Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse zur Vergabe des MPW-Journalistenpreises (30. Januar 2002, 19.00 Uhr, Berlin, Forum Hotel)
Es gilt das gesprochene Wort
"Hauptsache, weg hier" heißt es in einem der prämierten
Beiträge. Gesprochen hat diesen Satz ein Neubrandenburger, der
aus seiner Heimatstadt in den scheinbar zukunftsträchtigen
Westen ziehen möchte. Dieser Satz stammt übrigens nicht
aus den 80er Jahren, sondern aus dem letzten Jahr. "Schön,
wenn sie hier bleiben" - ist auf einem Plakat an einem
leerstehenden Wohnblock in Halle zu lesen - ein hilfloser,
verzweifelter Versuch, die Menschen doch noch umzustimmen. Beide
Sätze illustrieren die gleiche dramatische Situation: Allein
im Jahr 2000 wanderten über 61.000 Menschen mehr gen Westen
als von West nach Ost. In Rostock, Schwerin, Cottbus, Magdeburg,
Chemnitz oder Gera nahm die Bevölkerungsentwicklung in den
letzten zehn Jahren um durchschnittlich 18 % ab.
Angesichts dieser Entwicklung hat die heutige Preisverleihung eine
besondere Bedeutung.
Es geht beim diesjährigen Journalistenpreis des
Märkischen Presse- und Wirtschaftsclubs Berlin um die Zukunft
des Ostens. Dass sich mehr als 100 Wettbewerbsteilnehmer mit dem
Thema auseinandergesetzt haben, stimmt mich froh. Es zeigt, dass
die Abwanderung von vielen Menschen mit Sorge beobachtet
wird.
Welche Folgen die schrumpfende Bevölkerung auf die
Wohnungswirtschaft hat, weiß niemand besser als Sie:
Über eine Million leer stehende Wohnungen und
Förderprogramme aller ostdeutschen Länder für
Rückbaumaßnahmen - ein geschöntes Wort für
Abriss. Das sind höchst alarmierende Anzeichen für eine
Entwicklung, die mehrere Gründe hat: Verlust von
Arbeitsplätzen, Ost-West-Wanderung bzw. Ostabwanderung ins
Ausland, sinkende Geburtenraten, Rückbau der Infrastruktur
(Schulen, Bahnlinien, Krankenhäuser) - eine Spirale von
Enttäuschungen und sinkenden Hoffnungen.
Sie wollen heute etwas hören über die Chancen der neuen
Länder. Wie sehen die politischen Konzepte für diese
Regionen aus, um die Struktur- und Wirtschaftsprobleme zu
lösen? Sind wir in Ostdeutschland auf dem richtigen Weg -
gemessen an den Herausforderungen des europäischen
Erweiterungsprozesses? Oder brauchen wir eine Kurskorrektur ?
Müssen wir uns etwa damit abfinden, dass der deutsche Osten
auf sehr lange Zeit das strukturschwache, menschenleere
Anhängsel des Westens sein wird?
Es geht um das politische Konzept, das dem Aufbau Ost zugrunde
liegt, um das Selbstverständnis der politischen Akteure - im
Bund, in den Ländern und in den Kommunen.
Die Wohnungswirtschaft berühren diese Fragen auf dramatische
Weise. Wie ein Indikator spiegelt der Zustand des Bau- und
Wohnungssektors die wirtschaftliche und mentale Situation in
Ostdeutschland wider. Hier fokussiert sich vieles von dem, was
erreicht worden ist, aber auch einiges von dem, was noch immer im
Argen liegt.
Dazu brauchen wir eine ehrliche, weder schöngefärbte noch
schwarzgemalte Bestandsaufnahme.
Unsere Startbedingungen in die "westliche Welt" waren gut. Im
Vergleich zu den osteuropäischen Staaten hatten die neuen
Bundesländer einen großen Vorteil: Sie wurden sehr
schnell Teil der EU und Nutznießer großer westdeutscher
Solidarität. Was bei uns in nur elf Jahren erreicht wurde, ist
nicht wenig: Der Zerfall der Innenstädte wurde gestoppt und
ins Gegenteil verkehrt. Der Ausbau der Infrastruktur ist heute weit
fortgeschritten, stellenweise hat er den Westen überholt. Das
Bildungswesen wurde reformiert, die Landwirtschaft umgestaltet,
soziale Sicherungssysteme wurden aufgebaut.
Die parlamentarische Demokratie funktioniert. Die rechtsstaatlichen
Verwaltungen und die unabhängige Justiz arbeiten nach
westdeutschem Muster. Diese Vorgabe schaffte Orientierung und
vermittelte Stabilität. Das nicht dankbar anzuerkennen,
wäre schlichte Ignoranz.
Aber es wäre ebenso ignorant, die bitteren Wahrheiten
herunterzuspielen. Die wirtschaftlichen Daten sprechen nicht von
einer Erfolgsgeschichte der deutschen Vereinigung. Nach dem
wirtschaftlichen Zusammenbruch entwickelte sich die ostdeutsche
Wirtschaft zunächst bis 1995 mit zweistelligen Wachstumsraten.
Es schien, dass das Konzept der nachholenden Modernisierung -
zumindest was die Zahlen betrifft - aufging. Seitdem aber geriet
der Aufholprozess nicht nur zum Erliegen, der Osten ist seit 1997
gegenüber dem Westen sogar wieder zurückgefallen. Seit
1997 nimmt das Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland nicht mehr
zu; es verharrt bei etwa 61 % des Bruttoinlandsprodukts des
Westens. Die stärksten neuen Länder befinden sich weiter
hinter den Schwächsten unter den alten Länder. Der
EU-Vergleich fällt genauso dramatisch aus: In der EU ist
Ostdeutschland mit 15 Millionen Einwohnern die größte
unterentwickelte Region knapp über dem Niveau Portugals. Die
Exportschwäche in den neuen Ländern hält an, etwa
jeder vierte Erwerbsfähige hat keine reguläre Arbeit.
Besonders dramatisch ist die Abwanderung junger Menschen. Sie
lässt den Osten Schritt für Schritt vergreisen.
Auf Dauer, darin sind wir uns einig, kann eine wirtschaftlich
geteilte Republik nicht funktionieren. Der Osten kann nicht auf
immer und ewig von Solidarität und Alimentierung leben -
ökonomisch nicht und erst recht nicht mental. Er muss
herausfinden aus seiner Rolle als verlängerte Werkbank und als
Absatzmarkt des Westens.
Wir brauchen ein neues strategisches Konzept für einen zweiten
Anlauf beim Aufbau Ost: weg von Anpassungs-, Annäherungs- und
Gleichmachungsmechanismen. Diese bergen nämlich die Gefahr,
stets einen Schritt hinterher zu hinken und wirklich gravierende
Probleme als Übergangsprobleme zu bagatellisieren.
Außerdem gibt es nicht mehr viel, was der Osten vom Westen
noch lernen könnte. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Jetzt
sollten sich die Ostdeutschen auf ihre eigenen Möglichkeiten
besinnen: auf die großartigen Leistungen der letzten 10
Jahre, auf die noch recht jungen und frischen
Demokratieerfahrungen, auf ihre Veränderungserfahrungen und
Veränderungsbereitschaft.
Auf dem Fundament dieses so berechtigten wie leider oft immer noch
zurückhaltenden ostdeutschen Selbstbewusstseins müssen
jetzt die Weichen neu gestellt werden.
Die Zukunftsfähigkeit des Ostens hängt im wesentlichen
von drei Punkten ab:
Entscheidend ist, dass sich die Demokratie bewährt. Das
erfordert die Stärkung des demokratischen Engagements durch
institutionelle Reformen und verbesserte Repräsentation
ostdeutscher Interessen.
Entscheidend wird sein, ob hinreichend viele wettbewerbsfähige
Wirtschaftsregionen entstehen.
Entscheidend wird schließlich sein, wie sich Ostdeutschland
auf seine künftige Funktion als europäische
Verbindungsregion vorbereiten kann.
Erstens zur Demokratiefrage: Sie ist nach wie vor brisant, denn
demokratische Strukturen zu haben, reicht nicht. Demokratie muss
von den Bürgern jeden Tag gelebt werden, muss sich immer
wieder bewähren. Das bisherige Prinzip der Nachahmung beim
Aufbau Ost hat überwiegend zur Blockade selbsttragender
Prozesse, zu einer Lähmung von Initiative und Innovation
geführt. Bei einem vergleichsweise großen kulturellen
Kapital, dem hohen Bildungs- und Qualifikationsgrad der
Bevölkerung, angereichert mit gemeinschaftsbezogenen
Einstellungen und Improvisationtalent, ist das soziale Kapital der
Ostdeutschen, ihre Einbindung in öffentliche und private
Netzwerke unterentwickelt geblieben. Soziales Kapital ist aber die
Fähigkeit, durch Selbsthilfe, Kooperation, Improvisation,
Netzwerke, mittels demokratischer Institutionen oder politischer
Einflussnahme Umstände zu verändern, die Dinge zu
bewegen.
Die Zukunftschancen für den Osten hängen entscheidend
davon ab, dass sich wirksame Interessenvertreter und Netzwerke der
Kooperation entwickeln und profilieren.
Die Politik, die Medien und natürlich die Menschen selbst
müssen für ein aufgeklärtes Handeln, eine neue
Mündigkeit sorgen, aus der dann gesellschaftliche
Verantwortung und Teilhabe wachsen können. Die
Kreativität, die Fantasie der Ostdeutschen darf nicht weiter
brach liegen. Die Menschen müssen sich viel stärker in
ihre ureigenen Angelegenheiten einmischen, und das nicht nur bei
Wahlen. Sie dürfen nicht darauf warten, dass alles von oben
und von anderen geregelt wird. Nicht Resignation und Larmoyanz,
sondern Selbstbehauptung, Mut, demokratisches Engagement sind in
den neuen Ländern gefragt - mehr denn je.
Zur zweiten Herausforderung, dem Aufbau einer
wettbewerbsfähigen Wirtschaft:
Da hört man neuerdings unglaublich hohe Förderungssummen,
die nach dem Gießkannenzufallsprinzip über
Ostdeutschland ausgekippt werden sollen.
Sicherlich brauchen wir finanzielle Mittel, aber vor allem auch
Ideen und Konzepte, wohin diese Gelder fließen sollen.
Ostdeutschland benötigt ein umfassendes Programm wirtschafts-
und beschäftigungspolitischer Initiativen, um den Stagnations-
und Rückfallprozess umzukehren. Geld- und
Währungspolitik, Haushalts- und Steuerpolitik des Staates und
Lohnpolitik der Tarifpartner müssen so aufeinander abgestimmt
werden, dass eine Trendwende überhaupt möglich wird. Wir
stehen letztlich vor der Entscheidung: entweder nochmals
kräftig neue Ideen in die Zukunft zu investieren oder
dauerhaft Subventionen zu zahlen, damit die schlimmsten sozialen
und politischen Verwerfungen eingedämmt werden. Anders
ausgedrückt: kräftiger Anschub zur Selbsthilfe oder
dauernde Alimentierung, die doch nicht die Gefahr, menschenleere
Regionen zu schaffen, abwenden kann.
Ich plädiere für eine neue Kraftanstrengung durch das
Vorziehen öffentlicher Investitionen. Der Solidarpakt II und
der beschlossene Länderfinanzausgleich sind stabile und vor
allem seriöse Fundamente. Wichtig ist, dass der
größere Teil der Summe schon in den ersten Jahren zur
Verfügung gestellt wird. Die Konzepte dazu müssen jetzt
entwickelt werden, und zwar an Ort und Stelle, in den Gemeinden und
Ländern Ostdeutschlands. Priorität haben Investitionen in
die Infrastruktur und in den regionalen Ausbau von Forschung und
Entwicklung.
Der Rückstand in Wissenschaft und Forschung ist langfristig
gesehen der wichtigste Wettbewerbsnachteil. Wenn dieser
Rückstand aufgeholt werden soll, braucht Ostdeutschland eine
voll ausgebildete, leistungsfähige Hochschul- und
Forschungslandschaft. Forschung ist eine Schlüsselkategorie
beim Aufbau Ost und muss auch als solche anerkannt werden.
Erforderlich ist, die Benachteiligung der ostdeutschen
Wissenschaftszentren bei der Ausstattung mit
Forschungskapazitäten abzubauen. Wir brauchen eine
Wissenschaftspolitik, die die Abwanderung von qualifizierten und
motivierten Fachleuten verhindert und die Zuwanderung von
Spezialisten fördert. Der Osten verarmt wissenschaftlich, wenn
die hier tätigen hochqualifizierten Fachkräfte nicht
genauso gut bezahlt werden wie ihre Kollegen im Westen. Dabei
müssen wir uns von der Vision einer gleichmäßigen
Entwicklung aller Teilregionen lösen. Stattdessen sollten wir
an Vorhandenem anknüpfen: an den Wachstumspolen in
Berlin/Potsdam, Halle/Leipzig, Erfurt/Jena, Dresden/Chemnitz und an
den Vorteilen ostdeutscher Hochschulen, die noch keine
abschreckenden Massenuniversitäten sind. Im Gegenteil
verfügen sie über günstige
Betreuungsverhältnisse der Studenten, weisen kürzere
Studienzeiten und niedrigere Abbruchquoten auf.
Die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit Ostdeutschlands ist eng
mit der dritten Herausforderung, den Chancen der EU-
Osterweiterung, verknüpft.
Die Osterweiterung wird Kulturräume wieder einander näher
bringen, die jahrzehntelang voneinander abgeschottet waren. Der
Osten Deutschlands rückt vom Rand der "alten" EU in das
geografische Zentrum der erweiterten EU. Die wirklichen Chancen
liegen darin, dass diese Lage als Verbindungsregion genutzt wird.
Daraufhin müssen wir die Infrastruktur, die Investitionen, den
Ausbau von Forschungs- und Entwicklungskapazitäten, die
Nutzung kulturellen Kapitals ausrichten. Denn sonst werden wir eine
bloße Transitregion, in der Produkte und Güter aus dem
Westen nach dem Osten oder aus dem Osten nach dem Westen
transferiert werden. Die Chance, EU-Verbindungsregion zu werden,
verspricht keine schnellen Erfolge. Aber die Potenziale müssen
jetzt und nicht erst weit nach der Erweiterung angelegt werden. Das
heißt z.B. spezifisches Osteuropa-Know-How in den neuen
Bundesländern zu reaktivieren, Fachkräfte gezielt
für diese Kooperation auszubilden, Infrastruktur auszubauen,
Forschung und Marketing ganz gezielt auf die osteuropäischen
Märkte auszurichten. Wenn wir dies rechtzeitig, also heute und
nicht erst übermorgen, tun, dann wahren wir unsere guten
Chancen.
Mit diesem Preis werden Journalisten prämiert, die sowohl der
kritischen Berichterstattung, als auch einem gewissenhaften Umgang
mit ihrem Thema gerecht werden. Sie alle zeichnen ein authentisches
Bild der Situation Ostdeutschlands, zum Teil nüchtern
bilanzierend, zum Teil schmerzvoll und deprimierend, weil hinter
den Zahlen unzählige persönliche Schicksale stehen.
Es kommt nicht jeden Tag vor, dass Politiker die journalistische
Zunft loben. Heute tue ich es gerne, weil sie mitgeholfen haben,
zum Nachdenken anzuregen und Diskussionen in Gang zu bringen, die
für die Zukunft Ostdeutschlands wichtig sind.
Den Veranstaltern, dem Märkischen Presse- und Wirtschaftsclub
und dem Gesamtverband deutscher Wohnungsunternehmen danke ich
für die Auslobung dieses Preises und der Jury gilt
natürlich auch mein Dank für das mühevolle
Kopfzerbrechen."
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