Bundestagspräsident Thierse zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält bei der
Veranstaltung im Deutschen Bundestag zum Tag des Gedenkens an die
Opfer des Nationalsozialismus (28. Januar 2002, 14 Uhr) ein
Ansprache. Der Bundestagspräsident führt dabei aus:
"Nie mehr wird der Name "Auschwitz" fallen, ohne Entsetzen, Trauer
und Scham auszulösen. Nach dem 27. Januar 1945 wurden die
Bilder aus dem befreiten Konzentrationslager zum
unauslöschlichen Zeugnis einer von Deutschen in Gang gesetzten
Todesmaschinerie, die erst gestoppt werden konnte, als ihr rund 13
Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Heute, 57 Jahre nach
der Befreiung von Auschwitz, sind wir im Plenarsaal des Deutschen
Bundestages zusammen gekommen, um aller Opfer der
nationalsozialistischen Barbarei zu gedenken.
Ein deutsches Regime hat die Welt in einen Krieg und Millionen von
Menschen in den Tod getrieben. Bis heute verbindet sich mit dem
Namen Auschwitz die ungeheuerliche Dimension und Perversion des
Völkermordes an sechs Millionen Juden. Aber auch Millionen von
Nichtjuden aus der Sowjetunion, aus Polen und vielen anderen
europäischen Ländern, Sinti und Roma, Homosexuelle,
behinderte und kranke Menschen, Mitglieder von
Glaubensgemeinschaften, politisch Andersdenkende wurden in
Konzentrationslager verschleppt, ausgebeutet, misshandelt und
systematisch ermordet.
Die bittere Erkenntnis, wozu Menschen fähig sind, muss uns bis
heute irritieren und beunruhigen. Wie konnte es geschehen, dass
jeder Maßstab für Recht und Unrecht verloren ging und
die Fundamente eines zivilisierten Kulturstaates untergraben
wurden? Warum haben so viele dazu geschwiegen, warum haben nur so
wenige gewagt, die Würde des Nächsten und sein Recht auf
Leben zu verteidigen? Wie war es möglich, dass die
Fähigkeit, mitzufühlen und mitzuleiden verloren ging und
damit auch jeder Sinn für Würde und Selbstachtung? Und
vor allem: Wie können wir, die Nachfolgenden, verhindern, dass
so etwas noch einmal geschieht? Niemand hat bis zum heutigen Tage
verbindliche, schlüssige oder gar beruhigende Antworten auf
diese Fragen geben können.
Von Johann Baptist Metz stammt der Satz: "Auschwitz standzuhalten
heißt nicht, Auschwitz zu begreifen. Wer hier begreifen
wollte, hätte nichts begriffen". Auschwitz standzuhalten - das
heißt vor allem, die Erinnerung an das Leid der Opfer wach zu
halten und immer wieder auch in diese tiefsten Abgründe
unserer Geschichte hinabzusteigen. Die Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit wird niemals abgeschlossen sein, weil die Einsichten,
Lehren und Konsequenzen daraus niemals sicher und niemals
selbstverständlich sein werden.
Die erste Konsequenz war am Beginn der Bundesrepublik unser
Grundgesetz: eine freiheitliche, demokratische, rechtsstaatliche
Verfassung, die die Achtung der Menschenwürde zum obersten
Maßstab des Zusammenlebens erklärt. Die zweite
Konsequenz ist die europäische Integration, die feste
Einbindung Deutschlands in eine europäische Nachkriegsordnung,
die sich dann, Schritt für Schritt, zu einer stabilen
Staatengemeinschaft entwickelt hat.
"Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg" - das war der leitende
Wille all derer, die die Schrecken des Zweiten Weltkrieges
überlebt hatten. Das Grundmotiv der Europäischen Einigung
war eine konkrete Utopie des Friedens. Diesem Ziel schien Europa
nie näher als 1989: Mit dem Fall der Mauer in Berlin verband
sich die Hoffnung, das Ende des Kalten Krieges könnte ein
Goldenes Zeitalter des Friedens eröffnen. Doch diese Hoffnung
hat sich nicht erfüllt. Statt endlich die ersehnte
Friedensdividende einzufahren, sind wir mit immer neuen
Konfliktherden, mit immer neuen Ausbrüchen von Gewalt
konfrontiert. Auch in Europa standen und stehen wir vor dem
Dilemma, dass der Einsatz von Gewalt nun doch wieder als - wenn
auch letztes - Mittel erscheint, um Gewalt einzudämmen.
Blicken wir seit dem Schrecken des 11. September vorigen Jahres
anders auf Auschwitz? Verändert dieses Datum unser Gedenken?
Wichtiger aber ist die andere Frage: Welche Konsequenzen hat unser
Gedenken an Auschwitz für heute - angesichts einer neuen,
unerhörten Bedrohung unserer Freiheit, unserer Art des
Zusammenlebens, unserer Werte? Vielen, gerade in der älteren
Generation, hat sich die Erinnerung aufgedrängt insbesondere
an das Jahr 1938 und die mit diesem Jahr verbundene Erfahrung, dass
die so verständliche Friedenssehnsucht keine angemessene
politische Antwort auf die Bedrohung durch einen Gewalttäter
und ein Gewaltsystem war. Der entsetzlichste Krieg der Geschichte
folgte, Hitlerdeutschland beging die furchtbarsten Verbrechen der
bisherigen Geschichte.
Ich weiß, geschichtliche Parallelen stimmen nie ganz. Aber
aus der bitteren Erfahrung des 20. Jahrhunderts haben wir doch
hoffentlich endgültig gelernt, dass es notwendig ist, für
die Werte der Zivilisation auch einzustehen und sie zu verteidigen
- und zwar rechtzeitig!
Die Utopie eines friedlichen Europa hat in den letzten fünfzig
Jahren reale Kraft entfaltet und eindrucksvolle Erfolge erbracht.
Gerade jetzt müssen wir daran weiter arbeiten - namentlich
durch die Erweiterung der Europäischen Union. Wir müssen
uns immer wieder neu der Werte versichern, die die Grundlage der
europäischen Kultur und das Fundament unserer demokratischen
Gesellschaft sind: Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit
und Gerechtigkeit, Respekt und Toleranz - die Ideale von Humanismus
und Aufklärung, die von den deutschen Nationalsozialisten mit
Füßen getreten wurden.
Für uns Deutsche ist es besonders beschämend, wenn
Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus hierzulande wieder
einen gefährlichen Nährboden von Ignoranz und Arroganz
finden. Rassisten reicht die Feststellung, dass sich eine andere
Gemeinschaft anders orientiert, um sie zu bekämpfen, sie zum
Feind zu erklären. Wo genau die Unterschiede und wo die
Gemeinsamkeiten liegen, interessiert sie nicht. Darin liegt der
entscheidende Unterschied zwischen souveräner Behauptung des
Eigenen und primitiver Ausgrenzung des Anderen. Deshalb ist es
nicht nur gefährlich, wenn junge Menschen zu wenig über
andere Religionen wie das Judentum oder den Islam wissen. Es ist
auch gefährlich, wenn sie zu wenig über die eigene Kultur
und die eigene Geschichte wissen. Wie sollen, wie können sie
die europäische Kultur und ihre Werte verstehen, ohne deren
jüdische und christliche Grundlagen zu kennen? Wie sollen sie
den Wert von Freiheit und Demokratie begreifen, wenn sie nichts vom
Schicksal derer erfahren, die unter Unrechtsregimen leiden, die
durch Unrechtsregime sterben mussten?
Gedenktage allein reichen sicherlich nicht aus, um gerade junge
Menschen für die Ideale der Demokratie und für die Idee
eines vereinten Europa zu begeistern. Wer diesen Gedenktag aber als
rhetorisches Ritual kritisiert, der unterschätzt die Chance,
auch und gerade Jugendlichen authentische Erfahrungen weiter zu
geben. In diesem Jahr haben wir den polnischen Historiker und
Politiker Bronislaw Geremek gebeten, über seine Erfahrungen zu
sprechen. 1932 in Warschau geboren, hat Bronislaw Geremek unter
zwei Diktaturen gelitten. Sein Vater kam in Auschwitz ums Leben,
seine Mutter und er selbst überlebten nur mit viel Glück.
Im kommunistischen Polen engagierte sich Bronislaw Geremek für
die verbotene Gewerkschaft "Solidarnosc" und wurde einer der
engsten Mitarbeiter Lech Walesas. Obwohl er mehrfach inhaftiert
wurde, ließ er in seinem politischen Engagement für die
Freiheit nicht nach.
Wir alle erinnern uns gut daran: Mutige Polen waren die ersten, die
in den achtziger Jahren am Eisernen Vorhang rissen. Ohne sie und
ohne die Ungarn, die Tschechen, die Ostdeutschen, die ihrem
Beispiel folgten, wäre der Kommunismus nicht überwunden,
wäre der Weg in ein ungeteiltes Europa nicht geebnet worden.
Bei der Verleihung des Karlspreises 1998 in Aachen hat der
polnische Europäer Bronislaw Geremek gesagt: "Sofern
überhaupt etwas gegenüber dem Schrecken des Krieges, dem
Drama der Shoah, der totalitären Systeme ein Gewicht haben
kann, ist es der Gedanke an die Leistung der europäischen
Zivilisation und an den Geist Europas. In der europäischen
Idee fand ich die Hoffnung."
Die europäische Idee hat auch Deutsche und Polen langsam, nach
und nach, einander näher gebracht. Einen wichtigen Schritt hat
Willy Brandt 1970 getan: Seine Geste in Warschau war getragen von
dem Bewusstsein, dass keine Nation so unter der deutschen
Gewaltherrschaft gelitten hat wie die Polen. Sechs Millionen
polnische Bürger, darunter drei Millionen Juden, sind dem
nationalsozialistischen Angriffskrieg und dem Terror der
Besatzungszeit zum Opfer gefallen. Heute, gut fünfzig Jahre
später, verbindet Polen und Deutsche wieder viel mehr als eine
"Interessengemeinschaft", sondern, das glaube ich fest, Sympathie
und Solidarität und ein gemeinsamer Geist. Ich
begrüße herzlich Bronislaw Geremek. Und mit ihm
begrüße ich Marek Edelmann, einen der Führer und
Helden des Warschauer Ghetto-Aufstandes. Ebenso begrüße
ich Freya von Moltke, Clarita von Trott zu Solz und Rosemarie
Reichwein, die bewunderungswürdigen Frauen des deutschen
Widerstandes.
Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass Polen und Deutsche heute
diesen Gedenktag gemeinsam begehen. Auch das ist ein Beweis
für die Kraft der europäischen Idee, der wichtigsten
Konsequenz aus dem Leid der Opfer, derer wir heute gedenken."
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