Bundestagspräsident Thierse: "OSZE kann wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus leisten"
Es gilt das gesprochene Wort
Bei der Eröffnung der Parlamentarischen Versammlung der
OSZE im Berliner Reichstagsgebäude hielt
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse heute folgende
Rede:
"Im Namen der deutschen Delegation bei der Parlamentarischen
Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa und des gesamten Deutschen Bundestages heiße ich
Sie anlässlich der 11. Jahrestagung der Versammlung in Berlin
willkommen. Berlin ist ein guter Tagungsort für eine Konferenz
über Sicherheit und Zusammenarbeit. Hier waren die Spannungen
zwischen zwei konträren Systemen mit Händen greifbar.
Diese Stadt hat außergewöhnliche und tiefgreifende
Umbrüche erlebt. Denken Sie nur an die beiden historischen
Jahre 1945 und 1989. Was Sie hier in Berlin an Veränderungen
sehen - nicht nur an den Baustellen - hat mit beiden Ereignissen zu
tun. Die Entwicklung hin zu einem vereinten Deutschland ist vom
Helsinki-Prozess maßgeblich geprägt und vorbereitet
worden. "Die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten -
einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und
Überzeugungsfreiheit" wurde im August 1975 in Helsinki von 35
Staaten feierlich unterzeichnet.
Wir würden jetzt, über 25 Jahre später, nicht als
OSZE-Parlament zusammenkommen, ohne diese Unterschriften von
Helsinki. Heute sind wir, die Parlamentarier und
Parlamentarierinnen der 55 OSZE-Staaten, diesem großen
Wunsch, die Zukunft Europas auf der Grundlage der Ideen von
Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zu schaffen, einen
bedeutenden Schritt näher gekommen. Wir alle sind in diesen 25
Jahren weite und schwierige, zum Teil auch unterschiedliche Wege
gegangen. Aber seit der Schlussakte von Helsinki 1975 bewegen wir
uns gemeinsam in die gleiche Richtung von Freiheit und
Demokratie.
Die Ereignisse, die Europa vor einem Jahrzehnt wieder
zusammengeführt haben, bedeuteten zugleich der Anfang einer
neuen Ära europäischer Zusammenarbeit. Sie stellten auch
die OSZE vor neue Aufgaben. Sie haben gezeigt, dass ein friedlicher
Wandel möglich ist, wenn die internationale Politik die
Voraussetzung hierfür schafft und die Menschen bereit sind,
den Wechsel friedlich einzufordern. Als Mittler zwischen den
Bürgerinnen und Bürgern unseres Staates hatte und hat die
Parlamentarische Versammlung der OSZE hier ihre zentrale
Aufgabe.
Unsere Versammlung hat in den letzten Jahren weiter an Gewicht und
Profil gewonnen. An dieser begrüßenswerten Entwicklung,
die schwierig und mühsam war, haben Sie, lieber Herr
Präsident Severin, maßgeblichen Anteil. Lassen Sie mich
an dieser Stelle auch den Mitgliedern des Ad hoc-Ausschusses
Transparenz und Rechenschaftspflicht mit ihrem deutschen Mitglied
Rita Süssmuth danken. Ihnen ist es binnen eines Jahres
gelungen, Bewegung in die wichtigen Fragen einer Zusammenarbeit
zwischen den OSZE-Institutionen und ihrer Parlamentarischen
Versammlung zu bringen.
Wir alle müssen uns intensiv mit der Zukunftsfrage der
Organisation auseinandersetzen. Ich erwähne hier nur vier
Aspekte, die mir wichtig erscheinen und die die deutsche Delegation
in einem interfraktionellen Antrag vor gut einer Woche im Plenum
des Deutschen Bundestages zusammengefasst hat:
- die Parlamentarisierung der OSZE
- die Kooperation der OSZE mit anderen europäischen und
internationalen - Institutionen, bei einer gleichzeitigen
deutlichen Abgrenzung ihrer jeweiligen Funktionen
untereinander
- die Stärkung der zivilen Komponente in der
Sicherheitspolitik
- die Übertragbarkeit des KSZE/OSZE-Modells auf andere
Konfliktregionen.
Besonderes Gewicht hat gerade aus parlamentarischer Sicht die
Stärkung der demokratischen Legitimation unserer Versammlung.
Dabei spielt die insbesondere auch von Deutschland vorangetriebene
Reformdiskussion und die Forderung nach einer sichtbaren
Parlamentarisierung eine große Rolle. Die Parlamentarische
Versammlung steht dem OSZE-Beschlussfassungsprozess des nicht
öffentlichen Konsenses, dem es an Transparenz, Offenheit und
Rechenschaftspflicht fehlt, kritisch gegenüber. Auf jeder
Jahrestagung seit 1993 hat sie die OSZE aufgefordert, das
Konsensverfahren aufzugeben. Wir sollten nach Möglichkeiten
suchen, die Organisation effektiver und transparenter zu machen,
ohne das Ziel, alle Staaten weitestmöglich einzubinden,
aufzugeben.
Terrorismus als globale Herausforderung für das 21.
Jahrhundert" ist das Thema der diesjährigen Tagung. Wir sind
uns einig, dass terroristische Akte - wo auch immer sie auf der
Welt geschehen - durch nichts zu rechtfertigen sind und dass ihre
Täter und Drahtzieher entschieden bekämpft werden
müssen. Das vermag kein Staat allein, keine einzelne
Institution zu leisten. Die Staatengemeinschaft und ihre
internationalen Organisationen müssen gemeinsam handeln. Dabei
kann die OSZE dank ihres umfassenden Sicherheitsansatzes und ihrer
breiten Mitgliedschaft in enger Zusammenarbeit mit anderen
internationalen Organisationen, allen voran den Vereinten Nationen,
einen wichtigen Beitrag insbesondere zur Prävention
leisten.
Dazu gehört, die Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt
und Terror zu schützen, so weit dies möglich ist. Es muss
ein angemessener Mittelweg zwischen effizienter Bekämpfung des
Terrorismus und der Wahrung unserer freiheitlichen demokratischen
Prinzipien gefunden werden. Vor allem ist auf ausreichende
Kontrolle durch den demokratischen Rechtsstaat zu achten. Eine zu
weitgehende Einschränkung von Bürgerrechten zum Schutz
vor dem Terrorismus wird uns nicht die erhoffte absolute Sicherheit
bringen, sondern stattdessen die Grundlagen der freiheitlichen
Demokratie beschädigen.
Prävention heißt auch, die Ursachen für
terroristisches Handeln zu erkennen und entsprechend dagegen
anzugehen. Ob Armut, oder die Gefährdung unserer
Biosphäre, ob entfesselte Ökonomie oder fanatischer
Missbrauch der Religionen: Alles nährt und schürt
Intoleranz, Ausgrenzung bis hin zu Hass und im schlimmsten Fall
Gewalttaten. Das wissen sich Terroristen zunutze zu machen. Unser
Ziel ist eine Welt, in der die unveräußerlichen
Menschenrechte für alle Menschen in allen Kulturen
durchgesetzt werden sollen. Wie und in welchem Maß
gegenseitiger Übereinstimmung werden wir hier in den
nächsten fünf Tagen diskutieren.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch auf die Charta der
Pflichten der Staaten eingehen, die bei der Konferenz der Sprecher
und Präsidenten der Parlamente der Mitgliedstaaten des
Europarates am 11. Mai 2002 in Zagreb beraten worden ist und auf
einer der nächsten Konferenzen der Interparlamentarischen
Union weiter behandelt werden soll. Bei der Milleniumskonferenz der
Parlamentspräsidenten der IPU im Sommer 2000 erklärte
unser ehemaliger Kollege Luciano Violante aus Italien, "die Zeit
sei reif für eine Charta der Pflichten der Staaten". Gemeinsam
mit meinem damaligen Kollegen aus der Französischen
Nationalversammlung, Raymond Forni, habe ich die Anregung zur
Ausarbeitung einer solchen Charta gern aufgegriffen und
weitergeführt. Die Charta der Pflichten der Staaten soll eine
moralische, nicht jedoch rechtliche Selbstverpflichtung der Staaten
herbeiführen und den Grundkern der Menschenrechte als
gemeinsamen Bestand aller Zivilisationen und Kulturen der Welt
achten und schützen. Gerade vor dem Hintergrund des Themas
unserer Jahrestagung erscheint mir die Frage staatlicher Pflichten
besonders dringlich zu sein. Wenn wir über die
Ursachenbekämpfung des Terrorismus sprechen, dann gehört
dazu auch, dass die Staaten auf unbedingte Erfüllung ihrer
Pflichten gegenüber den der staatlichen Gewalt Unterworfenen
achten müssen.
Worum geht es bei diesen Pflichten? Es geht eigentlich um einen
Grundbestand an scheinbaren Selbstverständlichkeiten. Aber
leider sind sie nicht überall selbstverständlich. Die in
der Charta aufgezählten Pflichten und moralischen Werte
spiegeln bereits existierende Grundwerte wider, die in einer
Vielzahl europäischer und weltweiter Übereinkünfte
fest verankert sind. Zu diesen Übereinkünften zählt
etwa die europäische Menschenrechtskonvention von 1950 oder
aber auch der Internationale Pakt über bürgerliche und
politische Rechte von 1966. Die darin formulierten Grundwerte sind
als Fundament der Menschenrechte gemeinsamer Bestandteil aller
Zivilisationen und Kulturen der Welt. Ich habe es daher sehr
begrüßt, dass die Charta auch Ihnen als Teilnehmer der
Konferenz vorgelegt und um Ihre Unterstützung geworben
wird.
Unsere OSZE-Normen und Standards im Bereich der Menschenrechte und
Grundfreiheiten sowie der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bilden
zusammen mit wirtschaftlicher Prosperität das wesentliche
Fundament für friedliche und stabile Verhältnisse im 21.
Jahrhundert. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass von
der 11. Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und
ihrer "Berliner Erklärung" eine klare Botschaft gegen
Fanatismus, Terrorismus und Unmenschlichkeit und für die
Werte, denen wir uns vor 25 Jahren in Helsinki verpflichtet haben,
ausgeht. Ich erinnere an dieser Stelle an den unvergessenen
schwedischen Premier Olaf Palme: "Meine Hoffnung ist, dass die
Zukunft Europas auf der Grundlage der Ideen geschaffen wird, die
der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit zugrunde liegen". Wir
sind diesem großen Wunsch heute näher als es Olaf Palme
damals war. Lassen Sie uns unbeirrt an diesem Kurs festhalten."
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