Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Konstituierung des 15. Deutschen Bundestages am 17. Oktober 2002
Es gilt das gesprochene Wort
"Ich möchte mich ganz herzlich für das mit dieser Wahl
ausgesprochene Vertrauen bedanken. Sie können sicher sein -
und das sage ich mit Blick auf das ganze Haus -, dass ich mich mit
aller Kraft darum bemühen werde, die Interessen jedes
einzelnen Abgeordneten zu schützen und zu wahren und zugleich
das Parlament als Ganzes würdig nach außen hin zu
vertreten.
Ich hoffe, dass mir das gelingen wird, auch wenn wir - wie ich in
den vergangenen Tagen lesen konnte - an Bedeutung verloren haben.
Da hieß es: "Der 15. Deutsche Bundestag ist nicht mehr das
weltweit größte demokratisch gewählte Parlament.
Diese Rolle haben die 603 Abgeordneten an das britische Unterhaus
abgegeben. Das Mutterhaus der Parlamente zählt 659
Abgeordnete. Auch die italienische Abgeordnetenkammer liegt mit 630
Mitgliedern über dem deutschen Niveau."
Ich bin mir sicher, dass wir diesen "Rückfall" auf Platz drei
gut verschmerzen werden. Natürlich gilt auch hier, dass
Qualität vor Quantität rangiert, und da ist mir für
unsere künftige Arbeit nicht bange. Vor allem aber markiert
dieser zahlenmäßige Rückgang in unserem Parlament
etwas anders: 13 Jahre nach dem Fall der Mauer und 12 Jahre nach
der wieder errungenen staatlichen Einheit sind wir Deutschen auf
dem Weg zur inneren Einheit ein ganzes Stück vorangekommen.
Die Sondersituation des Zusammenfügens zweier Parlamente, des
Deutschen Bundestages und der ersten demokratisch gewählten
Volkskammer, hat ihren eigentlichen Abschluss gefunden.
Die innere Struktur des vereinten Deutschland drückt sich nun
auch in der endgültigen Wahlkreiseinteilung aus. Ich sage das
gerade auch als Berliner Abgeordneter, in der Stadt, wo dies nicht
ganz einfach war. Im Ergebnis aber glaube ich, dass das
Zusammenfügen von Teilen ehemaliger Ost- und Westwahlkreise
zum Gelingen des weiteren Zusammenwachsens beitragen wird.
Ein Stück Integration wird auch im Wahlergebnis sichtbar und
in der Reduzierung der Zahl der Fraktionen im 15. Deutschen
Bundestag. Manche Unkenrufe über einen angeblichen Zerfall der
großen Volksparteien haben sich ebenso als voreilig und
falsch erwiesen wie die Vorstellung - von manchen befürchtet,
von manchen erhofft -, es werde sich eine dauerhafte Teilung der
Parteienlandschaft zwischen West und Ost etablieren. Das
Wahlergebnis deutet darauf hin, dass auch die Bandbreite des
politischen Spektrums auf die wichtigsten gesellschaftspolitischen
Strömungen unseres Landes mit ihren historischen Wurzeln
bezogen und gegründet bleibt. Übrigens ist auch die
Wahlbeteiligung mit fast 80% in der Größenordnung
geblieben, wie wir sie von Bundestagswahlen kennen - ganz entgegen
den Erwartungen gewisser Liebhaber von Krisen und
Katastrophen.
Vor allem aber - und das freut mich ganz besonders - hat das
Wahlergebnis vom 22. September deutlich gemacht, dass Politiker und
Parteien, die mit rechtsextremistischen, ausländerfeindlichen
und antisemitischen Parolen auf Stimmenjagd gehen, in Deutschland
auch weiterhin keine Chance haben. Das ist ein Erfolg aller
demokratischen Parteien in diesem Hause! Wir alle haben kurz vor
der Wahl miterleben dürfen, welch unseliger Geist hier
einziehen würde, hätten Politiker wie Herr Schill eine
Chance bekommen. Die Wählerinnen und Wähler und wir alle
gemeinsam haben das verhindert!
Wenn ich auf meine erste Amtszeit als Präsident dieses Hauses
schaue, dann fallen mir natürlich auch die Aufgaben ein, die
den politischen Alltag nicht gerade versüßen. Ich
hätte mir wahrlich eine Amtszeit gewünscht, in der ich
weniger in meiner Funktion als "mittelverwaltende Behörde",
wie es in schönem Amtsdeutsch heißt, hätte
tätig werden müssen. Ich habe deshalb im Gespräch
mit den Fraktionsvorsitzenden des letzten Deutschen Bundestages die
Frage aufgeworfen, ob der Bundestagspräsident wirklich weiter
der Hüter des Parteiengesetzes bleiben sollte. Man war der
Auffassung gewesen, dass es bei dieser Regelung bleiben solle, sie
wurde also auch bei der Gesetzesnovellierung nicht
verändert.
Aber wenn das so ist, dann konnte und dann kann ich Ihnen und Ihren
Parteien weiterhin gewisse unbequeme Entscheidungen nicht ersparen,
wenn es um nicht deklarierte Spenden oder schwarze Kassen geht. Ich
sage das ausdrücklich auch mit Blick auf meine eigene Partei.
Es war ja nicht nur die größte Oppositionspartei, die
über die eine oder andere meiner Entscheidungen nicht ganz
begeistert war.
Natürlich war hierbei jeweils über Vorgänge zu
entscheiden, die nicht nur Parteien betrafen, sondern auch für
sie handelnde Personen, in dem einen oder anderen Fall auch
Parlamentarier. Sicher aber ist eines: In allen diesen Fällen
ist das Ansehen der Politik insgesamt tangiert, und damit
unweigerlich auch das des Parlaments. Ich bleibe bei dem, was ich
in den vergangenen Wochen und Monaten aus anderen Anlässen
wiederholt gesagt habe: Wir Politiker sind normale Menschen,
sollten nicht mit ganz anderen, ganz besonderen
Maßstäben gemessen werden. Aber eines gilt schon: Wir
haben uns wie jeder und jede an die Gesetze und Regeln zu halten,
insbesondere solche, die wir für uns selbst vereinbart haben.
Nur darin, aber darin unbedingt, müssen wir Vorbild sein: bei
der Einhaltung jener Regeln und Gesetze, auf denen unsere
rechtsstaatliche Demokratie ruht, sonst beschädigen wir das
Vertrauen in sie!
Ich will hoffen, und ich denke, wir hoffen gemeinsam, dass die
Tätigkeit des Bundestagspräsidenten in dieser Periode
mehr dem Parlament und weniger dem Parteiengesetz gelten
wird.
Es gehört keine prophetische Gabe dazu, zu prognostizieren,
dass auch dem 15. Deutschen Bundestag der Anlass zum Streit nicht
ausgehen wird. Nicht nur das Parlament ist kleiner geworden.
Dasselbe gilt für die parlamentarische Mehrheit. Ich muss Sie
nicht an beispielhafte Debatten der abgelaufenen Periode erinnern,
um die Vorstellungskraft dafür zu schärfen, dass es auch
künftig im Parlament heftig, ja manchmal turbulent zugehen
kann und wird.
Ich sehe meine Aufgaben auch weiterhin darin, dabei mitzuhelfen,
dass der leidenschaftliche, aber faire Streit über die
politische Zukunft unseres Landes hier in diesem Saal, im
Reichstagsgebäude, im Parlament ausgetragen wird! Machen wir
uns doch nichts vor: In den Feuilletons wird seit Jahren - im
übrigen unter gelegentlicher Beteiligung von Kolleginnen oder
Kollegen dieses Hauses - darüber geklagt, dass die
eigentlichen Fragen nicht mehr hier im Parlament debattiert,
geschweige denn entschieden würden. Die Debatten, so
heißt es da, seien doch längst in die Talkshows
abgewandert. Und die Entscheidungen würden in der Exekutive
oder in parlamentsfernen Expertenkommissionen getroffen. Ich habe
mich dieser Betrachtungsweise immer vehement widersetzt, ohne
gefährliche Tendenzen in eine solche Richtung leugnen zu
wollen.
Der Bundestag bleibt der eigentliche Ort der demokratischen
Auseinandersetzung, hier ist der Ernstfall der Entscheidung. Das
hat gerade die vergangene Wahlperiode gezeigt. Es sind eben keine
Talkshows, keine unterhaltsamen Mediendiskussionen, welche die
Verantwortung für Kampfeinsätze unserer Soldaten
übernehmen, welche die Entscheidung in tiefgehenden ethischen
Fragen wie dem Umgang mit Gentechnik, Stammzellenimport oder
Organtransplantation treffen. Und in diesen Tagen und Wochen wird
zudem deutlich, wo das Grundgesetz den Bundestag hingestellt hat:
In die zentrale Position zwischen der in der Bundestagswahl
entscheidenden Bevölkerung und der handelnden, vom Parlament
kontrollierten Regierung. Die Wahl des Bundeskanzlers und die
Bestellung der Regierung, die vor uns liegen, wird diesen
Zusammenhang wieder allen vor Augen führen. Der Bundestag ist
eben nicht einfach nur eine debattierende Versammlung, auf deren
Meinungen es mal mehr, mal weniger ankommt. Er regiert zwar nicht
selbst, aber er läßt regieren, entlang der von ihm
beschlossenen Gesetze und Haushaltspläne, und er hat die
Verantwortung dafür, wie dieses Land regiert und verwaltet
wird.
Wenn ich heute einen Wunsch äußern darf, dann den: dass
wir die knappe Mehrheit in diesem Parlament als eine Chance
begreifen. Eine Chance zum produktiven Streit, in dem es auch um
etwas geht, in dem leidenschaftlich und fair zugleich um die beste
Lösung gerungen wird. Vielleicht sollten wir alle uns dabei
eines von Jürgen Habermas entwickelten Gedankens erinnern: dem
der "Einbeziehung des Anderen". Wäre das nicht auch eine
treffliche Maxime für die parlamentarische Auseinandersetzung?
Diese Einbeziehung der anderen Person, der anderen Meinung, der
anderen Idee sollte ein selbstverständliches Element unserer
politischen Debatte sein. Dazu gehört allerdings auch, dass
die Rednerin, der Redner, hin und wieder das vorgefertigte
Manuskript beiseite legt und wirklich in den Dialog mit den
Vorrednern eintritt.
Und noch eine Empfehlung möchte ich geben, sie stammt von
Eugen Gerstenmaier, dem legendären Bundestagspräsidenten,
der in seiner Eröffnungsrede 1957 die Aufforderung aussprach:
"Wir sollten nicht möglichst viele, sondern möglichst
gute Gesetze machen." Das bleibt gültig!
Am Schluss meiner Bemerkungen soll und muss ein Dank stehen:
zunächst gerichtet an unseren Alterspräsidenten, Herrn
Abgeordneten Schily für seine Amtsführung und die an uns
gerichteten Worte. Mein besonderer Dank gilt
verständlicherweise den ausscheidenden Mitgliedern des letzen
Präsidiums, den Vizepräsidenten Petra Bläss, Anke
Fuchs und Rudolf Seiters, wobei gerade die beiden letztgenannten
uns in diesem Hause so lange begleitet haben. Ich werde Ihre
kollegiale Zusammenarbeit im Präsidium und wir alle sicher
ihre immer souveräne wie humorvolle und nur gelegentlich
strenge Sitzungsleitung vermissen. Ich danke allen ausscheidenden
Mitgliedern des Deutschen Bundestages für ihre engagierte, zum
Teil jahrzehntelange Arbeit in unserem Parlament, für unsere
Demokratie und wünsche ihnen allen auf ihren weiteren
Lebenswegen alles Gute.
Ich heiße zugleich die neuen Mitglieder des Bundestages
herzlich willkommen. Fürchten Sie sich nicht vor den
großen Fußstapfen, in die manche oder mancher von Ihnen
treten mag. Bereichern Sie dieses Haus mit dem frischen Wind und
der Unbekümmertheit, die Sie hoffentlich mitbringen! Ich
wünsche uns allen eine arbeitsreiche, und zugleich politisch
spannende wie erfolgreiche 15. Wahlperiode!"
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