Bundestagspräsident Thierse: "Wir brauchen langen Atem beim Kampf gegen den Rechtsextremismus"
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erinnert heute bei
einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rostock an die
Serie rechtsextremistischer Gewalttaten, die vor zehn Jahren in
Lichtenhagen, Mölln und Solingen begann. In der Rede
führt der Bundestagspräsident aus:
"Zehn Jahre sind vergangen seit jenen entsetzlichen Tagen 1992, als
Lichtenhagen, Mölln und Solingen weltweit für
Schlagzeilen sorgten - widerliche Schlagzeilen. Die Namen dieser
Orte stehen für eine Serie rechtsextremer, rassistischer
Schwerkriminalität.
Es war hier, in Rostock, wo Bürger den Tätern zugejubelt
haben, als diese versuchten, Menschen zu ermorden. Seit dem Urteil
des Schweriner Landgerichts darf man öffentlich davon
sprechen, dass es Mordversuche waren. Es war hier, in Rostock, wo
es die ersten Pogrome gegen Minderheiten seit der Nazi-Zeit gab. Es
war hier, in Rostock, als vor den Augen der ganzen Welt die Bilder
von 1938 hochkamen. Die Bilder aus einer Zeit, in der schon einmal
in Deutschland Menschen gejagt, verprügelt, ermordet wurden.
Was 1992 geschah, war eine Schande für Deutschland.
Lichterketten waren ehrliche Spontanreaktionen, ein Zeichen, das
Bürgerinnen und Bürger dem Hass und der Gewalt
entgegensetzten. Aber haben die Lichterketten von damals auch etwas
in Gang gesetzt in unserer Gesellschaft? Hat sich etwas
grundsätzlich verändert in diesen zehn Jahren? Haben wir
beim Kampf gegen den Rechtsextremismus etwas erreicht? Und was
bleibt zu tun?
Wie notwendig es ist, diesen Fragen nachzugehen, zeigen die
neuerlichen Brandanschläge vom Juli dieses Jahres. Zehn Jahre
nach 1992 - wieder Lichtenhagen! Wieder das Sonnenblumenhaus!
Anschläge auf den Asia-Markt und die Räume der AWO. Das
Bittere: Diesmal war es den Zeitungen nur noch eine kurze Meldung
wert. Es klingt zynisch, aber es ist so: Schlagzeilen gibt es
eigentlich immer nur noch dann, wenn wieder ein neues Opfer zu
beklagen ist. So wie im Mai, als in Brandenburg ein junger
Aussiedler aus Kasachstan zu Tode geprügelt wurde. Solch ein
Fall wirbelt für ein, zwei Tage publizistischen Staub auf -
und wenn, dann meistens unter "Vermischtes" oder "Kleine
Meldungen". Bedauerlicherweise gibt es eine Art konjunkturellen
Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus. Solange es sich - bitte in
Anführungszeichen zu setzen - "nur" um verbale Attacken
handelt, um subtile Ausgrenzung, ist das für die Medien nicht
berichtenswert. Das stört, das ärgert mich seit
langem.
Allerdings: Das Problembewusstsein in der Gesellschaft ist
erfreulicherweise gewachsen. Und auch die Offenheit und
Selbstverständlichkeit, mit der über das Thema geredet
wird. Als ich vor einigen Jahren darauf hinwies, dass
Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit bis weit in die
Mitte der Gesellschaft reichen, bin ich noch heftigst angegriffen
worden. Insbesondere bei den Verantwortlichen in vielen Kommunen
bestand eine Haltung, den Kopf in den Sand zu stecken. Da
hieß es immer "Wir lassen uns das Image unserer Gemeinde
nicht kaputtmachen".
Die Leugnung der Realität machte es natürlich all
denjenigen schwer, die vor Ort aktiv etwas gegen Rechts tun
wollten. Unterstützung von oben gab es wenig oder keine, weil
ja das Problem offiziell gar nicht existierte. Ich bin Schirmherr
der Amadeu-Antonio-Stiftung und weiß deshalb noch sehr genau,
mit welchen Anfeindungen diese zu kämpfen hatte. Die
Wahrnehmung hat sich - wie gesagt - mittlerweile deutlich
verbessert. Es wird nicht mehr geleugnet, dass es Probleme mit
Rechtsextremismus gibt. Und die Engagierten, die Initiativen
bekommen inzwischen Rückendeckung von ihren Kommunen, die auch
ihrerseits nicht mehr tatenlos zusehen. Als vor vier Wochen die
Berliner Neonazi-Gruppe "Vandalen" heimlich ihr 20jähriges
Bestehen in Marzahn feiern wollte, standen 300 Polizeibeamte als
"Überraschungsgäste" vor der Tür. Das ist die
richtige Antwort. Sie zeigt der Szene, dass sie ihre konspirativen
Treffen nicht unbehelligt abhalten kann. Genauso positiv ist die
Tatsache, dass vor zwei Wochen in München 3.000 engagierte
Demokraten einen Neonazi-Aufmarsch gegen die Wehrmachtsausstellung
gestoppt haben.
Wenn ich sage, dass die Sensibilität gewachsen ist, dass sich
das Problembewusstsein geschärft hat, dann schließe ich
die Justiz ein. Erst vor wenigen Tagen hat der BGH das Urteil des
Cottbuser Landgerichts im sogenannten Guben-Prozess
verschärft. Damit ist nun auch juristisch endlich
klargestellt, was viele - ich auch - vorher immer wieder gesagt
haben: Die Hetzjagd von Guben war keine lässliche
Jugendsünde, sondern ein rassistisches Verbrechen.
Skandalös ist, dass es 10 Jahre bis zum letzten Urteil im
Lichtenhagenprozess gedauert hat. Die Urteile gegen die letzten,
identifizierbaren Mittäter sind zwar gesprochen, doch ein
fader Nachgeschmack bleibt. Denn eine wirkliche Aufarbeitung
hätte anders aussehen müssen. Die schweigende Mehrheit
nämlich, die den Tätern bei ihrem Mordversuch Beifall
klatschte, saß nicht mit auf der Anklagebank, wo sie
eigentlich hingehört hätte. Immerhin hat das Gericht in
der Urteilsbegründung auch jene mitverantwortlich gemacht, die
die fehlgeleiteten Jugendlichen in ihrem bösen Tun
anstachelten. Etwas Hoffnung bleibt also: Vielleicht denken die
Beifallsklatscher von Rostock zehn Jahre später wenigstens
darüber nach, was sie mit angerichtet haben.
Rechtsextremismus und rechtsradikale Gewalt sind nicht allein
ostdeutsche Phänomene, aber Ostdeutschland ist in besonderer
Weise betroffen. Statistisch gesehen - so war kürzlich zu
lesen - lebt ein Ausländer in Brandenburg etwa 24-mal so
gefährlich wie in Baden-Württemberg. Ob das so stimmt,
sei einmal dahingestellt. Tatsache ist aber, dass
Ausländerfeindlichkeit in den neuen Ländern auf relativ
hohem Niveau stagniert. Rechtsextremismus hat sich bei einem nicht
unbeträchtlichen Teil der ostdeutschen Bevölkerung
verfestigt zu einem fast selbstverständlichen Teil der
Alltagskultur.
Das hat - wenigstens zum Teil - auch etwas mit den mangelnden
Zukunftsperspektiven vor allem für junge Leute zu tun. "Wenn
ich mein Haus auf den Rücken nehmen könnte, wäre ich
schon weg" wurde vor kurzem eine junge Frau aus Rostock von der FAZ
zitiert. Richtig ist, dass attraktive Jobs - wie sie große
Unternehmen in München oder Frankfurt bieten und wie sie von
jungen, ehrgeizigen, aufstiegsorientierten Leuten gesucht werden -
in Ostdeutschland Mangelware sind. Mobilität ist in einer
offenen Volkswirtschaft zunächst einmal überhaupt nichts
Negatives, wird aber in Ostdeutschland manchmal so empfunden, was
daran liegt, dass diese Form der Mobilität in der DDR
unbekannt war. Bedenklich wird es allerdings, wenn so viele junge
Menschen abwandern, dass ganze Regionen mit ihnen ihre Zukunft
verlieren.
Menschenschwund ist Vertrauensschwund. Deshalb müssen wir in
den kommenden Jahren dafür sorgen, dass die Menschen hier, im
Land, vor Ort eine Zukunftsperspektive für sich erkennen. Dann
wird sich auch die Abwanderung verringern und der Trend wird sich
vielleicht sogar umkehren.
Im Kern muss es um die drei "I" gehen: Investition, Innovation und
Infrastruktur. Gerade auf den Ausbau der Infrastruktur im
kommunalen Bereich müssen wir das Augenmerk richten. Hier
werden Mittel im Rahmen des Solidarpaktes II zur Verfügung
stehen. Weiterhin braucht Ostdeutschland eine konkurrenzfähige
Hochschul- und Forschungslandschaft. Wir dürfen uns bei der
Förderung auch nicht mehr einseitig auf
Existenzgründungen konzentrieren. Mindestens so wichtig ist
die Pflege des unternehmerischen Bestandes. Eine bessere,
zielgenaue Förderung brauchen wir auch in den
strukturschwachen Gebieten. Diese Förderung muss so
ausgestaltet sein, dass Wachstumspole an Kraft gewinnen. Und im
öffentlichen Dienst brauchen wir endlich die
Lohnanpassung.
Doch so viel wir auch tun - eine wesentliche Voraussetzung für
den Erfolg ist, dass die Menschen eine positive Einstellung zur
ostdeutschen Transformation finden. Das pauschale, negative Bild,
das nicht wenige Ostdeutsche von ihrer Wirtschaft haben, was nicht
gleichbedeutend ist mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen
Lage, ist ein tonnenschwerer psychologischer Bremsklotz für
alle Ansätze, den Osten voranzubringen.
Der Mangel an Perspektive ist wohl ein Grund, warum in
Ostdeutschland rechtsradikale Parolen auf so fruchtbaren Boden
fallen, aber es ist gewiss nicht der einzige. Man muss auch daran
erinnern, dass wir aus der DDR-Zeit schlimme Erblasten
übernommen haben:
Erstens: Rechtsextremismus und Antisemitismus waren in der DDR
durchaus und nicht nur latent vorhanden - wurden aber immer unter
den Teppich gekehrt. Weil nicht sein konnte, was nicht sein
durfte.
Zweitens: Die DDR war ein eingesperrtes Land. Wie sollten die
Menschen den Umgang mit anderen, mit Fremden und das Aushalten von
Unterschieden lernen?
Drittens: Das ideologische Denkmuster, das uns in einem verkommenen
Marxismus-Leninismus eingebläut wurde: Schwarz-Weiß,
Freund-Feind. Das Resultat ist ein Klassenkampfmuster in den
Köpfen, das nach dem simpelsten Schema verläuft.
Viertens: Der zentrale Grundwert der DDR war die Gleichheit. Das
war im Prinzip nichts Schlechtes. Aber die Rückseite der
Gleichheit ist die Gleichförmigkeit. Anders - also ungleich -
sein, wurde nicht akzeptiert.
All das wirkt nach und fort - wir können die DDR-Geschichte
nicht einfach ausknipsen.
Zehn Jahre sind seit Lichtenhagen vergangen - wir haben seither
manches dazugelernt. Die Rechtsextremen aber auch. Man muss leider
konzedieren, dass sie immer geschickter, immer subtiler vorgehen
beim Kampf um die Köpfe. Mit einem Wort: Sie sind
professioneller geworden. Das erhöht ihre Gefährlichkeit.
Die Rechtsextremisten wissen natürlich auch, dass sie mit
Glatzkopf und Baseballschläger bei den sogenannten
ordnungsliebenden Bürgern nicht besonders punkten. Deshalb
gibt sich die rechte Szene moderater. Sie hält sich etwas
zurück, zum Beispiel propagiert sie längst nicht mehr so
offen aggressiv ihre "national befreiten Zonen" - obwohl es
zweifellos immer noch Gebiete in Städten gibt, wo sich
Jugendliche und Ausländer nicht hintrauen, weil sie
berechtigte Angst haben müssen, dort verprügelt zu
werden.
Die Rechtsradikalen legen großen Wert darauf, in der Form
ihres Auftretens mehrheitsfähig zu sein. Sie locken mit Musik
und Gespräch. Sie gewinnen Anhänger auch unter den besser
Gebildeten. Sie verabsolutieren "Law and Order", Begriffe, die ja
derzeit durchaus bei vielen hoch im Kurs stehen. Da werben dann
proper angezogene Menschen um die Köpfe und Herzen junger
Leute - und haben Erfolg. Das ist alles viel weniger auffallend,
wirkt alles wesentlich harmloser, aber es bleibt dabei: sie
predigen übelsten Rassismus!
Es ist dann wie ein Geschenk des Himmels für die
Rechtsradikalen, wenn sich jemand wie Herr Möllemann hinstellt
und dumpfen Antisemitismus für seine Zwecke zu nutzen sucht.
Mit dieser vermeintlichen Enttabuisierung rollt man Populisten und
Rechtsextremen geradezu einen roten Teppich aus. Dass und wie
dieser Mechanismus funktioniert, haben wir schon in den
Niederlanden gesehen. Der ermordete Pim Fortyn hat die Art und
Weise völlig verändert, wie in Holland über
Ausländer geredet wird. Auch er hat sich als Tabu-Brecher
inszeniert. Er sagte Dinge wie: die multikulturelle Gesellschaft
sei gescheitert, der Islam sei eine "zurückgebliebene Kultur",
weitere Zuwanderung müsse verboten werden und alle
Ausländer hätten sich gefälligst zu assimilieren.
Damit war der Geist aus der Flasche. Nun - so meinten viele
Holländer - könnten sie auch ruhig
ausländerfeindlich wählen, ohne mit den Rechtsradikalen
in einen Topf geworfen zu werden. Sie haben verkürzt gesagt:
"Dank Pim Fortyn kann man jetzt endlich mal wieder reden, wie wir
möchten." Genau an solche Haltungen hat Herr Möllemann
appelliert, als er die Antisemitismusdebatte lostrat. Man kann nur
froh sein, dass seine Rechnung bei der Bundestagswahl dann doch
nicht aufgegangen ist. Offenbar sind in Deutschland derzeit - zum
Glück - die Bedingungen nicht günstig für den in
anderen europäischen Ländern so verbreiteten
Rechtspopulismus.
Dennoch ist das kein Anlass für Entwarnung. Auch in
Deutschland sind viele empfänglich für die populistischen
Vereinfacher. Gäbe es in Deutschland bei den Rechtspopulisten
eine wirklich charismatische Leitfigur - einen Haider oder einen Le
Pen - dann würde ich auf den Misserfolg solcher Leute nicht
wetten. In Hamburg haben in einer konkreten Situation immerhin fast
20 % der Wähler Schill gewählt. Rede also niemand die
latente Gefahr von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus klein.
Wir müssen weiter gegen das hell- und dunkelbraune Gedankengut
zu Felde zu ziehen.
Dazu gehört auch die rechtsextremistische Musik, deren
Anziehungskraft - trotz ständigen Fahndungsdrucks der Polizei
- erschreckend zunimmt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz
hat ermittelt, dass allein im ersten Halbjahr 2002 die Zahl von
Skinhead-Konzerten um ein Drittel zugenommen hat. Gut zu
hören, dass der Generalbundesanwalt jetzt Anklage gegen die
rechtsradikale Band "Landser" erhoben hat, eine Band, die in
übelster, volksverhetzender Weise zu Hass und Gewalt
aufstachelt, die Menschenwürde anderer angreift, die
Verfassung der Bundesrepublik beschimpft und verächtlich
macht. Die Landser-Musik ist die musikalische Droge, mit der sich
die rechten Schläger in einen Rausch versetzen, wenn sie gegen
die von ihnen ausgemachten sogenannten "Feinde" ziehen. Es ist
sicher kein Zufall, dass Musik von Landser häufig dann im
Spiel war, wenn Menschen überfallen und getötet
wurden.
Was sich seit 1992 ebenfalls enorm weiterentwickelt hat und
inzwischen höchst gefährliche Dimensionen annimmt, ist
der braune Hass im Internet. Freie Rede und Internet gehören
für viele zusammen - aber im Internet wabert
ausländerfeindlicher Hass, weil gerade Extremisten von den
nahezu unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten Gebrauch
machen. Das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles beobachtet das
Internet seit sechs Jahren und stellt seither einen ständigen
Zuwachs an Hetz-Seiten fest.
Die Extremisten nutzen geradezu virtuos alle Möglichkeiten,
die ihnen das Netz bietet. Sie verbreiten dort ihre Hetze, sie
organisieren ihre Sympathisanten, sie steuern ihre Aktionen. Der
Erfindungsreichtum ist unglaublich. Längst haben die Macher
erkannt, dass man Jugendliche nicht mit Hitler-Bildchen auf dem
Bildschirm anlocken kann, wohl aber mit Musik. Womit neben der
Propaganda auch noch eine Menge Geld gemacht wird. Das hat sich in
den USA inzwischen zu einem einträglichen Geschäft
entwickelt.
Der digitale Hass ist eine neue Herausforderung, für die wir
noch keine überzeugende Antwort haben. Denn es liegt in der
Natur des Netzes, dass es sich einer Kontrolle entzieht. Umso
wichtiger, dass wir als Demokraten dem selbstbewusst etwas
entgegensetzen: Eigene Seiten, mit eigenen Inhalten, die die
Menschenfeindlichkeit der Rechtsextremen entlarven. Genauso wichtig
ist, dass sich Schulen verantwortlich fühlen und
Medienkompetenz vermitteln. Dazu gehört, die Fähigkeit,
Inhalte im Internet kritisch hinterfragen zu können.
Überhaupt: Begreifen wir den Rang und die Bedeutung von
Jugendarbeit und von Jugendpolitik im Kampf gegen den
Rechtsextremismus. Wenn wir junge Leute vor dem Bazillus
rechtsextremer und rassistischer Ideologien schützen wollen,
müssen wir demokratische Initiativen stärken und
alltägliche Courage unterstützen. Auch in Zeiten knapper
Finanzen müssen wir deshalb die politische Bildungsarbeit
fortsetzen, ja verstärken. Denn der Kampf um Herzen und
Köpfe der jungen Leute ist eine Herausforderung für den
Rechtsstaat. Jeder Euro, den wir für wirksame politische
Bildungsarbeit ausgeben, ist für die Demokratie sinnvoll, ja
mehr noch: lebensnotwendig!
Jugendinitiativen, Vereine, Opferanlaufstellen, die sich gegen
rechte Dominanz wehren, brauchen unsere Unterstützung -
politisch und emotional, aber eben auch finanziell. Sicher: Es gibt
junge Leute, die sind für die Demokratie verloren, man wird
sie wohl nicht mehr erreichen können. Aber das ist nicht die
Masse. Die Masse, das sind die, die potenziell anfällig sind,
die Vorurteile und Ängste haben, die einfach "nur so"
mitlaufen, weil sie keine alternativen Angebote haben. Sie sind es,
die wir erreichen können und müssen: mit sinnvollen
Angeboten für die Freizeitgestaltung, mit Zuwendung,
Anerkennung, mit Beheimatung. Denn genau das ist es, was sie bei
Rechtsextremen suchen. Zur notwendigen Jugendarbeit gehören
aber auch Angebote für Skinheads und andere beim Ausstieg aus
dem Gefängnis der Dummheit. Nur: Ohne Geld ist das alles nicht
zu machen. Und deshalb sind alle Kürzungen und
Einschränkungen hier ein Schlag ins Gesicht derer, die sich
engagiert für Demokratie und Toleranz einsetzen.
Noch ein Anmerkung zur Bildung: Mir graust es vor dem Ausdruck, wir
müssten unsere Kinder "fit machen" für den Arbeitsmarkt.
Richtig: Schüler müssen lesen, rechnen, schreiben
können, Fremdsprachen und Computer beherrschen. Dennoch muss
Bildung, gerade auch nach PISA, mehr sein als die Vermittlung von
Faktenwissen. Schule muss das bieten, was ich als
Lebensbefähigungs-Unterricht bezeichne. Dazu gehören: Die
Fähigkeit zum selbstständigen Denken und Lernen, die
Fähigkeit, Sinnfragen zu stellen, die Fähigkeit,
Auseinandersetzungen gewaltfrei zu lösen und mit Frustrationen
zurechtzukommen, die Fähigkeit, sich in einer komplizierten
Welt zu orientieren und - ganz wichtig - die Fähigkeit zur
Demokratie. Demokratische Werte - Freiheit, Gerechtigkeit,
Toleranz, Solidarität - vererben sich nicht automatisch an die
nächste Generation. Jugendliche müssen lernen, Gleichheit
von Ungleichheit, Recht von Unrecht, Freiheit von Beliebigkeit zu
unterscheiden. In der Schule muss es Zeiten und Orte geben, die dem
Demokratielernen und der Werteerziehung vorbehalten sind. Verlieren
wir also - trotz PISA - nicht die wichtigste Aufgabe der Schule aus
dem Auge: Die Aufgabe umfassender
Persönlichkeitsbildung!
Anknüpfungspunkte des Rechtsradikalismus sind
Vereinfachungsbedürfnisse und Überforderungsängste.
Wir leben in einer Zeit des raschen Wandels, der beschleunigten
ökonomischen, technologischen und sozialen Entwicklung. Ein
Teil der Bevölkerung reitet auf dieser Welle und profitiert
davon, ein anderer Teil fürchtet, von dieser Welle
weggespült zu werden. Gerade diejenigen, die solche
Ängste haben, brauchen Angebote der sozialen Sicherung, der
kulturellen und moralischen Beheimatung. Anderenfalls könnte
für diese Menschen wieder etwas attraktiv werden, was ich bis
vor einiger Zeit noch für völlig undenkbar gehalten habe:
eine neue Kombination aus Nationalismus und Sozialismus.
Die Rechtspopulisten und nicht zu vergessen die NPD versuchen die
Ängste der Menschen für ihre Zwecke zu
instrumentalisieren - sie tun es bei der Frage der Zuwanderung oder
auch bei der Frage der EU-Osterweiterung, der damit verbundenen
Integration mittel- und osteuropäischer Staaten in die Union.
Ich halte den Verbotsantrag für die NPD nach wie vor für
den richtigen Ansatz - trotz aller Unsicherheiten, die im Laufe des
Verfahrens aufgetreten sind und natürlich alles andere als
hilfreich waren. Gerade der Zweifel daran, ob es der richtige
Ansatz war, den Verbotsantrag zu stellen, lässt die NPD sich
doch wieder obenauf fühlen und die Rolle der verfolgten
Unschuld spielen. Erleichtert bin ich, dass die NPD bei der
Bundestagswahl unter der Grenze von 0,5 Prozent geblieben ist, das
bringt sie um den Anspruch auf Wahlkampfkostenerstattung in
sechsstelliger Höhe!
Das Zuwanderungsgesetz ist beschlossen - endlich. Es hat viel zu
lange gedauert, bis dieses Gesetz da war. Nun wird es am 1. Januar
in Kraft treten. Ich hätte mir wirklich noch mehr
gewünscht - zum Beispiel ein Bleiberecht für Opfer von
rechtsradikaler Gewalt. Dazu ist es nicht gekommen. Das bedaure
ich, denn das wäre ein Zeichen von hoher Symbolkraft gewesen.
Aber immerhin haben wir endlich ein Gesetz, das klar die
Zuwanderung regelt. Das kann diffuse Ängste abbauen helfen.
Dass das Zusammenleben von sogenannten Inländern und
sogenannten Ausländern damit qua Gesetzeskraft nicht zum Idyll
wird, versteht sich allerdings auch. Einwanderung und Integration
sind und bleiben konfliktbeladen. Wir müssen die Probleme, die
sich daraus ergeben, offen ansprechen. So sachlich wie
möglich, damit vorhandene Ängste und Unsicherheiten nicht
bestätigt und bestärkt werden.
In diesem Zusammenhang danke ich allen, die sich seit vielen Jahren
und mit großem Engagement für das gute und gedeihliche
Miteinander in unserer Gesellschaft einsetzen. Es sind
erfreulicherweise im Laufe der Zeit viele geworden, die - ohne
großes Aufhebens davon zu machen - ihren Beitrag dazu
leisten. Hier, in Rostock, ist der Verein Dien Hong sehr aktiv.
Seine Arbeit ist ein gutes Beispiel für Integration,
friedvolles Zusammenleben, Zivilcourage und ehrenamtliches
Engagement. Schon die Gründung war ein klares politisches
Signal: unsere vietnamesischen Mitbürgerinnen und
Mitbürger sollen sich ihre zweite Heimat nicht von Skinheads
und Beifallsklatschern kaputtmachen lassen müssen.
10 Jahre nach Lichtenhagen erkennen wir, dass wir weiterhin einen
langen Atem brauchen beim Kampf gegen den Rechtsextremismus. Unser
Ziel ist eine Gesellschaft, in der wir ohne Angst verschieden sein
können, in der es eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung
gibt. Es gab in den vergangenen Jahren viele wichtige, Mut machende
Ansätze - ich rechne den NPD-Verbotsantrag genauso dazu wie
das "Bündnis für Toleranz" oder das Programm der
Bundesregierung "XENOS". Doch sind das alles Bausteine und kein
endgültiges Konzept mit Wirkgarantie. Denn auch das haben wir
in den vergangenen zehn Jahren lernen müssen: Der
Rechtsextremismus passt sich an. Um so wichtiger sind ständige
Wachheit, rechtzeitige Vorbeugung und konsequente
Abwehrmaßnahmen. Machen wir uns nichts vor: Der Weg ist lang.
Aber die Demokratie, die offene Gesellschaft ist diese Anstrengung
wert!"
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