Bundestagspräsident Thierse wirbt in Zagreb für "Charta der Pflichten der Staaten"
Es gilt das gesprochene Wort
Auf der Konferenz der Präsidenten der Parlamente der
Mitgliedstaaten des Europarats und des Europäischen Parlaments
in Zagreb wirbt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse für
eine "Charta der Pflichten der Staa-ten. In einer Rede am Samstag,
11. Mai, fordert Thierse die Achtung universeller Pflichten aller
Staaten der Welt gegenüber ihren Bürgern und der
internationalen Gemein-schaft. Auf der Basis der allgemeinen
Menschenrechte formuliert die Charta - eine Initiative der
Parlamentspräsidenten Frankreichs, Italiens und Deutschlands -
zehn Prinzipien, deren Einhaltung auch einen Beitrag im Kampf gegen
den Ter-rorismus leisten könne, so Thierse.
Verstöße gegen die Menschenrechte seien nicht selten
Nährboden für Fanatismus und Extremismus. Auch bei der
Be-kämpfung von Terrorismus dürften die Staaten ihre
Pflichten nicht aus den Augen verlieren. In seiner Rede führt
Bundestagspräsident Thierse aus:
"Dass wir hier in Kroatien über die Charta der Pflichten der
Staaten diskutieren, ist ein hoffnungsvolles Zeichen für das
Land, die Region, für ganz Europa. Nach dem Ende des
Ost-West-Konfliktes erwarteten wir das Goldene Zeitalter des
Friedens. Die vier Kriege auf dem Balkan belehrten uns - auf
grausame Weise - eines Besseren. Mitten in Europa wurden
Menschenrechte mit Füßen getreten. Vermeintlich
Selbstverständliches war nicht mehr selbstverständlich.
Wir sind heute froh und dankbar, dass nach Jahren der Gewalt,
Vertreibung und Zerstörung nun endlich Frieden in die Region
eingekehrt ist und demokratische Strukturen aufgebaut worden sind.
Politische Lösungen haben - zum Glück - wieder Vorrang.
Dennoch lehren uns diese und andere Erfahrungen in Europa und in
der Welt, wachsam zu bleiben.
Zwar wurde vor mehr als 50 Jahren die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen
angenommen, und vor immerhin 35 Jahren die beiden internationalen
Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie
über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dennoch
zeigen Berichte der Vereinten Nationen: Auch heute ist es leider
nicht die Ausnahme, wenn Staaten grundlegende und international
anerkannte Menschenrechte ihrer eigenen Bürger verletzen. Bei
der Milleniumskonferenz der Parlamentspräsidenten der
Interparlamentarischen Union im Sommer 2000 erklärte unser
ehemaliger Kollege Luciano Violante aus Italien deshalb, die Zeit
sei reif für eine Charta der Pflichten der Staaten. Ich habe
die Anregung zur Ausarbeitung einer solchen Charta, die moralisch,
aber nicht rechtlich bindend wäre, gern aufgegriffen und
weitergeführt. Denn hier sind zwei Kernaufgaben eines jeden
echten Parlaments berührt: Wir sind diejenigen, die das
Handeln der eigenen Regierung zu kontrollieren haben. Und wir haben
nicht nur für die Achtung, sondern auch für die Umsetzung
der von unseren Regierungen ausgehandelten Konventionen in
nationales Recht Sorge zu tragen. Gemeinsam mit Luciano Violante
und unserem französischen Kollegen Raymond Forni, der derzeit
in Frankreich in den Wahlkampf eingespannt ist, habe ich deshalb
den vorliegenden Text vorbereitet, über den wir heute zum
ersten Mal in einem größeren Kreis gemeinsam
beraten.
Mir scheint gerade das, was wir seit dem 11. September 2001
diskutieren, die Frage staatlicher Pflichten besonders dringlich
auf die Tagesordnung zu setzen. Zum einen sind Verstöße
der Staatsgewalt gegen die Menschenrechte nicht selten
Nährboden für Fanatismus und Extremismus. Wenn wir also
über Ursachenbekämpfung sprechen, dann gehört dazu,
dass die Staaten auf unbedingte Erfüllung ihrer Pflichten
gegenüber den der staatlichen Gewalt Unterworfenen achten. Zum
anderen dürfen wir auch bei der weltweiten Bekämpfung des
Terrorismus, und sei er noch so abscheulich, unsere eigenen
Pflichten nicht einen Moment aus den Augen verlieren. Wir sind beim
Entwurf der Charta von der Voraussetzung ausgegangen, dass das
Fundament der Menschenrechte gemeinsamer Bestand aller
Zivilisationen und Kulturen der Welt ist. Es ist ihr universeller
Charakter, der die allgemeine Anerkennung gleicher und
unveräußerlicher Rechte für jeden Menschen
gleichermaßen gewährleisten sollte. Die Achtung der
Menschenrechte, damit auch die gewissenhafte Erfüllung von
Pflichten, wie wir sie formuliert haben, sind gleichzeitig
Voraussetzung für die Legitimierung der Staatsgewalt
gegenüber den eigenen Bürgern einerseits und der
internationalen Gemeinschaft andererseits.
Wir rufen deshalb alle Staaten dazu auf, ungeachtet ihrer
unterschiedlichen kulturellen und rechtlichen Traditionen jene zehn
"Pflichten" zu akzeptieren, ohne deren Erfüllung wir uns
legitimes staatliches Handeln nicht vorstellen können.
Worum geht es bei diesen Pflichten? Eigentlich um einen
Grundbestand an scheinbaren Selbstverständlichkeiten - aber
leider sind sie nicht überall selbstverständlich. Mit der
Charta verpflichten sich die Regierenden, niemanden zu foltern oder
grausam, unmenschlich oder auf andere die Menschenwürde
verletzende Art zu behandeln. Staatliche Gewalt darf nur gerecht
und angemessen angewendet werden. Versklavung, Menschenhandel und
jede Art von Diskriminierung müssen bekämpft werden. Auch
Forderungen nach einer unabhängigen Justiz, fairen Verfahren,
Berufungs- und Verteidigungsmöglichkeiten sowie dem Schutz von
Minderheiten sind für uns als Mitglieder des Europarates nicht
neu. Schließlich sind diese Prinzipien bereits in
verschiedenen Europäischen Übereinkommen enthalten - vor
allem in der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihren
Zusatzprotokollen sowie im Rahmenabkommen zum Schutz nationaler
Minderheiten. Die Zeichnung und schnelle Ratifizierung dieser
Dokumente sind heute glücklicherweise ebenso Voraussetzung
für die Aufnahme eines Landes in den Europarat wie die
Durchführung freier und geheimer Wahlen. Natürlich
müssen auch wir uns in der täglichen Staatspraxis daran
messen lassen, ob wir unseren eigenen Anforderungen in allen
Punkten immer in vollem Umfang gerecht werden.
Das grundlegende Menschenrecht ist das Recht auf Leben. Somit muss
es auch die erste Pflicht eines jeden demokratischen Staates sein,
dieses Recht auf Leben gesetzlich zu schützen. Als
grundsätzlichstes aller Rechte, das Voraussetzung für die
Inanspruchnahme aller anderen Rechte ist, kann es nicht verwirkt
werden. Keine Rechtsordnung darf die Todesstrafe deshalb mehr
vorsehen, und bereits Verurteilte dürfen nicht hingerichtet
werden. Es ist das große Verdienst des Europarates, dass
heute 800 Millionen Europäer in einer "todesstrafenfreien"
Zone leben. Im Jahr 2000 war Europa zum ersten Mal ein Kontinent
ohne Todesstrafe. In inzwischen 39 Mitgliedsländern des
Europarates gilt das Protokoll Nr. 6 zur Abschaffung der
Todesstrafe in Friedenszeiten, das auf eine Initiative der
Abgeordneten unserer nationalen Parlamente in der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates zurückgeht. Die übrigen vier
Mitgliedsländer, von denen drei das Protokoll bereits
gezeichnet haben, respektieren immerhin ein Moratorium. Ausgehend
davon haben die meisten von uns im vergangenen Jahr auch den
Straßburger Aufruf zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe
unterzeichnet, der noch immer sehr aktuell ist.
Neu ist der Entwurf eines 13. Zusatzprotokolls zur
Europäischen Menschenrechtskonvention, das auf die wirklich
ausnahmslose Abschaffung der Todesstrafe in den
Mitgliedsländern des Europarates abzielt. Auch dieses
Protokoll geht auf eine Forderung von Parlamentariern in der
Europaratsversammlung zurück. Es erkennt das Recht auf Leben
als so grundlegend an, dass selbst in Kriegszeiten und sonstigen
Ausnahmezuständen der Staat nicht mehr darüber
verfügen darf. Im Januar haben Sie, Herr Kollege Schieder, in
Straßburg über den Entwurf beraten und eine
Stellungnahme verabschiedet. Ich freue mich sehr, dass das
Protokoll Nr. 13 bereits anlässlich des Treffens unserer
Außenminister in der vergangenen Woche in Wilna zur Zeichnung
aufgelegt werden konnte und mein Land zu den ersten Unterzeichnern
gehört.
Ich finde es übrigens bemerkenswert, dass die
Regierungsvertreter im Europarat den Entwurf des Zusatzprotokolls
genau drei Monate nach den Ereignissen vom 11. September zur
Stellungnahme an unsere Kollegen übersandt haben. Seit den
feigen Terrorangriffen ist die Todesstrafe im Zusammenhang mit der
Verfolgung und Verhaftung von internationalen Terroristen von
manchen Leuten wieder verstärkt gefordert worden. Das im
Zusatzprotokoll eindeutig geregelte, ausnahmslose "Nein" zur
Todesstrafe ist deshalb ein wichtiges Signal an die
Weltöffentlichkeit.
Die Verfolgung terroristischer Verbrecher rechtfertigt keinesfalls
Kompromisse bei menschenrechtlichen Standards. Das Verhältnis
zwischen rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Normen
einerseits und Maßnahmen zur inneren und äußeren
Sicherheit andererseits ist immer spannungsreich, mitunter
spannungsgeladen. Als Gesetzgeber tragen wir jedoch eine besondere
Verantwortung gegenüber den Bürgern, die wir vertreten.
Zu dieser Verantwortung gehört auch, bei aller Entschiedenheit
in der Verbrechensbekämpfung, Besonnenheit und Augenmaß
nicht blinden Rachegedanken zu opfern, und diese Haltung auch den
Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln. In meinem Land hat
das Parlament diesen Leitgedanken der Regierung für die 58.
Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen mit auf
den Weg gegeben.
Wir dürfen uns aber nicht mit Beteuerungen und
Erklärungen auf dem Papier begnügen. Wir müssen auch
eine aktive Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren
suchen, mit Nichtregierungsorganisationen, auch wenn sie manchmal
unbequeme Kritiker des Regierungshandelns sind. Sicher fehlt ihnen
unsere durch Wahlen vermittelte Legitimation und damit unser Grad
der Verantwortlichkeit. Selbstverständlich sind sie oft
einseitig in ihren Darstellungen. Aber gerade solche unbequemen
Mahner bewirken, dass wir unser Handeln immer wieder
überprüfen. Deshalb sind das Recht auf Freiheit der
Meinung und der Meinungsäußerung, das Recht auf
Gedanken- und Gewissensfreiheit sowie das Recht auf Versammlungs-
und Vereinigungsfreiheit zu friedlichen Zwecken unabdingbar. Sonst
kann keine engagierte Zivilgesellschaft mit lebendigen Strukturen
entstehen.
Eine untadelige und eindeutige Haltung der Regierung zu solchen
Fragen trägt gleichzeitig auch dazu bei, dass Extremisten
weniger Unterstützung erfahren. Wenn ein Staat darüber
hinaus einen angemessen Anteil der eigenen Ressourcen zur
Armutsbekämpfung und für die Gesundheit und Ausbildung
der Menschen investiert, verbessert dies nicht nur die allgemeine
Lebenssituation der Menschen. Dies sowie Achtung und Schutz der
bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechte sind die beste Krisenprävention.
Deshalb ist es im ureigenen Interesse aller Staaten, wenn sie sich
gegenüber ihren Bürgern verpflichtet fühlen und
ihren Pflichten auch in vollem Umfang nachkommen.
Parallel zum nationalen Recht müssen wir auch die Durchsetzung
des internationalen Rechts verbessern. Darauf zielt unser letzter
Punkt, in dem wir - insbesondere mit Blick auf das humanitäre
Völkerrecht - an alle Staaten appellieren, die internationalen
Übereinkommen zum Schutze der Menschenrechte möglichst
ohne Vorbehalte zu ratifizieren und dem Statut des Internationalen
Strafgerichtshofs beizutreten.
Der Text der Charta ist durchaus entwicklungsfähig. Es
wäre schön, wenn unser Entwurf bei einer der
nächsten IPU-Konferenzen im September in Genf oder Anfang
nächsten Jahres in Santiago de Chile erörtert werden
könnte und wir dort alle gemeinsam positiv auf diejenigen
Parlamente einwirken könnten, deren Staaten ihre Pflichten
bislang nur unzureichend erfüllen. Die Charta eröffnet
uns die Chance, weltweit darüber zu diskutieren und zu
überzeugen, was staatliches Handeln als Grundpflichten
beachten muss.
Nutzen wir diese Chance!"
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