Bundestagspräsident Wolfgang Thierse schreibt an Dr. Helmut Kohl
Sehr geehrter Herr Dr. Kohl,
in zahlreichen Meldungen werden Sie heute zitiert mit einer
Anspielung auf "Parlamentspräsidenten oder so was", die
niemals die Einheit Deutschlands gewollt hätten. Ebenso wird
berichtet, welchen außerordentlichen Wert Sie darauf legen,
dass Urteile und Beschreibungen zutreffend sind.
Um Sie selbst in den Stand zu versetzen, zutreffend zu beschreiben
und zu urteilen, teile ich Ihnen gerne mit: Auch zu der Zeit, als
ich das Amt des Bundestagspräsidenten noch nicht bekleiden und
übrigens auch keine öffentliche Rede über meine
Überzeugungen halten konnte, habe ich immer schon und
gelegentlich sogar sehnsuchtsvoll voll auf die deutsche Einheit
gesetzt.
Dafür gibt es Belege, einen davon möchte ich Ihnen
zusenden, damit Sie Ihre verfälschenden Bemerkungen nicht
wiederholen: Meine erste Rede überhaupt als Parlamentarier der
frei gewählten Volkskammer der DDR am 18. April 1990. Darin
heißt es zur SPD der DDR, sie habe sich gegründet und
zur Wahl gestellt, weil sie "den Weg der deutschen Einheit auf eine
vernünftige und verantwortliche Weise gehen" wollte. Weiter
zitiere ich das Protokoll der Volkskammer: "Die SPD hat sich in der
Koalitionsvereinbarung zum Artikel 23 des Grundgesetzes als dem
realistischen Weg zur deutschen Einheit bekannt (Beifall besonders
bei der CDU/DA). Wir begrüßen die entsprechende Aussage
in der Regierungserklärung. Das mag manchem befremdlich
erscheinen (Zuruf von der PDS "Ja!")."
Soweit nur ein früher Beleg dafür, dass Sie mit Ihrer
Behauptung im Unrecht sind.
Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass Sie bei der Sicht der
Dinge "aus Ihrer Brille", wie Sie ebenfalls zitiert werden, eine
Sanktion nicht verwinden können, die ich in meinem Amt gegen
Ihre Partei verhängen musste und die von der CDU inzwischen
auch akzeptiert ist.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Thierse
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