Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Gedenkveranstaltung des Sejms der Republik Polen zum 63. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs am 1. September im Warschauer Königsschloss (13 Uhr)
Es gilt das gesprochene Wort
"Ich bin sehr dankbar für die Einladung zu dieser
Gedenkveranstaltung. Dass ich vor Veteranen des Krieges, vor
Kämpfern gegen die deutschen Aggressoren sprechen darf, bewegt
mich tief. Die Einladung des deutschen Parlamentspräsidenten
ist Ausdruck dafür, dass die Versöhnung zwischen Polen
und Deutschen eben nicht nur in Verträgen festgeschrieben
steht, sondern tatsächlich auch gelebt wird: auf politischer
Ebene wie im Alltag der Menschen.
Der 1. September 1939 markiert den Beginn des düstersten
Kapitels in der jüngeren europäischen Geschichte. Mit
seinem feigen Überfall auf Polen trieb das
nationalsozialistische Deutschland Europa und die Welt in eine
Katastrophe von ungeheuerlicher Dimension. Das Hitler-Regime
unterwarf Polen durch Bomben, Brandschatzung und Völkermord.
Die Namen Auschwitz und Treblinka bleiben für immer Signum
dieser Barbarei.
Ein weiteres Signum des nationalsozialistischen Terrors ist
Warschau. Für die Stadt und für fast ein Drittel ihrer
Einwohner bedeutete die deutsche Okkupation das Todesurteil. Schon
die Belagerung durch die Wehrmacht im September 1939 begann mit
gezielten Luftangriffen auf die Zivilbevölkerung und
vorsätzlicher Zerstörung der Bausubstanz. In den
langfristigen Plänen der Nationalsozialisten sollte Warschau
eine Stadt "nur für Deutsche" werden - mit nicht mehr als
200.000 Einwohnern und nur auf einem Zwanzigstel seines
ursprünglichen Territoriums. Die überlebenden Polen
sollten nach diesen abscheulichen Plänen auf das östliche
Weichselufer vertrieben werden.
Im Mai 1944, nach dem Warschauer Aufstand, wurde die Stadt
systematisch zerstört. Ganze Straßenzüge,
Baudenkmäler, Kirchen, Museen und Archive haben die
Nationalsozialisten in ihrem Hass gesprengt und niedergebrannt,
darunter auch das Königsschloss.
Das polnische Volk hat sich dem deutschen Vernichtungswillen
leidenschaftlich und in bewunderungswürdiger Weise widersetzt
- zunächst im Kampf gegen die Besatzer, später dann beim
Beseitigen der Trümmer, beim Wiederaufbau der Städte.
Warschau ist neu entstanden, auch das Königsschloss gibt es
wieder. Die Stadt und das Schloss sind heute, am 1. September,
symbolträchtige Orte des nationalen Gedenkens.
Die Schuld, die Deutschland auf sich geladen hat, darf nie
vergessen werden. Wenn diese Schuld auch nicht übertragbar
ist: die Verantwortung, die aus ihr erwächst, ist sehr wohl
übertragbar. Ich betrachte es als Verantwortung meiner
Generation und unserer Nachkommen, dass die Vergangenheit stets als
Mahnung präsent bleibt: Die Verbrechen der Nationalsozialisten
sind in ihren Ausmaßen und in ihrer Brutalität
einzigartig. Wir müssen dafür sorgen, dass sich
Vergleichbares niemals wiederholt.
Deutschland hat Konsequenzen aus seiner Schuldgeschichte gezogen.
Die erste Konsequenz war 1949 das Grundgesetz: eine freiheitliche,
demokratische, rechtsstaatliche Verfassung, die die Achtung der
Menschenwürde zum obersten Maßstab des Zusammenlebens
erklärt. Die zweite Konsequenz ist die europäische
Integration, die feste Einbindung der Bundesrepublik in eine
europäische Nachkriegsordnung, die sich zu einer stabilen
Staatengemeinschaft entwickelt hat. Das Grundmotiv dieser
europäischen Einigung war eine konkrete Utopie - eine Utopie
des Friedens, der Freiheit und des Schutzes der
Menschenwürde.
Heute, 57 Jahre nach Kriegsende, sind Deutschland und Polen
Nachbarn mit guten, stabilen, ja freundschaftlichen Beziehungen in
allen Bereichen. Der Weg dahin war allerdings steinig, langwierig,
konfliktbeladen. Über Jahre hinweg war das offizielle
Verhältnis zwischen der damaligen Bundesrepublik und Polen von
weitgehender, teils auch feindseliger Sprachlosigkeit bestimmt.
Zwischen der DDR und Polen herrschte eine von oben verordnete
"Brüderlichkeit", in deren Namen die historischen Spannungen
und latenten Konflikte zwischen beiden Seiten unter den Teppich
gekehrt wurden.
Durchbrochen wurde die Sprachlosigkeit vor allem "von unten": dank
der Kontakte zwischen Künstlern, Schriftstellern,
Intellektuellen, zwischen Kirchen, Partnergemeinden und dank der
engagierten Vermittlungsarbeit der deutsch-polnischen Vereine und
Freundschaftsgesellschaften. Auch zahllose Vertriebene und ihre
Interessenvertreter in den alten Ländern haben daran
mitgewirkt, partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen und zu
pflegen.
Entscheidend für eine grundlegende Verbesserung der
Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen war der
Warschauer Vertrag von 1970, die Anerkennung der
Oder-Neiße-Grenze. Für mich wie für viele andere
Deutsche ist das Bild des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der
Bundesrepublik, Willy Brandt, unvergesslich, als er im Dezember
1970 am Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos
niederkniete - für alle überraschend, zugleich glaubhaft
und bewegend: Es war, wie Egon Bahr später sagte, der Kniefall
eines Politikers, "der persönlich frei von geschichtlicher
Schuld, geschichtliche Schuld seines Volkes bekannte". Dieser
Kniefall war eine beeindruckende Geste der Ehrerbietung und ein
Symbol für den Willen zur Versöhnung.
Die Geschichte hat Willy Brandt und seiner Ostpolitik Recht
gegeben. Die Ostverträge haben 1975 die Konferenz von Helsinki
ermöglicht. Und ich denke, es ist nicht übertrieben zu
behaupten, dass auch die Ostverträge und die Botschaft von
Helsinki jene Freiheitskämpfer in Danzig, Stettin und anderen
polnischen Städten 1980 dazu ermutigt haben, ihr Land und ihre
Gesellschaft Schritt für Schritt zu verändern.
Und von diesem Mut wiederum profitierte einige Jahre später
ganz Europa: Dass die Mauer fallen konnte, dass wir Deutschen in
Ost und West auf friedlichem Weg in die staatliche Einheit gehen
konnten, verdanken wir auch dem Vorbild von "Solidarnosc", dem
solidarischen Beistand von Millionen Polinnen und Polen.
Sie haben uns Ostdeutsche ermutigt. Sie haben uns in unserer
Hoffnung auf einen Aufbruch der verkrusteten politischen
Verhältnisse gestärkt, haben uns zu Widerspruch, zu
oppositionellem Verhalten gegen staatliches Unrecht angespornt.
"Solidarnosc" wirkte als wichtiger Anreger und Anstifter der
ostdeutschen Bürgerbewegung.
Schon im September 1989, also früher als andere, hat
"Solidarnosc" die Vereinigung Deutschlands gefordert und als
Voraussetzung für die Versöhnung unserer Völker
bezeichnet. Für diesen Zuspruch, für diese
Unterstützung sind wir unseren polnischen Nachbarn dankbar.
Heute ist es an uns, Solidarität zurückzugeben.
Wichtige Schritte auf dem europäischen Weg gehen wir heute
gemeinsam: Polen und Deutschland sind Verbündete in der NATO -
und die Bevölkerung beider Länder akzeptiert es. Der
kulturelle und geistige Austausch in beide Richtungen wächst
beständig. Es gibt Goethe-Institute in Polen, polnische
Kulturzentren in Deutschland. Zwischen Hochschulen und akademischen
Instituten in beiden Ländern bestehen mehr als 550
Partnerschaften.
Der Überlebende von Auschwitz und ehemalige
Außenminister Polens, Wladyslaw Bartoszewski, hat vor kurzem
in einem Interview erklärt: "Die deutsch-polnische
Versöhnung ist eines der bedeutendsten Phänomene der
europäischen Politik." Dieser Wertung, diesem Bekenntnis
schließe ich mich an - dankbar und aus tiefer
Überzeugung. Einen solchen Satz 63 Jahre nach dem
Überfall auf Polen aus dem Munde eines Opfers des
Nationalsozialismus zu hören, empfinde ich als ein
großartiges Geschenk.
Und ich erinnere daran: Es war Prof. Bartoszewski, der im April
1995, 50 Jahre nach Kriegsende, in einer ergreifende Rede vor dem
Deutschen Bundestag an das Schicksal der über 2,5 Millionen
polnischer Zwangsarbeiter erinnert hat. Diese Erinnerung
beförderte die beschämend lange Debatte um die
finanzielle Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. 1999
vereinbarten die Bundesregierung und die Stiftungsinitiative der
Deutschen Wirtschaft die Einrichtung eines
"Entschädigungsfonds" für ehemalige Zwangsarbeiter in
Industrie und Landwirtschaft - eine späte Geste der Reue und
des Respekts gegenüber den Opfern. Im ersten Jahr nach Beginn
der Auszahlung (15.6.2001) hat die Bundesstiftung "Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft" eine Zahlung an 817.000 Berechtigte in
70 Ländern veranlasst. Die meisten Zahlungen gingen bisher an
ehemalige Zwangsarbeiter in Polen (327.000).
Verantwortung erschöpft sich nicht in der Aufarbeitung der
Vergangenheit, sie zielt vielmehr auf die Herausforderungen von
Gegenwart und Zukunft. Eine der größten
Herausforderungen, die unsere Länder heute gemeinsam zu
bewältigen haben, ist die Gestaltung Europas. Es bleibt dabei:
Deutschland unterstützt nachdrücklich den Wunsch Polens
auf zügigen Beitritt zur Europäischen Union. Der Beitritt
Polens ist ein Gebot historischer Gerechtigkeit, er liegt im
Interesse beider Länder und im Interesse der gesamten Union.
Und er ist wirtschaftlich machbar.
Seit Jahren ist Deutschland der größte Handelspartner
Polens. Und Polen wiederum zählt neben der Tschechischen
Republik zu den wichtigsten deutschen Handelspartnern unter den
Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa. Deutsche Firmen
gehören zu den größten ausländischen
Investoren in Polen.
Auch diese Fakten belegen die beachtlichen Erfolge Polens im
Transformationsprozess. Er hat den Menschen eine ungeheure
Veränderungsbereitschaft abverlangt und ist noch nicht
beendet. Inzwischen allerdings, so heißt es in den Umfragen,
wächst in Polen die Skepsis gegenüber der
Europäischen Union - vor allem unter den Landwirten. Viele von
ihnen befürchten, dass sie nach dem EU-Beitritt ihres Landes
Wettbewerbsnachteile hinnehmen müssen und von den
EU-Förderprogrammen ausgeschlossen bleiben. Das sind Sorgen,
die wir ernst nehmen.
Für die anstehenden Probleme müssen in den
Beitrittsverhandlungen faire Lösungen gefunden werden, die die
großartigen Leistungen Polens und seiner Menschen in den
letzten 15 Jahren ebenso berücksichtigen wie die
wirtschaftlichen Potentiale und den kulturellen Reichtum dieses
Landes. Wichtig ist doch, dass die Lösungen für alle
Seiten akzeptabel sind. Auch die EU muss nach Aufnahme neuer
Mitglieder politisch und wirtschaftlich handlungsfähig
bleiben, um auf die wachsenden Herausforderungen der Globalisierung
reagieren zu können. Deshalb sind auch Reformen innerhalb der
EU angezeigt, keine Frage. Es bleibt dabei: Die Gestaltung unserer
bilateralen Beziehungen, die Gestaltung Europas ist auch
künftig kein Selbstläufer. Sie bedarf weiterhin enormer
Anstrengungen - auf allen Seiten.
Aber eines ist schon heute klar: ohne Polen würde der
Europäischen Union Entscheidendes fehlen. Wir Deutschen
wünschen uns, die europäische Friedens- und Sozialordnung
künftig in noch engerer Zusammenarbeit mit unseren polnischen
Freunden zu gestalten. Wir knüpfen dabei an die fruchtbaren
Traditionen unserer Jahrhunderte währenden Nachbarschaft und
Partnerschaft an, ohne die schlimmen Jahre des Unrechts, des
Kriegs, des Völkermords zu vergessen. Sie bleiben ewige
Mahnung. Ich denke, das ist die beste Antwort, die wir 63 Jahre
nach dem 1. September 1939 geben können."
11.210 Zeichen