Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse auf dem Berliner Forum der Bertelsmann-Stiftung zum Thema „Bürgergesellschaft. Gemeinsame Herausforderungen gemeinsam lösen“ am 24. Juni 2002
Es gilt das gesprochene Wort
Die Bertelsmann-Stiftung beschäftigt sich nicht erst
neuerdings mit dem Thema Bürgergesellschaft oder
Zivilgesellschaft. Auf die von dieser Stiftung finanzierte Studie
Robert Putnams komme ich beispielsweise noch zu sprechen.
Es ist ein sperriges Thema, es handelt auf den ersten Blick von
Selbstverständlichkeiten, es wird aber teilweise auf einem
sehr abstrakten, sehr theoretischen Niveau erörtert. Offenbar
geht es doch um mehr als Bewahrung und die Förderung des
„Ehrenamtes“, um mehr als die Rettung des weitgehend
kostenlos tätigen Kinder- und Jugendtrainers im Sportverein.
Auch der alte – und durchaus bewährte – Begriff
der Subsidiarität aus der katholischen Soziallehre wird als
nicht mehr ausreichend empfunden. Es muss also etwas im Argen
liegen, das Verhältnis zwischen dem Individuum, dem Staat, der
Gesellschaft scheint unklar geworden, ist revisionsbedürftig.
Andernfalls wäre diese Debatte gar nicht nötig. Nehmen
wir sie also zunächst als ermutigendes Zeichen dafür,
dass ein Mangel erkannt, an seiner Behebung gearbeitet wird.
Der Deutsche Bundestag hat sich sehr intensiv mit der
„Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“
auseinandergesetzt. Michael Bürsch, der Vorsitzende der
Enquete-Kommission, die einen 400-seitigen Abschlussbericht
vorgelegt hat, der vor einigen Tagen im Plenum diskutiert wurde,
hat Ihnen darüber berichtet.
Über die Frage, was eine Bürgergesellschaft eigentlich
ausmacht oder ausmachen sollte, gibt es in Deutschland die
unterschiedlichsten Ansichten. Obwohl der Begriff zum Inventar der
politischen Rhetorik zählt, ist er merkwürdig unscharf
geblieben: Mal reden wir von „Zivilgesellschaft“ (in
Anlehnung an das englische „civil society“), dann
wieder – in einer eher traditionellen Konnotation – von
„Bürgergesellschaft“. Und gelegentlich wagt jemand
eine Steigerung, dann macht die „zivile
Bürgergesellschaft“ die Runde.
Worum dreht sich die Debatte? Um einen Wertbegriff, eine
handlungsleitende Idee? Um einen Appell an das ehrenamtliche
Engagement? Um das Einwerben von Geldern für soziale und
kulturelle Zwecke? Oder geht es, etwas allgemeiner gesagt, um die
Funktionstüchtigkeit eines Netzwerks von selbstorganisierten,
freiwilligen Assoziationen (Vereine, Verbände, NGO’s,
Stiftungen, Selbsthilfegruppen, Parteien, Initiativen,
Gewerkschaften, Freiwilligendienste)? Was meint Zivilgesellschaft,
Bürgergesellschaft, freiwilliges Engagement? Welche Rolle
spielt hier eigentlich der Staat? Und weiter: Was meint
„Bürgergesellschaft“ in europäischer
Perspektive?
Ralf Dahrendorf nannte zwei Gefahren, die das „Fegefeuer der
Modernisierung“ heraufbeschwört: Die Gefahr der Anomie
und die Gefahr der Tyrannei.
Das sind keineswegs nur Gefahren fernab der westlichen
Zivilisation. Gewalt in Schulen oder auf den Straßen machen
regelmäßig Schlagzeilen. Das Wiederaufleben
rechtsradikaler Gewalt, die Renaissance ethnischer Konflikte
signalisieren diese Gefahren schon länger.
„No-Go-Areas“ – Gegenden, in denen die
persönliche Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden
kann, gibt es nicht nur in Amerika. Wenn fremdenfeindliche
Gewalttäter sogenannte “National befreite Zonen“
proklamierten, herrschte auch dort unmittelbar Angst bei allen, die
sich nicht zu diesen Tätern zählen lassen wollten.
Zeiten des Wandels sind immer auch Zeiten der Auflösung, des
Zerfalls von sozialen Bindungen und neuer sozialer Polarisierungen.
Diese machen auch vor den Mittelschichten nicht Halt, bei denen
sich Statusunsicherheit, Angst vor Statusverlust breit machen. Das
ist der Hintergrund für jenen merklichen politischen
Rechtsruck gerade in so wohlhabenden Ländern wie
Österreich oder Dänemark, Holland oder Norwegen.
Jugendkriminalität, Integrationsprobleme von Zuwanderern und
strukturell verfestigte Arbeitslosigkeit sind Zeichen der
Auflösung gesellschaftlichen Zusammenhalts und Vorboten der
Gefährdung jener Wertebasis, auf der eine funktionierende
Demokratie beruht.
Erlauben Sie mir aber, zunächst einen kleinen Rückblick:
Meine ersten persönlichen Erfahrungen mit der
„Zivilgesellschaft“ sind Erfahrungen „zivilen
Ungehorsams“. In der DDR, in Ungarn, in Polen zeigte sich
zivilgesellschaftliches Verhalten im Zusammenhalt vieler
Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Zumutungen der
Diktatur. Dieser Zusammenhalt wuchs nach und nach zu einer
Protestbewegung, die als „Bürgerbewegung“
schließlich Geschichte geschrieben hat.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Sieg der Demokratie in
Osteuropa zeigte sich, wie schwierig es ist, die Kraft und
Ausstrahlung der Bürgerbewegung in eine demokratisch verfasste
Bürgergesellschaft hinüber zu retten. Engagement,
Streitbarkeit, Widerborstigkeit, Zivilcourage – solche
Tugenden schienen sich im mühsamen demokratischen Alltag
schnell zu verzehren. Nicht lange nach der „ersehnten“
Wende hatte das Ansehen der Demokratie bereits spürbar Schaden
genommen. In einigen Ländern erstarkten die
postkommunistischen Kräfte, in Ostdeutschland bekam der
Rechtsextremismus ungeahnten Zulauf.
Für viele Menschen in den osteuropäischen Staaten verband
sich der Gewinn an politischer Freiheit mit dem Verlust sozialer
Sicherheit. Der tiefe, oft ungefederte Fall in Arbeitslosigkeit und
Armut hat es vielen schwer gemacht, sich mit der neuen, noch im
Aufbau befindlichen Staatsform zu identifizieren. Sicher: Die
Enttäuschungen fielen um so größer aus, je
überzogener die Erwartungen an Demokratie und Marktwirtschaft
waren. Doch auch in den „etablierten“
westeuropäischen Demokratien sind die Ansprüche der
Bürgerinnen und Bürger an den Staat immer weiter
gestiegen, während der Staat längst die Grenzen seiner
finanziellen Leistungsfähigkeit erreicht hat.
Mit seinem Buch „Bowling Alone“ wurde der
Sozialwissenschaftler Robert Putnam Mitte der neunziger Jahre einer
breiten Öffentlichkeit bekannt, als er die Kegel-Gewohnheiten
der Amerikaner zum Anlass nahm, gesellschaftlichen
Veränderungen nachzuspüren. Sein Befund - trotz
wachsender Zahl der Bowling-Spieler, nahm die Zahl der
Bowling-Vereine ab – war ein Indiz für den Wandel des
„Sozialkapitals“ in der amerikanischen Gesellschaft,
der auch uns erreicht: Sport und Körperkult sind populär,
aber nicht Sportvereine profitieren davon, sondern
„Fitness-„ und „Wellness“-Betriebe.
Robert Putnam hat im vergangenen Jahr eine bemerkenswerte, von der
Bertelsmann Stiftung finanzierte Analyse über den Wandel des
bürgerschaftlichen Engagements in acht entwickelten westlichen
Ländern vorgelegt. Sie ist unter dem Titel „Gemeinsinn
und Gesellschaft. Sozialkapital im internationalen Vergleich“
erschienen. Er wird selbst davon berichten.
Was war das Ergebnis der Untersuchung ?
1. Gemessen an den Indikatoren „Mitgliedschaft“,
„Engagement“ und „Vertrauen“ ist der
„Bestand“ an Sozialkapital in allen entwickelten
Ländern - trotz Wandels seit den siebziger Jahren - relativ
stabil.
2. Die „Verteilung“ des „Sozialkapitals“
hat sich allerdings merklich verändert. Das heißt:
- Parteien-, Kirchen- und Gewerkschaftszugehörigkeiten gehen
zurück, aber die Zahl der Vereine und Vereinsmitgliedschaften
wachsen.
- Politisches Engagement nimmt zu, aber das Vertrauen in politische
Institutionen sinkt in allen Ländern.
- Soziales Vertrauen nimmt ab, dafür wächst soziales
Engagement in neuen, zumeist klassen- oder geschlechtsspezifischen,
einkommens- und bildungsprivilegierten Vereinigungen.
Das Ergebnis ist eine Tendenz der „Privatisierung des
Sozialkapitals“, der Herausbildung „unziviler
Gemeinschaften“. Die stabile Bereitschaft zu sozialem wie
politischem Engagement führt also nicht automatisch zur
Erneuerung zivilgesellschaftlicher Institutionen, sondern zu
Milieuverfestigung. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wächst
folglich nicht zwangsläufig in dem Maße, wie etwa
Ehrenamtlichkeit zunimmt. Klar wird: Wer glaubt, die
„Zivilgesellschaft“ würde automatisch jene
Aufgaben erfüllen können, die bisher dem Sozialstaat und
seinen Integrationsinstrumenten zufielen, könnte böse
Überraschungen erleben.
Es wäre eine unerträgliche Ironie der Geschichte, wenn
ausgerechnet jetzt, vor der anstehenden EU-Osterweiterung, immer
mehr Menschen ihr Vertrauen in die Demokratie und ihre Bereitschaft
zu politischer Mitgestaltung verlören. Der Versuch, das
Verhältnis zwischen staatlichem Engagement, wirtschaftlichem
Engagement und bürgerschaftlichem Engagement neu
auszutarieren, muss sich deshalb an dem Ziel messen lassen, die
Demokratie zu verankern und zu stärken.
Der Begriff Bürgergesellschaft löst unterschiedliche
Assoziationen aus, die diesem Ziel nicht immer dienlich erscheinen.
So fordern die einen Bürgergesellschaft als Gegenspielerin
einer vermeintlich aufgeblähten Bürokratie, die sich
längst zu weit von den Bedürfnissen der Bürgerinnen
und Bürger entfernt habe. Andere verstehen
Bürgergesellschaft offenbar als einen bequemen Weg, sich der
staatlichen Verantwortung für soziale Belange (und andere
Aufgaben: Ökologie, Bildung, Kultur) zu entledigen. Beide
Ansichten beruhen auf dem fatalen Missverständnis, das
Verhältnis von staatlichem Engagement und von
bürgerschaftlichem Engagement sei ein
„Nullsummenspiel“ (Hans Jonas): Je mehr
Bürgergesellschaft, desto weniger Staat – und umgekehrt.
Abgesehen davon, dass diese Gleichung in der Realität nicht
aufgeht: Jedes Aufrechnen staatlichen und privaten Engagements
weckt den irrigen Eindruck, als seien Bürger und Staat
Konkurrenten, die ihre Kräfte aneinander messen und
untereinander aufteilen. Das aber entspricht zumindest nicht meinem
Verständnis von Demokratie.
In einer Demokratie sind Staat und Bürger wechselseitig
aufeinander angewiesen. Aus bitterer Erfahrung wissen wir, dass es
gerade die undemokratischen Länder sind, in denen sich
Zivilgesellschaft nur atomisiert, nur partikular organisieren kann
oder organisieren darf. Demokratische Staaten haben aber ein
vitales Interesse daran, bürgerschaftliches Engagement zu
ermöglichen und zu ermuntern. Das darf jedoch nicht darauf
hinaus laufen, dass sich der Staat vollkommen oder weitgehend aus
seiner sozialen (kulturellen, ökologischen) Verantwortung
zurück zieht. Die soziale Abfederung der freien
Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen
Demokratien beigetragen – zur Zustimmung und zum Vertrauen
der Bürgerinnen und Bürger - und sie wäre ohne einen
hinreichend starken Staat nicht möglich gewesen.
Der Sozialstaat, so reformbedürftig er sein mag, ist eine der
großen europäischen Kulturleistungen. Unsere Demokratie
ist nicht nur eine freiheitliche, sondern auch eine solidarische.
Ich kann mir keine Stärkung der Zivilgesellschaft, der
Bürgergesellschaft ohne soziale Verantwortung des Staates
vorstellen, sorgt doch gerade das soziale Netz dafür, dass
alle vergleichbare Chancen auf Teilhabe haben. Zu den Gesetzen des
freien Marktes gehört es jedenfalls nicht, dass auch die
Schwachen eine Chance bekommen. Damit nicht an die Stelle der hart
erkämpften Balance zwischen Markt, Staat und Gesellschaft eine
eindimensionale Marktgesellschaft tritt, halte ich es für eine
der wichtigsten Aufgaben der Politik, die soziale Dimension der
Demokratie zu verteidigen.
Doch eines ist klar: So wenig Demokratie funktionieren kann, wenn
die Bürger mit ihren Nöten sich selbst überlassen
bleiben, so wenig kann sie funktionieren, wenn ihnen der Staat eine
„Rundumversorgung“ bietet, die jede Eigen-Initiative
erstickt.
Im Mittelpunkt der Debatte um die Zivilgesellschaft steht die
Frage: „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ Dabei
geht es weder darum, eine Gesellschaft über die Werte einer
irgendwie gearteten „Leitkultur“ abzuschotten. Noch
geht es darum, überkommene traditionelle Werte künstlich
aufrecht zu halten und einer zunehmend differenzierten Gesellschaft
als Korsett überzustülpen. Es geht um nicht mehr und
nicht weniger als die grundlegenden Spielregeln des menschlichen
Zusammenlebens, die Regeln einer im schlichten Wortsinn
„zivilisierten“ Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die
sich ihrer eigenen Geschichte, ihrer interkulturellen und
interreligiösen Verantwortung bewusst ist. Einer Gesellschaft,
in der Einzelne nicht um des eigenen billigen Vorteils willen
Kapital schlagen aus dem Bedienen von Vorurteilen, aus dem
Schüren fremdenfeindlicher Stimmungen.
Ich halte es für unerträglich, dass in unserer
Gesellschaft häufig nicht einmal mehr das so elementare
Gewalttabu respektiert wird. Das sage ich mit Blick auf das
zunehmende Maß an Aggression und Gewalt überhaupt,
insbesondere bei jungen Menschen. Ein überaus
gefährliches Phänomen ist die Ausbreitung rechtsextremer
Gewalt – nicht nur in Deutschland, auch in anderen
europäischen Staaten. Was treibt junge Menschen dazu, Fremde
und Obdachlose zu hetzen, zu prügeln, zu ermorden? Was bewegt
sie zu einem Verhalten, das auf so erschreckende Weise
„unzivilisiert“ ist? Wenn so grundlegende Werte wie
Toleranz und Respekt vor dem Anderen offenbar nicht mehr
erfolgreich in die nächsten Generationen vermittelt werden,
dann ist das ein bitterer Anlass zu fragen, was wir falsch gemacht
haben.
Hat die Demokratie als Erziehungsinstanz, als Richtschnur für
das Handeln im Alltag nicht die notwendige Kraft entfaltet? An
verbindlichen und verbindenden Werten mangelt es unseren
Gesellschaften ja keineswegs: Unsere Demokratie ist auch ein
ethischer Konsens. Sie fußt auf den Grundwerten und
Grundrechten, die in Deutschland erst nach den Verbrechen der
Nationalsozialisten wirklich verankert wurden und die das Fundament
der EU bilden. Wir müssen den jungen Menschen zur Einsicht
verhelfen, dass die demokratischen Institutionen Menschenwürde
und Freiheit sichern und warum ohne Toleranz und gewaltfreie
Konfliktlösung, ohne Solidarität und
Verantwortungsbereitschaft demokratisches Zusammenleben - und damit
individuelle Freiheit - nicht gelingen kann.
Diese Erklärungs– und Vermittlungsversuche sind
notwendig und keineswegs erfolglos, wenn auch noch
ausbaufähig. Wer jedoch im Stil konservativer Verfallsrhetorik
pauschal allen jungen Menschen Orientierungslosigkeit unterstellt,
verkennt das Engagement vieler junger Bürgerinnen und
Bürger für Freiheit, Menschenrechte und andere
demokratische Grundwerte.
Gerade mit Blick auf die kommenden Generationen, die die Demokratie
einmal tragen und gestalten müssen, ist es wichtig,
bürgerschaftliches Engagement zugleich vorzuleben und zu
fördern, um so die Bürgergesellschaft zu stärken.
Und es gibt sie ja auch, die ermutigenden Nachrichten, die
erfreulichen Zahlen: Der Bericht der Enquetekommission hat sie
zusammen getragen: Allein in Deutschland sind es immerhin 22
Millionen Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Wir wissen,
dass heute bereits zahlreiche junge Menschen gemeinwohlorientiert
arbeiten – und noch viel mehr dafür zu gewinnen
wären. Nur wollen die meisten von ihnen das nicht mehr in den
althergebrachten Strukturen tun. Wer in Kirchen, Gewerkschaften,
Vereinen, Verbänden, Parteien etwas bewirken will, der muss
sich langfristig binden, also vor Ort aktiv sein. Junge Menschen
sind aber zu solchen Bindungen oft nicht bereit. Mitunter
können sie solche Bindungen auch gar nicht eingehen, weil
Arbeitgeber zunehmend Mobilität und Flexibilität fordern.
Die gesellschaftlichen Institutionen, die Zusammenhalt, sozialen
Brückenschlag, Zuwendung und Anerkennung organisiert haben,
ohne die soziale Integration nicht funktioniert, sind folglich
geschwächt. Der Staat kann und konnte das nicht; er kann die
materielle Vorsorge, die solidarische Risikovorsorge, die
gerechtere Verteilung der materiellen wie der Teilhabechancen
regeln. Er kann die Rahmenbedingungen für
gemeinwohlorientiertes Engagement verbessern; aber die soziale
Funktion beispielsweise eines Sportvereins oder einer
Kirchengemeinde kann der Staat nicht wahrnehmen. Mir scheint aber
auch, dass die Rede von den Parallelgesellschaften, die sich stets
auf die unterschiedlichen kulturellen und religiösen Wurzeln
von in einem Lande lebenden Großgruppen bezieht,
übersieht, dass wir es auch diesseits dieser Unterschiede mit
gesellschaftlicher Ausgrenzung zu tun haben. Sie hat nichts mit
Migration zu tun sondern mit dem Verlust an Zuwendung, an
Integration, an Mitmenschlichkeit, die die Ökonomisierung, die
Beschleunigung unserer Leistungsgesellschaft verursachen. Wer da
nicht mithalten kann, bleibt gnadenlos auf der Strecke. Ich sehe
mit Sorge, dass man hierzulande daraus ein politisches Programm
machen kann, obwohl offenbar ist, dass eine solche reine Markt- und
Leistungsgesellschaft, die uns alle auf unsere Rolle als
Konsumenten und – eventuell noch – als
Arbeitskräfte reduziert, dem Menschen nicht gerecht wird. Eine
Kultur der Zuwendung ist also von zwei Seiten gefährdet: durch
die Anforderungen der Arbeitswelt und durch die Schwächung der
gesellschaftlichen Institutionen, die bislang zur Integration
beigetragen haben. Der Staat kann diese Institutionen nicht
ersetzen.
Darüber hinaus ist er sogar selbst in gewisser Weise
geschwächt und in seinen hergebrachten Institutionen der
Demokratie in Zweifel gezogen.
An erster Stelle nenne ich die schwindende Bedeutung des
Nationalstaates, worauf die demokratische Verfassung und
Volkssouveränität bislang beruht. An die Stelle des
Nationalstaats treten supranationale Institutionen, vom
Währungsfond über die Weltbank bis zu neuen
Staatenverbünden, wie die Europäische Union – nicht
zu vergessen die Debatte über die Aufgaben der Vereinten
Nationen.
Die Globalisierung entzieht vielen Menschen Einfluss und Kontrolle
auf ihr ökonomisches Schicksal. In wachsendem Maße wird
sie deshalb als Diebstahl von Teilhabe- und Teilnahmerechten
empfunden. Dies mag zusammen mit anderen Faktoren - der
Komplexität politischer und rechtlicher Zusammenhänge,
einer gegenwärtig verbreiteten konsumistischen Haltung
gegenüber Politik und den Bildungs-, Flexibilitäts- und
Mobilitätsforderungen an den Einzelnen – die mangelnde
Bereitschaft langfristigen politischen Engagements
erklären.
Die Enquetekommission des Bundestages hat in ihrem Bericht darauf
verwiesen, dass die Bürgergesellschaft eines
unterstützenden Staates bedarf, der bürgerschaftliches
Engagement nicht durch unnötige bürokratische Auflagen
reglementiert und hemmt, sondern schützt, ermöglicht,
befördert. Die Kommission gibt ja auch eine Reihe Empfehlungen
zur Umsetzung ihrer Erkenntnisse. Einflussreiche Verbände
haben ihre Zustimmung signalisiert. Der Geschäftsführer
des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, sagte beispielsweise:
„Mit dem Abschlußbericht sind wir äußerst
zufrieden“. Der Kulturrat erwarte nun, dass die Empfehlungen
der Kommission vom kommenden Bundestag umgesetzt werden. Das ist
eine Erwartung, eine Forderung, die ich teile.
Doch nicht nur der Staat ist gefordert, sich stärker für
zivilgesellschaftliches Engagement zu öffnen. Auch die
Unternehmen können viel dazu beitragen, etwa indem sie
Mitarbeiter für gemeinnützige Aufgaben freistellen. In
dieser Hinsicht können wir viel von anderen Ländern
lernen – von den USA z.B. oder von Großbritannien. Auch
darüber wollen Sie ja heute und morgen diskutieren.
Die Stärkung der Bürgergesellschaft ist die eine Seite
der Medaille. Die andere Seite ist die Stärkung der
Partizipation. Wenn die Bürger mehr Verantwortung in der
Gesellschaft übernehmen, müssen sie auch intensiver als
bisher mitbestimmen können. Die Bürgergesellschaft
verlangt deshalb vom demokratischen Staat mehr Transparenz, mehr
Teilhabe. Am Ende steht die Vision eines „neuen
Gesellschaftsvertrages“, eines neuen Verhältnisses von
Staat, Gesellschaft, Individuum. In dieser Vision werden die
demokratischen und sozialen Strukturen, die der Staat bereitstellt,
durch aktiv handelnde, an den gemeinschaftlichen Aufgaben
teilnehmende Bürgerinnen und Bürger mit Leben
erfüllt, verändert und auf künftige
gesellschaftliche Bedürfnisse zugeschnitten. Man kann von
einem Gesellschaftsvertrag sprechen, der drei Säulen hat: das
bürgerschaftliche Engagement, das dem Gemeinwohl dienende
Kapital (das sind die von der Gesellschaft bereitgestellten
Güter und Rechte), den demokratischen Rechtsstaat.
Die Vision der Zivilgesellschaft, der Bürgergesellschaft, ist
ein zutiefst europäischer Gedanke. Die Griechische Philosophie
und Wissenschaft, das römische Recht, das
jüdisch-christliche Denken und die Aufklärung haben eine
große Tradition der Offenheit und Aufnahmebereitschaft
begründet. Damit Europa eine im besten Sinn
„zivilisierte“ Gesellschaft bleibt, haben wir –
die wir tätig sind in Politik, Kultur, Wissenschaft,
Wirtschaft, Gesellschaft – die gemeinsame Aufgabe, dieses
Wertefundament zu schützen und zu stärken: Freiheit und
Menschenwürde, Gewaltverzicht und Toleranz, Gerechtigkeit und
Solidarität, heute aber auch der Schutz der Umwelt und der
Erhalt natürlicher Ressourcen.
Mit der Grundrechte-Charta, die am 7. Dezember 2000 in Nizza
verkündet wurde, haben wir einen wichtigen Schritt
unternommen, die Europäische Union als Werte- und
Solidargemeinschaft zu festigen. Diese Charta muss nun Teil der
europäische Verfassung werden – der zuständige
Konvent hat Anfang März 2002 seine Arbeit aufgenommen. Diese
Verfassung wäre auch der richtige Ort, die Beteiligungsrechte
der Bürgerinnen und Bürger zu verankern und damit die
Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements für Demokratie
und Solidarität in Europa zu unterstreichen.
Bürgergesellschaften, die sich für die grundlegenden
Ziele und Werte der europäischen Demokratie einsetzen, tragen
auch dazu bei, eine europäische Öffentlichkeit zu
schaffen. Schon heute sind es gerade die Akteure der
Bürgergesellschaft – allen voran die NGO’s –
die sich über den nationalstaatlichen Rahmen hinweg
engagieren. Es gibt aber auch viele andere Beispiele für eine
erfolgreiche Vernetzung bürgerschaftlichen Engagements.
Erwähnt sei hier nur der „Europäische
Freiwilligendienst für Jugendliche“. (Dieses gemeinsame
Aktionsprogramm des Europäischen Parlamentes und des Rates der
EU ermöglicht jungen Europäern zwischen 20 und 25 Jahren,
sich im Rahmen sozialer, kultureller, humanitärer
Auslandsprojekte zwischen 3 Wochen und 12 Monaten an
gemeinnützigen Aktivitäten zu beteiligen.)
Bei der Aktivierung der Bürgergesellschaft geht es um einen
Lernprozess, der auch das staatliche Selbstverständnis
einschließt. Die Bürgergesellschaft ist keine
Alternative zum demokratischen und sozialen Staat. Er ist und
bleibt eine Voraussetzung für die Entfaltung
bürgergesellschaftlicher Subsidiarität. Der Staat muss
aber lernen, wie er als ermöglichender Staat wirken kann, wie
er intermediäre Strukturen, die öffentliche Sphäre
und neue Formen der Selbstorganisation fördern und
stützen kann.
Bürgerschaftliches Engagement kann die Institutionen des
demokratischen Staates nur ergänzen, wenn es über Mittel
verfügen und über deren Anwendung entscheiden kann. In
Deutschland hat sich die öffentliche Daseinsvorsorge durch
kommunale und staatliche Unternehmen auf der Basis des
Subsidiaritätsprinzips bewährt. Damit haben wir eine
moderne Infrastruktur und ein hohes Niveau der allgemeinen
Versorgung mit Dienstleistungen sichergestellt.
In Europa hat der demokratische Nationalstaat die Macht der
Wirtschaft eingedämmt. Er ist dazu nur noch bedingt in der
Lage. Das Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen
bieten durchaus Ansätze; aber sie können diese
Zivilisierung des Kapitals bisher auch noch nicht leisten. Selbst
der doch so überzeugende internationale Strafgerichtshof ist
umstritten. Von der Herrschaft des Rechts sind wir also
international noch ziemlich weit entfernt.
Die Beschwörung des bürgerschaftlichen Engagements, die
Verwirklichung der Erleichterungen, die die Enquete-Kommission des
Bundestages vorgeschlagen hat, ist die Frucht der Erkenntnis, dass
der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen
kann. Wenn die Charta der Vereinten Nationen, die Menschenrechte,
die Grundrechte und Grundwerte des Grundgesetzes nur noch von
Bürokratien verwaltet und in Politikerreden hochgehalten
werden, aber niemanden mehr finden, der sich als Bürger auch
in einem langfristigen Engagement für sie einsetzt, stehen
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, steht die Demokratie
auf dem Spiel, national, wie international.
Ob und wie wir auf den drei Säulen des erwähnten
Gesellschaftsvertrages zurückfinden zu einer Kultur der
Zuwendung und der Anerkennung ist deshalb die entscheidende Frage.
Und in diesem Sinne bin ich auf die Ergebnisse dieser Tagung
besonders gespannt.
24.466 Zeichen