Begrüßungsansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse anlässlich der Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, George W. Bush, am 23. Mai 2002 im Deutschen Bundestag
Sperrfrist: 23. Mai 2002, 14 Uhr
Es gilt das gesprochene Wort
Herr Bundespräsident,
Herr Bundeskanzler,
Herr Bundesratspräsident,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und dem
Bundesrat,
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
in Ihrer aller Namen begrüße ich Sie, den
Präsidenten der Vereinigten Staaten, George W. Bush, Ihre
Ehefrau Laura und die amerikanische Delegation sehr herzlich im
Deutschen Bundestag. Ihr Besuch findet an einem besonderen Datum
statt. Heute vor 53 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland in Kraft. Unsere Verfassung war die Antwort der
Demokraten auf die menschenverachtende Diktatur des
Nationalsozialismus. Aber diese Rückkehr zur Demokratie kam
nicht von selbst zustande. Es waren in entscheidendem Maße
die Vereinigten Staaten von Amerika, die unser Land vom
Nationalsozialismus befreit und auf dem Weg zur Demokratie
begleitet haben. In ganz Deutschland und besonders hier in Berlin
haben die Menschen nicht vergessen: Amerika stand an der Seite der
Deutschen in den schweren Nachkriegsjahren und in den Jahrzehnten
des Kalten Krieges, den wir im geteilten Land auf unterschiedlichen
Seiten erlebten – erleben mussten. Nach dem Erfolg der
friedlichen Revolution in Ostdeutschland war einer der
entschiedensten Befürworter der Einheit Deutschlands der
Präsident der Vereinigten Staaten, George Bush – Ihr
Vater, verehrter Herr Präsident.
Dies alles hat tiefe und bleibende Bindungen zwischen unseren
Völkern entstehen lassen. Ihr Besuch ist ein weiterer Ausdruck
dieser Verbundenheit. Sie wurde uns Deutschen noch einmal besonders
bewusst am 11. September 2001. Die terroristischen
Massenmordattentate von New York und Washington haben auch uns
zutiefst getroffen und bewegt – weil sie unseren
Verbündeten galten und weil wir zugleich spürten: Diese
feige Attacke ist ein Angriff auf unsere gemeinsamen
Grundwerte.
Aber wir können diesem Datum eine andere Bedeutung geben, als
es sich die hasserfüllten Terroristen erhofft haben. Denn
dieser Tag steht am Beginn einer zuvor utopisch erscheinenden
internationalen Zusammenarbeit. Ihnen, Herr Präsident, ist es
gelungen, in kürzester Zeit eine weltumspannende
„Koalition gegen den Terror“ zusammenzuführen.
Dabei sind wir uns einig, dass der Einsatz von Gewalt immer das
letzte Mittel der Politik bleiben muss. Aber das vereinte Handeln
der Staatengemeinschaft ist die eindeutige Botschaft der
Zivilisationen an den internationalen Terrorismus, dass wir mit
Entschlossenheit für Frieden und Freiheit einstehen.
Wir sind deshalb besonders froh, Herr Präsident, dass Sie in
Ihrer Reaktion auf den 11. September alle die Auguren Lügen
gestraft haben, die einen neuen amerikanischen Unilateralismus
aufziehen sahen. So geduldig wie entschlossen haben Sie am
Zustandekommen der weltweiten „Koalition gegen den
Terror“ gearbeitet und die erforderlichen Beschlüsse der
Gremien der Vereinten Nationen herbeigeführt. Deutsche wie
Europäer setzen darauf, dass dies auch zukünftig die
Maßstäbe Ihrer Politik bei der internationalen
Bekämpfung des Terrorismus bleiben!
Sie, Herr Präsident, haben stets betont, dass aus dem Horror
des 11. September die Chance zum gemeinsamen Handeln der
Völkergemeinschaft erwachsen kann. In Ihrer Rede vor dem
„Virginia Military Institute“ erinnerten Sie an das
Lebenswerk von George C. Marshall – einen Mann, dem gerade
wir Deutschen viel zu verdanken haben. Er hat die NS-Diktatur mit
aller Entschiedenheit bekämpft, um sich dann ebenso konsequent
für den Frieden, für den Wiederaufbau der Demokratie,
für gesicherte Lebensverhältnisse einzusetzen. Vor
ähnlichen Herausforderungen stehen wir auch heute.
In der globalisierten Welt betreffen immer weniger Probleme nur
einzelne Staaten, noch weniger können sie von ihnen allein
gelöst werden. Die Folgen weltweiter wirtschaftlicher
Verflechtungen, die Auswirkungen sozialer Not in den armen
Ländern der Welt, die Folgen verantwortungslosen Umgangs mit
den natürlichen Lebensgrundlagen erfahren wir früher oder
später alle. Die Verfolgung einseitiger Interessen erweist
sich immer mehr als kurzsichtig. Immer stärker ist
gemeinschaftliches Denken und Handeln gefordert. Wir wollen
niemandem unsere Überzeugungen aufzwingen, aber wir
können mit friedenssichernden Maßnahmen Hilfe zur
Selbsthilfe leisten. Wir brauchen Koalitionen gegen die Armut auf
unserem Globus. Wir brauchen koordiniertes Handeln gegen die
fortschreitende Gefährdung unserer Biosphäre. Wir
wünschen uns sehr, Herr Präsident, dass wir gemeinsam den
durch das Kyoto-Protokoll gewiesenen Weg weitergehen können!
Wir benötigen dringend gemeinsame Maßnahmen gegen eine
entfesselte Ökonomie, die sich der Globalisierung zur
Vermeidung ihrer sozialen Verpflichtungen bedient. Und keine
Koalition ist dringlicher als die für den Frieden in der Welt.
Ich werte es als ausgesprochen hoffnungsfrohes Zeichen, dass Sie
jüngst angekündigt haben, gemeinsam mit Russland in den
kommenden zehn Jahren zwei Drittel der Atomsprengköpfe
abzurüsten.
Gerade im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern kann
nur gemeinsames internationales Handeln neue Wege zum Ende von
Gewalt und Gegengewalt, zu Sicherheit und Frieden eröffnen.
Die für den Sommer angekündigte Nahost-Konferenz, die auf
einer gemeinsamen Initiative der Vereinten Nationen, der USA und
Russland sowie der Europäischen Union beruht, ist ein gutes
und hoffnungsvolles Signal. Wir Deutschen werden diese
Friedensinitiative nachdrücklich unterstützen, weil wir
vor dem Hintergrund unserer Geschichte eine besondere, eine
doppelte Verantwortung tragen: für Israel und für die
Palästinenser.
Verehrter Herr Präsident, Sie haben immer wieder betont, dass
Amerikas Ziele über die Bekämpfung des Terrors
hinausgehen. Ihr Ziel ist ebenso eine bessere Welt, in der die
unveräußerlichen Menschenrechte für alle Menschen
in allen Kulturen durchgesetzt werden sollen. Das ist ein hohes,
jedoch kein unerreichbares Ziel. Zugleich ist es eine
Herausforderung, die wir nur in enger Zusammenarbeit, durch den
Ausbau und die Stärkung internationaler Organisationen
bestehen können.
Herr Präsident, vor gut einer Woche ist die Konferenz der
Parlamentspräsidenten der Staaten des Europarates zu Ende
gegangen. Die dort versammelten Sprecher der Parlamente aus
über 40 Staaten haben auf meinen Vorschlag hin einmütig
den Prinzipien einer „Charta der Pflichten der Staaten“
zugestimmt. Sie enthält auch den Appell, „die
Internationalen Übereinkommen zum Schutze der Menschenrechte
möglichst ohne Vorbehalt zu ratifizieren und dem Statut des
Internationalen Strafgerichtshofs beizutreten“. Wir
Europäer würden es sehr begrüßen, wenn wir
auch bei der Weiterentwicklung der Institutionen des
internationalen Rechts künftig mit unseren amerikanischen
Freunden an einem Strang ziehen könnten!
Herr Präsident Bush, ich darf Sie bitten, das Wort zu
ergreifen.
7.083 Zeichen