Bundestagspräsident Wolfgang Thierse würdigt Dr. h.c. Richard Stücklen
Bei einer Zusammenkunft mit ehemaligen
Präsidenten und Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages
in der Parlamentarischen Gesellschaft hat Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse heute seinem Vorgänger Dr. h.c. Richard
Stücklen zum 85. Geburtstag gratuliert. Der
Bundestagspräsident führte u.a. aus:
"Nach den Massenmord-Attentaten vom 11. September spüren wir
alle, wie dünn das Eis, wie schmal der Grat ist, von dem
unsere Zivilisation, von dem die Sicherheit einer offenen
Gesellschaft getragen wird. Mit dieser noch frischen Erfahrung, in
dem Bewusstsein, dass noch längst nicht alle Opfer des
Verbrechens geborgen sind, lässt es sich nicht leicht feiern.
Man zögert vor jeder solchen Gelegenheit.
Heute geht es aber um eine Persönlichkeit, die sich zeitlebens
für diese offene Gesellschaft eingesetzt und bemüht hat.
Es wäre geradezu ein schwerer Fehler, die Würdigung
dieser Leistung zu unterlassen!
Es ist auch ein Fehler, sich den Alltag, unsere Rituale, unsere
Lebensfreude rauben zu lassen. Sonst würde aus Wachsamkeit,
Besonnenheit, Sorgfalt sehr schnell Verbissenheit bis hinunter auf
die Stufe des Hasses und des Fundamentalismus, die wir doch
abwehren wollen.
Richard Stücklen ist wieder genesen, und das gehörte
jedenfalls zu den erfreulichen Nachrichten der letzten Zeit. Und
wenn jemand - auf Grund seiner Persönlichkeit und seiner
Leistung - eine Geburtstagsfeier in diesem Rahmen und mit diesen
Gästen verdient, dann Sie, verehrter Herr Stücklen.
Die Versuchung ist groß, jetzt einfach aus Ihren
druckfrischen Erinnerungen vorzutragen. Der will ich widerstehen -
bis auf diese Bemerkung: Ihre heutige Selbstwahrnehmung und die
Wahrnehmung Ihres Wirkens und Ihrer Persönlichkeit durch
andere, stimmen überein.
"Mit Humor und Augenmaß" - das wäre sicher vielen
eingefallen, wenn sie ein Motto über Richard Stücklen
hätten erfinden müssen.
Die Handwerksordnung und die Postleitzahl, Herr Bundesminister a.
D., gehören zu Ihren immer wieder genannten Verdiensten, aber
ich glaube, was wirklich bleibt und geblieben ist, ist der Mensch,
der Parlamentarier, der Parlamentspräsident Stücklen, der
mit Humor spannungsgeladenen Streit und gespannte Nerven von
Kontrahenten entspannen und mit Augenmaß Konflikte lösen
konnte.
1949 kamen Sie erstmals in den Bundestag - auf Strümpfen, wie
man erfahren kann - und hier sind Sie 41 Jahre lang geblieben. Der
Vorsitzende der CSU-Landesgruppe war natürlich auch ein
Kämpfer und ein hartnäckiger Vertreter seines Landes und
seiner Partei, der CSU. Autorität wuchs ihm aber zu, weil es
ihm spürbar immer um die Stärkung und Sicherung der
parlamentarischen Demokratie insgesamt ging. Eines Ihrer
wichtigsten politischen Lebensziele war, wie Sie schreiben, zu
verhindern, dass aus Bonn noch einmal Weimar werden
könnte.
Dieses Engagement für die parlamentarische Demokratie konnten
Sie gerade als Vizepräsident und Präsident des Deutschen
Bundestages zwischen 1976 und 1990 gründlich ausleben. Und so
waren Sie ein sehr populärer Repräsentant des gesamten
Bundestages: ein Mann mit Tatkraft und Durchsetzungsvermögen,
aber eben auch mit Humor und Lebensfreude. In Ihrer Antrittsrede am
4. November 1980 haben Sie betont, dass Politik eine ernste
Angelegenheit ist. Aber Sie haben auch gesagt:
"Nirgends steht geschrieben, dass die politische Auseinandersetzung
mit tierischem Ernst geführt werden muss. Mehr Menschlichkeit
und auch ein Schuss Humor ist für uns alle dringend
vonnöten." Eine wahrhaft programmatische Feststellung. Es hat
bis heute niemand gewagt, daran zu rütteln.
Und wie es im Leben so ist, wirkt das eigene Verhalten, das
persönliche Beispiel viel überzeugender als jeder
programmatische Satz. Und man wusste in ganz Deutschland, dass Sie
ein harter und gewissenhafter Arbeiter waren. Aber vor allem, dass
Sie ein begeisterter Fußballfan und ein leidenschaftlicher
Kartenspieler waren - und vermutlich noch sind - der abends in der
Parlamentarischen Gesellschaft mit seinen Abgeordnetenkollegen
gerne Schafkopf spielte - und am liebsten gewann! Verloren haben
Sie nach meinen Informationen absichtlich nur einmal beim Boccia in
Cadenabbia. Adenauer sei zu ehrgeizig, hatte Ihnen Ihr
mitspielender Fraktionschef zugeraunt.
Sehr einverstanden kann ich mich mit Ihrem Bemühen um und
Ihrer Forderung nach verständlicher Sprache der Politik, mit
Ihrem Einsatz für die Würde des Parlaments und für
die Einheit Deutschlands erklären. Dass Ihre ehemalige
Ausbildungsstätte, die sächsische Fachhochschule
Mittweida, Sie zum Ehrendoktor ernannte, es nach dem 3. Oktober
1990 überhaupt konnte, hat Sie bewegt - und das kann ich sehr
gut nachvollziehen.
Nach der staatlichen Vollendung der Einheit sind Sie im Dezember
1990 aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden - wir waren also
knapp drei Monate lang Parlamentarierkollegen - um endlich mehr
Zeit Ihrer Frau, Ihrer Familie, insbesondere den geliebten
Enkelkindern widmen zu können. Aber - wie Sie sehen - der
Deutsche Bundestag vergisst nicht.
Wir wünschen Ihnen, lieber Herr Stücklen, auch weiterhin
Kraft und Gesundheit. Vielleicht hätte ich mir viele Worte
ersparen können, aber ich wollte mir dieses eine Wort, das
alles über den Parlamentarier sagt, für den Schluss
aufbewahren. Es sind nicht viele Männer - und noch weniger
Frauen - denen die Öffentlichkeit diesen Titel zuge-dacht hat.
Alle haben sie unsere Demokratie aufgebaut und über Jahrzehnte
hinweg im Deutschen Bundestag lebendig fortentwickelt. Der
Ehrentitel, der Ihnen nun wirklich gehört, lautet:
parlamentarisches Urgestein. Er ist noch treffender, als der
Glückwunsch Willy Brandts nach Ihrer Abschiedsrede am 20. 9.
1990 im Plenum: "Ich bedanke mich für das, was Sie in mehr als
vierzig Jahren für unsere parlamentarische Demokratie
geleistet haben." Diesen Worten können wir uns nur
anschließen."
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