Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Deutschlandpremiere des Films "Der Pianist" von Roman Polanski am 21. Oktober im Berliner Ensemble
"Roman Polanski hat viele bedeutende Filme gedreht, aber noch
nie einen Film wie "Der Pianist". Das Thema dieses Films hat er
über viele Jahre mit sich herumgetragen. Es ist eng mit seiner
Biographie verflochten: mit der Erfahrung der grausamen
nationalsozialistischen Judenverfolgungen im besetzten Polen. Roman
Polanski stand als kleiner Junge in Warschau an der Strasse und
sah, wie die deutschen Besatzer einmarschierten. Er erlebte, wie
die Ausgrenzung der Juden, die Jagd auf Juden begann. Seine Eltern
wurden ins KZ verschleppt, seine Mutter in Auschwitz ermordet. Sein
Vater konnte das KZ Mauthausen überleben. Roman Polanski
selbst flüchtete aus dem Krakauer Ghetto, irrte jahrelang
durch Polen, immer auf der Suche nach einem Versteck und nach
Menschen, die ihm halfen.
Roman Polanski hat solche Menschen gefunden. Er überlebte den
Holocaust und begann ein neues Leben. Er studierte in Warschau und
Lodz, wurde Regisseur bedeutender Filme - zuerst in Polen und dann
im Westen. Roman Polanski hat Filmgeschichte geschrieben, aber er
wollte nie seine eigene Überlebensgeschichte verfilmen. In
einem Interview hat Roman Polanski kürzlich gesagt: "Ich
wollte immer einen Film aus diesen Tagen machen, und ich wollte
einen Film in Polen machen. Aber ich wollte nie meine eigene
Biographie verfilmen. Es ist zu nah, das ist nicht meine Art zu
arbeiten." Auch das Angebot, in "Schindlers Liste" Regie zu
führen, lehnte er ab - weil der Film zu eng mit seinen
Kindheitserfahrungen, mit seiner Heimatstadt Krakau verbunden war,
mit den Menschen, die ihm nahe standen und die er verloren
hat.
Für Roman Polanski - und uns alle - war es deshalb ein
Glücksfall, dass er vor Jahren auf die Autobiographie von
Wladyslaw Szpilman stieß, auf den Tatsachenbericht "Das
wunderbare Überleben". Die Auseinandersetzung mit Szpilmans
Geschichte eröffnete ihm die Möglichkeit, die eigenen
Erfahrungen des Lebens im Grauen fest zu halten. Wer dieses Grauen
überlebt, wird es nicht wieder los. Ich wage die Behauptung:
trotz dieser Distanz ist "Der Pianist" Roman Polanskis
persönlichster Film geworden.
Aber ich spreche hier nicht als Filmkritiker. Der Film ist
keineswegs cineastisch, sondern vor allem politisch bedeutsam. "Der
Pianist" erzählt eine Geschichte, die nicht vergessen werden
kann - von niemandem, der diesen Film gesehen hat. "Der Pianist"
geht unter die Haut: er führt uns vor Augen, was Menschen
Menschen antun, wenn elementare Grundsätze von
Menschenwürde und Menschenrechten außer Kraft gesetzt
werden - damals wie heute. Dieser Film lässt anschaulich
werden, warum in unserer Gesellschaft schon die Ansätze zu
Menschenverachtung, Rassismus, Antisemitismus keine Chance haben
dürfen. Das können Kunst, Literatur, der Film viel
aufrüttelnder, viel wirkungsvoller als der erhobene
Zeigefinger zeitgeschichtlicher Seminare und moralisierender
Leitartikel. Der Film über Wladyslaw Szpilman erklärt die
Gründe für die Verteidigung humanitärer Grundwerte
nicht nur, er macht erfahrbar, fühlbar, dass wir die
Grundrechte sichern und an künftige Generationen weitergeben
müssen. Sie sind für jede Gesellschaft lebenswichtig, die
zivilisiert und demokratisch sein will.
Der Film "Der Pianist" läuft hier zu dem Zeitpunkt an, an dem
wir in Europa auf dem Weg zu guter Nachbarschaft das entscheidende
letzte Stück angehen. Ich meine die Erweiterung der
Europäischen Union. Ich halte die enge Freundschaft zwischen
Deutschland und Polen bei der Erweiterung für genauso wichtig,
wie es die zwischen Deutschland und Frankreich für die
Gründung und den bisherigen Erfolg der EU war. Aber diese
Freundschaft wird nur Bestand haben, wenn wir uns Rechenschaft
ablegen über die Vergangenheit, die in Polanskis Film so
eindrucksvoll vor unser Auge tritt und über die Konsequenzen,
die wir daraus für die Zukunft ziehen. Gerade wegen dieser
Vergangenheit wollen wir ein gemeinsames Europa der Menschenrechte
und Menschenwürde, des Friedens, der Freiheit und sozialer
Gerechtigkeit schaffen. Ein solches Europa wäre ohne
geschichtliche Selbstvergewisserung nicht tragfähig. Roman
Polanskis "Der Pianist" - übrigens eine
französisch-deutsch-polnisch-britische Co-Produktion -
trägt ein wichtiges Stück zu dieser Selbstvergewisserung
bei.
Sehr geehrter Herr Polanski, in einer Rezension Ihres Filmes ist zu
lesen, "Der Pianist" sei deshalb so eindringlich, weil er "ein
einfacher Film" sei. Ich weiß nicht, ob das zutrifft. Sie
alle, meine Damen und Herren, werden sich gleich Ihre Meinung
bilden können. Aber es gibt in diesem Film eine Szene, die
zeigt, dass es die einfachen Handlungen von Menschen sind, in denen
Hilfe, Mitgefühl, Fürsorglichkeit, Mitmenschlichkeit
deutlich werden. An einem kleinen Gebrauchsgegenstand unseres
alltäglichen Lebens wird bewusst: die Abkehr von Hass und der
Widerstand gegen Rassismus und Entmenschlichung beginnt mit
einfachen, alltäglichen Handlungen - im Warschau des Zweiten
Weltkriegs und, wie ich hoffe, ebenso im Berlin von heute und an
jedem anderen Ort."
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