger und einstürzende Gebäude zu Schaden zu
kommen.
Es gab Berge von Schutt. Und man hat die Schaufeln in die Hand
genommen und nicht lange geredet. Eine harte Zeit - und doch hat
der gemeinsame Aufbau der Stadt viel Nachbarschaftshilfe und
Solidarität erfahren lassen.
Kaum weniger schrecklich als die Erfahrung des Krieges ist die
Einsicht, dass manche Kriege nie ein Ende zu nehmen scheinen, auch
wenn sie längst Geschichte geworden sind.
Schrecklich ist es, über die dauerhafte Zerstörung ganzer
Landstriche zu hören - einschließlich der fruchtbarsten
Äcker und Felder - und damit über die Zerstörung der
Le-bensbasis von Millionen Menschen. Von Bauern, Frauen, Kindern,
die den Krieg überlebt haben und jetzt noch, Jahrzehnte
später, zu Opfern werden, bei der Feldarbeit, beim Spielen
oder weil man nur ein paar Meter von der Straße abgekommen
ist.
Auf minenverseuchtem Gelände hilft das Motto "Ärmel
aufkrempeln, aufbauen!" nicht; denn jeder Schritt aus dem Haus, in
den Garten, aufs Feld, jeder Spatenstich kann tödlich
sein.
100 Millionen Landminen lauern verstreut in über 60 Staaten
auf ihre Opfer. Und sie würden noch in 50 und mehr Jahren
Mensch und Tier verstümmeln und töten, wenn nicht so
beherzte Organisationen wie HALO Trust sie aus der Erde
holten.
Es sind mörderische Waffen, die nicht zwischen Soldaten und
Zivilisten unterscheiden. Nein, noch perverser: manche Minen sind
als Spielsachen getarnt, damit Kinder sie arglos aufsammeln und
zerfetzt werden. In Kambodscha gibt es mehr Minen als Kinder - zwei
für jedes Kind.
Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schätzt, werden
Monat für Monat 800 Menschen von Minen getötet und
weitere 1.200 verstümmelt. In den letzten 55 Jahren haben
Antipersonen-Minen mehr Todesopfer und Verletzte gefordert als alle
nuklearen, biologischen und chemischen Waffen zusammen.
Werden diese Befunde in der Bundesrepublik Deutschland
überhaupt wahrgenommen, oder sind es nur Zahlen und
Statistiken?
Sicher: wenn die Eifel mit Landminen gepflastert wäre oder
ganz Nordrhein-Westfalen, würden wir aufschreien. Aber liegt
der Kosovo nicht weit weg auf dem Balkan, und sind etwa Afghanistan
oder Somalia nicht Monde entfernt? Was haben wir damit zu tun
?
Unsere Wahrnehmung ist selektiv. Sie gleicht dem Blick durch den
"Fächer der Königin" - wie es der Verfassungsrechtler
Martin Kriele in einem schönen Bild sagt. Ge-meint ist der
Fächer, den sich die Königin in Brechts
"Dreigroschenoper" vor die Augen hält, um den
entgegenkommenden Zug der Bettler aus ihrem Gesichtsfeld zu bannen
- und so ihr Gewissen nicht zu belasten.
Nun können wir uns im Medienzeitalter nicht so einfach des
Fächers der Königin bedienen. Durch die Medien sind die
Katastrophen aus aller Welt allgegenwärtig und
unentrinnbar.
Wir haben wahrhaft nicht zu wenig Information darüber. Aber
sind wir nicht letztlich unbeteiligte Zuschauer, Betrachter zudem,
die sich gegenüber diesen ständigen Katastrophen
ohnmächtig fühlen und resignieren?
Die Bilder wechseln, ohne auf Antwort zu warten. Wieso sollten wir
da "Ver-Antwortung" empfinden? Wir sehen viele, vielleicht allzu
viele Bilder über Gewalt und Unglück.
Nicht wegschauen, sondern helfen: Zum Glück gab und gibt es
dafür leuchtende Beispiele, die uns ermutigen. Heinrich
Böll etwa, der ganz schlicht im Geiste der Bergpredigt gelebt,
geschrieben, gewirkt hat und dafür auch - man sollte es in
diesen Tagen nachtragender Häme nicht verschweigen -
geächtet, denunziert und verfolgt wurde.
Und eben sein Freund Lew Kopelew, der - als trotzkistischer Student
zu Stalins Zeiten; als Major der Roten Armee, als
Lagerhäftling, als rehabilitierter und dann
ausgebürgerter Wissenschaftler - für
Völkerverstän-digung, Toleranz und Achtung der
Menschenwürde gekämpft hat.
Lew Kopelew war ein Humanist, der immer wieder "Kopf und Kragen"
riskierte, trotz aller Verfolgung und persönlicher
Gefährdung. Der "trotz alledem" seinem Gewissen gefolgt ist
und sich eingemischt hat - wie sein Kölner Freund.
Lew Kopelew hat - wie man weiß - als Offizier die Untaten
kritisiert, die von der siegreichen Roten Armee an der deutschen
Bevölkerung begangen wurden. Er wurde deshalb zu 10 Jahren
Lagerhaft verurteilt. Wohl selten ist Humanität auf so
ungewollt anrührende Weise beurkundet worden wie durch die
Begründung dieses Urteils: "wegen Mitleids mit dem
Feind."
Ganz im Sinne einer solchen Humanität, die nicht abstrakt
bleibt, sondern sich in tätiger Nächstenliebe
äußert, wirkt der heutige Preisträger, HALO Trust,
der 1988 von Colin Mitchell gegründet wurde.
Mitchell war Oberstleutnant - ähnlich dem Major der Roten
Armee Lew Kopelew. Er hat noch nach 1945 als Berufssoldat auf allen
Schlachtfeldern für das untergehende Briti-sche Weltreich
gekämpft. Dann aber widmete er sich mit der "Organisation
für die Wiederbelebung gefährlicher Gegenden" - was das
Kürzel HALO in deutscher Übersetzung bedeutet -
humanitären Aufgaben, nämlich der Räumung von
Landmi-nen.
HALO Trust ist nicht die einzige Nicht-Regierungs-Organisation, die
auf diesem Feld weltweit tätig ist. Bereits die ersten
Initiativen kritisierten den Widerspruch zwischen dem
Internationalem Recht und seiner Umsetzung. Nach international
gültigem Men-schenrecht müssen Kriegsgegner zwischen
Zivilbevölkerung und kämpfender Truppe unterscheiden. Der
Einsatz von Waffen, die diese Unterscheidung nicht machen
können, ist verboten - also auch der Einsatz von Landminen.
Für dieses Engagement ernteten diese Initiativen zunächst
nur Hohn und Spott von Seiten der Regierungen und der
Militärs.
Die Nicht-Regierungsorganisationen jedoch haben sich nicht
entmutigen lassen, sondern auf der Einhaltung des Völkerrechts
bestanden. Sie haben für die internationale Ächtung der
Antipersonenminen gekämpft und in der Öffentlichkeit
für dieses Ziel geworben. Und vor allem: ihre Mitarbeiter
haben ungeachtet aller Schwierigkeiten und aller Verfolgung unter
Einsatz ihres Lebens versucht, in den am stärksten betroffenen
Ländern so viele Minen wie möglich zu entfernen und zu
vernichten.
Sie haben dabei weltweit viel Unterstützung erfahren. So sei
an das Engagement der Prinzessin von Wales erinnert. Lady Diana hat
sich nachdrücklich für die Arbeit von HALO Trust
eingesetzt. Und auch Lew Kopelew hat sich zusammen mit seinem
Freund Rupert Neudeck im Kampf gegen die Landminen engagiert.
Es war ein Kampf David gegen Goliath, der aber schließlich zu
internationaler Aner-kennung führte. So wurde - wie man
weiß - Jody Williams 1997 für die "Internationale
Kampagne zum Verbot der Landminen" mit dem Friedensnobelpreis
ausgezeichnet. Vor allem aber führte der Kampf der vielen, in
einem Netzwerk verbundenen Nicht-Regierungs-Organisationen - wie
HALO Trust - zu einem Übereinkommen über das "Verbot des
Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von
Antipersonenminen und über deren Vernichtung".
Das Ottawa-Übereinkommen konnte am 1. März 1999 in Kraft
treten, nachdem es von über 130 Staaten unterzeichnet und von
über 80 ratifiziert worden war. Es ist skandalös, dass
die USA, China und Russland noch nicht beigetreten sind.
Die Bundesrepublik Deutschland hat das Zustandekommen des
Übereinkommens nachhaltig unterstützt. Sie hat es als
einer der ersten Staaten ratifiziert und sie ist in den Vereinten
Nationen und der Europäischen Union in besonderer Weise
für die Implementierung tätig geworden.
Bereits vor dem Inkrafttreten hat die Bundeswehr als einer der
ersten Armeen ihre gesamten Bestände an Antipersonenminen, bis
auf Reste zu Übungszwecken, vernichtet.
HALO Trust hat sich von Beginn an nicht um die Anfeindungen
gekümmert. Seine Mitarbeiter wurden diskriminiert, verfolgt
und der Spionage bezichtigt. Sie haben ungeachtet dessen weiter
geholfen, diese mörderischen Waffen zu beseitigen und zu
vernichten.
Inzwischen ist HALO Trust in 9 Ländern mit über 3.000
Mitarbeitern aktiv. Die meisten Helfer sind Einheimische des
betroffenen Landes, die von Mitarbeitern der Organisation in dem
gefährlichen Handwerk des Aufspürens und der Vernichtung
von Minen eingewiesen und betreut werden.
Es gibt - soviel ich weiß - keine direkte Äußerung
von Lew Kopelew zu HALO Trust, was nichts besagen will.
Schließlich gibt es viele Umstände und Indizien, die uns
die Gewissheit vermitteln, dass Lew Kopelew es von Herzen
begrüßt hätte, HALO Trust mit dem Preis, der seinen
Namen trägt, ausgezeichnet zu wissen:
- Die Maximen und das Handeln von HALO Trust atmen jenen Geist des
Widerständigen, des Engagements und der Nächstenliebe,
die das Leben von Lew Kopelew auszeichnete.
Web-Seiten von Organisationen vermitteln im allgemeinen in
gefälliger Ausführlichkeit die edlen Ziele der
Einrichtung. Die Web-Seite von HALO Trust ist bemerkenswert
bescheiden und schlicht. Statt in werbewirksam großen Worten
fasst sie die Philosophie ihrer Arbeit lapidar in dem Statement
zusammen: "Holt die Minen aus dem Boden! Jetzt!"
Ich denke, bereits das hätte Lew Kopelew gefallen. Er, der von
alttestamentarischer Statur und Sprachgewalt war, machte keine
großen Worte, wenn es darum ging, zu helfen. Die Sprache der
Nächstenliebe sind Taten - nicht blumige Girlanden.
- Ein Zweites: Das Räumen von Minen ist gefährlich. Die
Mitarbeiter von HALO Trust riskieren ihr Leben. Auch Lew Kopelew
hat sich nicht geschont. "Trotzdem, trotz alle-dem" war sein Motto,
wie Fritz Pleitgen nach seiner ersten Begegnung mit ihm berichtet
hat.
- Und schließlich: Millionen Minen, Tausende von
Unschuldigen, die jährlich getötet oder schwer verletzt
wurden, internationale Vereinbarungen, die diesen Wahnsinn
rechtfertigten: Das war die Realität, als HALO Trust mit der
Arbeit begann. Der Kampf schien damals aussichtslos, auch weil
jährlich mehr Minen neu verlegt wurden, als geborgen werden
konnten. "Trotzdem, trotz alledem": Wenn Brüderlichkeit und
Menschlichkeit wirklich mehr als Worte sind, dann ist - wie das
schöne Wort von Heinrich Böll sagt: "Einmischung die
einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben."
Colin Mitchell hat nicht kapituliert. HALO Trust hat vor der schier
unlösbaren Aufgabe nicht resigniert, zusammen mit den
befreundeten Organisationen 100 Millionen Landminen zu beseitigen
und Millionen Menschen vor Leid, Schmerz und Tod zu retten. HALO
Trust ist - im Sinne von Heinrich Böll - realistisch geblieben
und hat sich eingemischt, damit Menschen die Chance haben - nein,
nicht bloß den Krieg, sondern auch den Frieden danach zu
überleben.
HALO Trust ist ein würdiger Preisträger des Lew
Kopelew-Preises.
Meine Damen und Herren: wir haben des Namensgebers des Preises
gedacht, wir haben die Verdienste des Preisträgers
gebührend erwähnt und für würdig befunden,
diesen Preis zu empfangen.
Das alles hat seine Ordnung - und doch: irgend etwas scheint zu
fehlen, wenn ich an den Einsatz für Menschlichkeit und
Toleranz von Lew Kopelew denke, der in seinem praktischen
Engagement nie ermüdete. Und erst recht fehlt etwas, wenn ich
an die Mitarbeiter von HALO Trust denke, deren eigentliches
Aktionsfeld nicht solche Festveranstaltungen sind, sondern die in
Feldern, Wäldern und Dschungeln ständig Gesundheit und
Leben riskieren.
Sollte nicht im Sinne von Lew Kopelew und von HALO Trust von dieser
Veranstaltung Konkretes ausgehen, müssten nicht Taten folgten?
Ich jedenfalls hoffe sehr, dass diese Verleihung des
Lew-Kopelew-Preises dazu beiträgt, die Menschen vor den
Fernsehgeräten wachzurütteln, ihnen das Leid von Menschen
in anderen Regionen unseres Globus bewusst zu machen. Von diesem
Leid sind wir nur dann durch den Bildschirm getrennt, wenn wir
unsere Gefühle ausblenden, nicht wirklich sehen und wahrhaben
wollen, was geschieht. Bürgerschaftliches Engagement gegen
Krieg, Unrecht und Gewalt - das ist der Kern des Lebenswerks von
Lew Kopelew. Wir ehren dieses Lebenswerk, wenn immer mehr
Mitglieder der Zivilgesellschaft eintreten für die weltweite
Abschaffung von Antipersonenminen und die Sicherung des Friedens.
Nehmen wir deshalb das Motto von Halo Trust ernst: "Holt die Minen
aus dem Boden! Jetzt!". Durch finanzielle und ideelle
Unterstützung können wir dazu beitragen, dass die alten
Minen entfernt und keine neuen, noch perfekteren, noch grausameren
verlegt werden. Und vor allem können wir darauf hinarbeiten,
dass nicht nur Kriegsgeräte gebannt werden, sondern der Krieg
als Mittel der Politik von der Staatengemeinschaft insgesamt
geächtet wird.
Vor allem beweist uns der heutige Preisträger: Man muss nicht
resignieren vor der Flut von schlechten Nachrichten und
Katastrophenbildern. Man kann etwas tun, man kann selbst
Verantwortung übernehmen und durchaus - die Welt
verbessern."
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