"Für eine starke Bürgergesellschaft"
Der Vorsitzende der Enquete-Kommission "Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements" des Deutschen Bundestages, Dr.
Michael Bürsch, MdB, erklärt anlässlich der
Übergabe des Kommissionsberichts an den
Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse am Montag, 3. Juni 2002
(Fototermin: 14.00 Uhr, Raum 2 N 037, Reichstagsgebäude,
anschließend Pressekonferenz: Raum 2 S 023,
Reichstagsgebäude):
"Bürgerschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare
Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft" - mit dieser
Grundüberzeugung hat der Deutsche Bundestag im Dezember 1999
die Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen
Engagements" eingesetzt und ihr den Auftrag erteilt, konkrete
politische Strategien und Maßnahmen zur Förderung des
freiwilligen, gemeinwohlorientierten, nicht auf materiellen Gewinn
ausgerichteten bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland
zu erarbeiten.
Diesen Auftrag hat die Enquete-Kommission nunmehr erfüllt und
legt nach gut zweijähriger Arbeit eine systematische
Bestandsaufnahme der Wirklichkeit bürgerschaftlichen
Engagements und politische Handlungsempfehlungen zur Verbesserung
der Rahmenbedingungen vor.
Vielfalt bürgerschaftlichen Engagements
Leitend für die Arbeit der Enquete-Kommission war
zunächst und vor allem die Vielfalt bürgerschaftlichen
Engagements. Neben der Tätigkeit in Vereinen und
Verbänden, Kirchen, karitativen und anderen
gemeinnützigen Organisationen, in Freiwilligenagenturen,
Hospizbewegung oder Tafeln umfasst es - um nur einige Beispiele zu
geben - die Mitarbeit in Selbsthilfegruppen,
Nachbarschaftsinitiativen und Tauschringen, ferner politisches
Engagement in Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen
(NGOs), Volksbegehren oder anderen Formen von direktdemokratischer
Bürgerbeteiligung, auch die Arbeit in Parteien und
Gewerkschaften oder den Einsatz in Freiwilligendiensten. Nicht
zuletzt zählen dazu gemeinwohlorientierte Aktivitäten von
Unternehmen und Stiftungen mit gemeinnütziger
Zielsetzung.
Fazit: Bürgerschaftliches Engagement bedeutet Vielfalt, und
erst in diesem weiten Verständnis, das all diese
vielfältigen Tätigkeiten einbezieht, erschließt
sich ihre Bedeutung für unser Gemeinwesen. Die
Bürgerinnen und Bürger erneuern mit ihrem freiwilligen
Engagement in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Tag
für Tag die Bindekräfte unserer Gesellschaft. Sie
schaffen eine Atmosphäre der Solidarität, der
Zugehörigkeit und des gegenseitigen Vertrauens. Kurz, sie
erhalten und mehren, was wir heute "soziales Kapital" nennen: die
Verbundenheit und das Verständnis zwischen den Mitgliedern
einer Gesellschaft, die Verlässlichkeit gemeinsam geteilter
Regeln, Normen und Werte und nicht zuletzt das Vertrauen in die
Institutionen des Staates.
Motivwandel
Maßgeblich für die Arbeit der Enquete-Kommission war
eine weitere Leitlinie: Die Förderung bezieht sich nicht nur
auf die aktiven Bürgerinnen und Bürger und deren je
individuelles Engagement, sondern hat auch und vor allem eine
gesellschaftspolitische Dimension.
Die Debatte war lange Zeit bestimmt von jener Perspektive, die die
engagierten Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt
rückt und bürgerschaftliches Engagement als einen bunten
Markt der Möglichkeiten erscheinen lässt. Auch das
Interesse der Enquete-Kommission galt Fragen nach der individuellen
Motivation der Engagierten und nach der Gestaltung von
Rahmenbedingungen, die geeignet sind, die persönliche
Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement zu
erhöhen. Dabei kann man einen Strukturwandel in den Motiven
der engagierten Bürgerinnen und Bürger feststellen:
Während Menschen sich früher typischerweise langfristig
einer bestimmten Organisation verpflichteten und "ihrem" Verein ein
Leben lang verbunden blieben, engagieren sich heute immer mehr
Menschen eher spontan und projektförmig. Engagement muss zur
jeweiligen Lebenssituation passen. Noch bedeutsamer aber ist die
Beobachtung, dass bürgerschaftlich Engagierte mit ihren
Aktivitäten heute in stärkerem Maße
Bedürfnisse nach Eigenverantwortung und Selbstbestimmung
verbinden als früher; daraus resultieren neuartige
Anforderungen an Mitbestimmungs- und
Gestaltungsmöglichkeiten.
Leitbild Bürgergesellschaft
An den veränderten Motiven werden sich auch zukünftige
Strategien und Maßnahmen zur Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements orientieren müssen.
Darüber hinaus aber steht die Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements im Kontext eines der
wichtigsten gesellschaftspolitischen Reformprojekte unserer Zeit:
der Stärkung der Bürgergesellschaft.
Die Bürgergesellschaft, jenes Netzwerk von
selbstorganisierten, freiwilligen Assoziationen - Vereine und
Verbände, NGOs, Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen,
Stiftungen und Freiwilligendienste, aber auch politische Parteien
und Gewerkschaften usw. - bildet ein Tätigkeitsfeld eigener
Art zwischen Staat, Wirtschaft und Familie. Bürgergesellschaft
als Reformperspektive erfordert von seiten der Wirtschaft
Unternehmen, die sich dem Gemeinwesen gegenüber verantwortlich
verhalten und in diesem Sinne als "Corporate Citizens" selbst Teil
der Bürgergesellschaft sind. Unternehmerisches
bürgerschaftliches Engagement war - gerade in seinen neuen
Formen längerfristiger Partnerschaften zwischen Unternehmen
und gemeinnützigen Organisationen - ein Arbeitsschwerpunkt der
Enquete-Kommission. Vor allem aber bedarf die
Bürgergesellschaft eines unterstützenden Staates, der
bürgerschaftliches Engagement nicht durch unnötige
bürokratische Auflagen reglementiert und hemmt, sondern
schützt und ermöglicht.
Kurz: Es geht um ein neues Verhältnis zwischen Staat,
Wirtschaft und Gesellschaft, in dem bürgerschaftliches
Engagement eine zentrale Rolle spielt.
Besondere Bedeutung kommt dabei jenen Organisationen, Institutionen
und Initiativen zu, die gewissermaßen das
Verbindungsstück zwischen den engagierten Bürgern und
Bürgerinnen auf der einen Seite, der Bürgergesellschaft
als Ganzer auf der anderen Seite bilden. Besteht doch die
Bürgergesellschaft nicht nur aus Individuen, sondern auch aus
einer Vielzahl verschiedenartiger Organisationen. Sie bilden die
institutionelle Grundstruktur der Bürgergesellschaft, die
zugleich die Rahmenbedingungen für das bürgerschaftliche
Engagement der Bürgerinnen und Bürger darstellt.
Bürgergesellschaft bedeutet auch, dass wir die Bereitschaft zu
bürgerschaftlichem Engagement nicht als
selbstverständlich gegeben annehmen können.
Bürgerschaftliches Engagement muss gelernt werden - in der
Familie, im Freundeskreis, in der Schule. Die Öffnung der
Schule zur Bürgergesellschaft und "civic education", das
Lernen von Gemeinschaftsfähigkeit und sozialer Kompetenz,
gehören zum Fundament der Förderung
bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland.
Handlungsempfehlungen und Entwicklungsperspektiven
Mit ihrem Bericht wendet sich die Enquete-Kommission nicht nur an
Bundesregierung und Gesetzgeber, sondern an eine Vielzahl von
Akteuren: die Bürgerinnen und Bürger, die
zivilgesellschaftlichen Organisationen, aber auch die staatlichen
Institutionen und nicht zuletzt die Unternehmen und die
Gewerkschaften - sie alle sollen ermutigt werden, sich stärker
als bisher für bürgerschaftliches Engagement zu
öffnen. Denn die Bereitschaft der Bürgerinnen und
Bürger, sich zu engagieren, steht in direkter Wechselwirkung
mit den Möglichkeiten zu bürgerschaftlichem Engagement,
die von den Organisationen geboten werden. Demokratische,
beteiligungsfreundliche Strukturen staatlicher Institutionen und
die glaubwürdige Gemeinwohlorientierung von Unternehmen haben
direkten Einfluss auf die Bereitschaft der Bürgerinnen und
Bürger, Verantwortung für das Gemeinwesen zu
übernehmen.
Noch ein Wort zur Enquete-Kommission als einem Instrument der
Politikberatung, das in mehrerlei Hinsicht Maßstäbe
setzt: Ihre Zusammensetzung aus Politikern und Wissenschaftlern und
die längerfristige Kontinuität des Diskussions- und
Arbeitszusammenhangs leistet einen Brückenschlag zwischen den
Denk- und Praxiswelten der Politik auf der einen, der Wissenschaft
auf der anderen Seite. Eine Besonderheit unserer Kommission lag
zudem darin, dass drei Sachverständige aus dem
bürgerschaftlichen Erfahrungsbereich von Sport, Kultur und
Sozialem stammen und so für einen weiteren Brückenschlag
sorgen konnten - in die Praxis des bürgerschaftlichen
Engagements.
Engagierte Begleitung der Kommissionsarbeit
Einblicke in die Wirklichkeit bürgerschaftlichen Engagements
verdankt die Kommission jedoch nicht nur den eigenen Mitgliedern.
Ebenso wichtig waren die Beiträge der Praktiker des
bürgerschaftlichen Engagements, die die Arbeit der
Enquete-Kommission von Anfang an aufmerksam beobachtet und
begleitet haben. In Anhörungen und Tagungen hat die
Enquete-Kommission einen intensiven Dialog mit
bürgerschaftlich Engagierten und bürgergesellschaftlichen
Organisationen geführt, um die Erfahrungen und Anliegen der
Praxis aufzugreifen. Nicht jede Anregung konnte
Berücksichtigung finden, aber die engagierten Beiträge
und Debatten mit den Betroffenen haben den Bericht der Kommission
entscheidend mitgeprägt.
"Die Arbeit der Enquete-Kommission ist beendet, aber die Arbeit an
der Zukunft bürgerschaftlichen Engagements hat gerade erst
angefangen", so der Vorsitzende der Enquete-Kommission, Dr. Michael
Bürsch, MdB, bei der Übergabe des Berichts an den
Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse. "Nun ist es Aufgabe
des Deutschen Bundestags und der ganzen Bürgergesellschaft,
die nachhaltige Förderung bürgerschaftlichen Engagements
entschieden in Angriff zu nehmen."
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