Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zum Tag der Deutschen Einheit
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist einer der
Hauptredner bei der zentralen Festveranstaltung zum Tag der
Deutschen Einheit am 3. Oktober in der rheinland-pfälzischen
Landeshauptstadt Mainz (Rheingoldhalle, Beginn 12 Uhr). Vor
zahlreichen Gästen aus dem In- und Ausland, darunter dem
polnischen Staatspräsidenten Kwasniewski, führt
Bundestagstagspräsident Thierse dabei aus:
„Wie war das vor elf Jahren? Mit dem Glück der
gewonnenen Einheit, das wir in Berlin und überall in
Deutschland gefeiert haben, und das wir auch heute, elf Jahre
später, Anlass haben zu feiern - mit diesem großen
Glücksgefühl war bei vielen von uns die Hoffnung
verbunden, die verheißungsvolle Erwartung, dass das Ende des
Ost-West-Konflikts, das Ende des Kalten Krieges ein Goldenes
Zeitalter des Friedens eröffnen könnte. Diese Hoffnung
hat sich nicht erfüllt.
Trotzdem behält der 3. Oktober seine Bedeutung für die
deutsche Nation, auch wenn wir ihn heute im Schatten eines anderen
Datums feiern: Der 11. September zeigt uns, wie gefährdet der
Frieden, wie bedroht die Freiheit, wie verletzlich unser Glück
ist!
Schon in den vergangenen elf Jahren konnten Nordirland und das
Baskenland nicht befriedet werden. Der Balkankonflikt mit seinen
vier Kriegen hat uns vor viele schwere Entscheidungen gestellt.
Innenpolitisch hat das vereinte Deutschland zwar heute die
Probleme, die wir uns 40 lange Jahre gewünscht hatten. Aber
außenpolitisch hat Deutschland, statt eine goldene Zeit zu
erleben, plötzlich neuartige Verantwortung zu tragen. Jetzt
fühlen auch wir uns durch den internationalen Terrorismus
unmittelbar bedroht.
Auf dem Balkan kann inzwischen – zum Glück – die
Priorität politischer Lösungen immer wieder neu
hergestellt werden. Das vereinte Deutschland hat dabei mehrfach
eine helfende Rolle spielen können. Das sollten wir deutlich
auf der Habenseite verbuchen, wenn wir den Tag der deutschen
Einheit begehen.
Der massenmörderische Anschlag auf New York und Washington
aber wurde von Tätern begangen, die mit diplomatischen,
politischen Mitteln nicht zu erreichen sind. Das ist es, was viele
unserer Hoffnungen und Denkgewohnheiten in Frage stellt.
Ich kann die Bilder des 11. September nicht vergessen, und meine
Vorstellungskraft reicht allenfalls in Ansätzen aus, mir das
Leiden, das Entsetzen, die Verzweiflung der 6.000 Opfer vor Augen
zu führen. Auch von dieser Stelle aus will ich mein und unser
Mitgefühl zum Ausdruck bringen.
Am 3. Oktober 1990 haben sich die Staaten des damaligen Warschauer
Paktes, hat sich Ostdeutschland für die freie, die offene
Gesellschaft entschieden. Wir dürfen uns auch durch die
jüngsten schrecklichen Ereignisse nicht dazu drängen
lassen, jetzt Freiheit und Demokratie in Frage stellen, in Zweifel
ziehen zu lassen.
Nein: Wir müssen die Freiheit verteidigen und wir dürfen
sie - gerade heute - auch feiern. Und wir müssen am
europäischen Haus weiter bauen. Es ist gut, wenn jetzt eine
große, vor einem Monat noch utopisch erschienene
internationale Koalition von Staaten entsteht, um die Zivilisation
– ganz gleich ob sie auf christlichen oder islamischen
geistigen Fundamenten beruht – gegen islamistischen Terror zu
verteidigen.
Das Prinzip der Zusammenarbeit, das für die erfolgreiche
europäische Entspannungspolitik eine so wichtige Rolle
gespielt hat, könnte auf diese Weise in weitaus
größerem Maßstab konstruktive Wirkung entfalten.
Wir werden weiter arbeiten an der Festigung der Freiheit in Europa
durch europäische Integration – namentlich durch die
Osterweiterung der Europäischen Union. Die Rede des russischen
Staatspräsidenten vergangene Woche vor dem Deutschen Bundestag
hat Perspektiven geboten, die noch darüber hinaus
weisen.
Ich finde, es ist ein schönes Symbol für das
Zusammenrücken in Europa, dass heute der polnische
Staatspräsident hier in Mainz, im Westen Deutschlands, zu uns
reden wird, nachdem im letzten Jahr, der französische
Staatspräsident unser Ehrengast war, als der 3. Oktober in
Dresden fast an der Grenze zu Polen und Tschechien gefeiert
wurde.
Es ist noch nicht so weit, dass die regionale Zusammenarbeit, die
Freundschaft, die menschlichen Beziehungen hin und her über
die deutsch-polnische Grenze hinweg, dieselbe Qualität und
Intensität haben, wie die über die Grenze zwischen
Deutschland und Frankreich. Ich sage das ohne Vorwurf, denn vom
Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Vertrag über die
deutsch-französische Freundschaft hat es fast zwei Jahrzehnte
gedauert, obwohl man auf derselben Seite des Eisernen Vorhangs
lebte und miteinander verbündet war. Die
deutsch-französische Grenze bemerkt man heute kaum noch, wenn
man in ihrer Nähe ist.
Die Freundschaft zu Polen dagegen konnte erst wirklich mit Leben
erfüllt werden, seit die Blockbildung überwunden ist. Wir
haben inzwischen ermutigende Beispiele für die sich
verbessernde deutsch-polnische Nachbarschaft: Denken Sie nur an die
Europa-Universität Viadrina, in Frankfurt/Oder, die vor
wenigen Wochen ihren zehnten Geburtstag gefeiert hat. Ein Drittel
aller Studienplätze sind dort für junge Polen reserviert.
Und gerade auf den Weg gebracht wurde das Collegium Polonium in
Slubice – ein Gemeinschaftsprojekt der Viadrina mit der
Universität Poznan. Ich denke, das sind zwei beeindruckende
Beispiele für die heute gelebte gute Nachbarschaft.
Andererseits ist bis heute unsere Grenze zu Polen als
Außengrenze der EU unübersehbar. Doch das wird
hoffentlich bald anders werden. Ich freue mich darauf und ich
weiß, dass viele diese Freude teilen.
Ostdeutschland kann von der Osterweiterung der EU besonders
profitieren. Wenn man bedenkt, dass hier im Westen Deutschlands ein
ganz erheblicher Teil des Wohlstandes dem wirtschaftlichen
Austausch mit den westlichen Nachbarstaaten entstammt, bietet die
EU-Mitgliedschaft Polens und Tschechiens beste Perspektiven.
Dazu müssen wir in Ostdeutschland aber noch einige kleinere
Hindernisse überwinden, die hier im Westen oft nicht gesehen
werden:
Ostdeutschland hatte den großen Vorteil, sehr schnell Teil
der EU geworden zu sein und zugleich Nutznießer großer
westdeutscher Solidarität. Beide Vorteile hat unser polnischer
Nachbar nicht. Trotzdem ist die Stimmung in Ostdeutschland
vielerorts schlechter als die in Polen. Das liegt sicher daran,
dass die Vereinigung eines kleinen Staates, dessen System politisch
und ökonomisch gescheitert, mit einem größeren,
dessen Ordnung in jeder Hinsicht erfolgreich war, ganz
zwangsläufig zu einer Dominanz des Westens führen musste.
Polen, Ungarn, Tschechen und andere mussten sich hingegen
weitgehend am eigenen Schopf aus der planwirtschaftlichen Misere
ziehen. Viele ihrer Bürgerinnen und Bürger sind dann zwar
nicht unbedingt mit ihrer jeweiligen Regierung einverstanden, aber
wenigstens auf das selbst Geleistete stolz.
Nach einem Jahrzehnt nachholender Modernisierung die dem westlichen
Muster zu folgen hatte, fühlen viele Ostdeutsche sich immer
noch als Lehrlinge – weil sie lange auch so behandelt worden
sind – und zweifeln, ob jede Problemlösung dieser Jahre
wirklich der Weisheit letzter Schluss gewesen sei. Ich finde, wir
müssen in Ostdeutschland dieses Gefühl der
Zurücksetzung überwinden und wir haben auch alle Chancen
dazu.
Was in elf Jahren erreicht wurde, ist sehr viel und wahrlich kein
Grund zur Klage: Der Zerfall der Innenstädte wurde gestoppt;
Dresden, Erfurt, Görlitz, Rostock, Leipzig, Potsdam und viele
andere traditionsreiche Städte strahlen in neuem Glanz. Der
Ausbau der Infrastruktur ist sehr weit fortgeschritten und hat
stellenweise den im Westen Deutschlands sogar überholt. Sieht
man vom Einbruch des Bausektors ab, hat es in Ostdeutschland im
vergangenen Jahr ein erfreuliches Wachstum gegeben. Die sozialen
Sicherungssysteme funktionieren, das Bildungswesen, die
Universitäten haben nach der Umstellung ein hohes Niveau
erreicht. Die Umstellung der Landwirtschaft kann weitgehend als
Erfolg gefeiert werden. Die Menschen haben individuell eine hohe,
kaum zu unterschätzende Leistung in dieser ungeheuer schnellen
Transformation erbracht. Darauf darf man stolz sein.
Aber wir haben auch Sorgen. Wir sorgen uns um die Abwanderung
junger und qualifizierter Menschen. Wir haben lediglich Inseln des
Wachstums, was sich in der Fläche kaum auswirkt. Die
wirtschaftliche Kluft zwischen West und Ost ist sogar
größer geworden. Bei der beschriebenen Mentalität,
den verbreiteten Benachteiligungsgefühlen werden diese
Tatsachen natürlich viel eher zur Kenntnis genommen als die
positiven Entwicklungen.
Ich rate deshalb, dass Ostdeutschland sich wesentlich stärker
auf die eigenen Kräfte besinnt, dass der ständige
Vergleich mit dem Westen, die allzu einfachen Vorstellungen von der
nachholenden, nachahmenden Modernisierung aufgegeben werden zu
Gunsten der regionalen Entwicklung von Produktion und
Dienstleistungen. Die Märkte der östlichen Nachbarn und
zukünftigen EU-Mitglieder müssen vielmehr in den Blick
genommen werden. Ostdeutschland kann so zu einer europäischen
Verbindungsregion werden und muss nicht Angst davor haben, zu einem
West-Ost Transitgebiet abzusinken.
An westdeutscher Solidarität mangelt es dabei nicht, wie der
neue Solidarpakt und der Länderfinanzausgleich beweisen. Damit
und mit dem Sonderprogramm für den Städtebau, mit der
Schwerpunktsetzung bei der Förderung von Investitionen und
Existenzgründungen, mit der Stärkung regionaler
Kompetenzen der ostdeutschen Länder und Gemeinden, und mit
einer stärkeren Förderung von Wissenschaft und Forschung
sind die Weichen in die richtige Richtung gestellt.
Wenn man auch einräumen muss, dass das, was wir die innere
Einheit nennen – mit all ihren ökonomischen,
politischen, kulturellen und mentalen Faktoren –, immer noch
zerbrechlich ist, so muss man doch betonen: Die Einheit kann, sie
muss und sie wird gelingen, wenn wir in ihrem nun beginnenden 12.
Jahr den beschriebenen Perspektivenwechsel vornehmen. Es bleibt ein
großes Glück, dass wir uns im Herbst 1989 die Freiheit
erkämpft haben. Die noch bestehenden Mängel können
– mit einiger Mühe gewiss – beseitigt werden.
Diese gemeinsame Aufgabe anzupacken sollte uns jede Anstrengung
wert sein.“
10088 Zeichen