Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse auf der Frühjahrstagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing am 19. März 2004 zum Thema:
Anrede,
Seit einem halben Jahr, seit dem Urteil des Verfassungsgerichts vom
24. September 2003 hält eine Debatte an und will an
Schärfe nicht verlieren: der sogenannte Kopftuchstreit. In ihm
geht es über das konkrete Thema hinaus um grundlegende Fragen
des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, Politik und
Religion, um Religionsfreiheit und staatlichen Erziehungsauftrag,
um kulturelle Identität und Integration. Dass wir in Zeiten
des Terrorismus, immer neuer und näher rückender
terroristischer Gefährdungen darüber diskutieren,
befördert Gelassenheit und Differenzierung nicht unbedingt.
Aber gerade deshalb müssen wir uns dazu immer wieder neu
durchringen. Denn die Abwehr der terroristischen Gefahr darf nicht
selbst zur Gefährdung unseres demokratischen Rechtsstaates und
seiner Verfassung und Grundwerte führen!
Ich will als katholischer Christ ganz deutlich sagen: Ich bin
selbstverständlich für eine Gleichbehandlung von
Religionen, wie es unser Grundgesetz vorsieht. Wir haben keine
Staatsreligion verbunden mit religiöser Toleranz, sondern -
worauf der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde
zu Recht immer wieder hingewiesen hat - der Staat erklärt sich
gegenüber den Religionen und Weltanschauungen für
neutral. Ich zitiere Böckenförde: "Unser Staat ist der
Religion gegenüber neutral und deshalb offen. Er unterscheidet
sich dadurch vom laizistischen Staat, der auf
Zurückdrängung der Religion aus dem öffentlichen
Leben ausgerichtet ist. Der säkulare Staat hingegen
gewährt der Religion freien privaten und öffentlchen
Entfaltungsraum, ohne sich mit ihr irgendwie zu identifizieren oder
sich für religiöse Zwecke in Dienst nehmen zu
lassen."
Dies ist gerade auch für Christen in der Politik - nicht nur,
aber auch in dieser Debatte - von außerordentlicher
Bedeutung: Wie anders als durch die Trennung von Kirche und Staat
könnte Religionsfreiheit gewährleistet werden? Die
Religionsfreiheit, auf die sich auch Muslime bei uns mit Recht
berufen!
Das Christentum hat auch nach den blutigen europäischen
Religionskriegen lange gebraucht, um die Trennung von Kirche und
Staat zu akzeptieren. Diesen Weg zu Toleranz und Religionsfreiheit
ist meine, die katholische Kirche endgültig erst mit dem
Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 gegangen.
Das war ein wichtiger, mühseliger Prozess der
Mäßigung von Religion. Diese schwierige aber notwendige
Erfahrung und Entscheidung ist eine unbedingte Voraussetzung
für den inneren Frieden unserer Gesellschaft. Nur wenn sie
gegeben ist, gilt: Wer bei uns lebt, braucht seine kulturelle
Herkunft und seine Religion nicht zu verleugnen. Er muss aber
bereit sein, die Grundwerte unserer Verfassung und unsere
demokratischen Regeln zu akzeptieren. Die meisten Muslime, die bei
uns leben, wissen den Schutz unserer Verfassung und die Offenheit
dieser Gesellschaft wohl zu schätzen. Fast 90 Prozent aller in
Deutschland lebenden Muslime wollen auch hier bleiben und viele von
ihnen sind bereit, sich um die Integration in diese Gesellschaft zu
bemühen.
Ohne dieses Fundament der Religionsfreiheit - aktiv wie passiv -
und ohne die Konsequenz daraus, die Trennung von Kirche und Staat,
die klare Unterscheidung von Religion und Politik, wäre die
Diskussion, die wir heute hier führen, eigentlich gar nicht
vorstellbar.
Deshalb muss es grundsätzlich um beides gehen: um die
tatsächliche Praxis von der Religionsfreiheit einerseits und
um die Sicherung der religiösen Neutralität des Staates
andererseits. Lassen Sie mich deshalb - etwas ausführlicher -
die meines Erachtens besonders präzise Definition von
Religionsfreiheit, wie sie Ernst-Wolfgang Böckenförde
formuliert hat, zitieren:
"Die Religionsfreiheit ist ein volles Freiheitsrecht, nicht nur
eine Freiheit der Religion. Sie umfasst einerseits die Freiheit zum
Glauben, zum Bekenntnis dieses Glaubens und zur öffentlichen
Ausübung der Religion, andererseits aber ebenso die Freiheit,
einen Glauben nicht zu haben oder sich von einem gehabten Glauben
abzuwenden, das heißt ohne Glauben, Bekenntnis,
öffentliche Religionsausübung zu leben. Sie ist mithin
nicht eine Garantie der Religion, ihres Bestandes oder
Fortbestandes, sondern nur die Garantie der Möglichkeit, dass
Religion bestehen und fortbestehen kann. Religion und Bekenntnis
können in Freiheit ergriffen und fortgetragen werden; sie
bestehen solange - aber auch nur solange - als dies
geschieht.
Religionsfreiheit als Grundrecht gehört der staatlichen
Rechtsordnung an. Sie ist ein äußeres Recht, richtet
sich gegen Übergriffe anderer Menschen und Übergriffe der
staatlichen Gewalt. Sie betrifft nicht das Verhältnis des
Menschen zu Gott und auch nicht die Stellung des Einzelnen
innerhalb einer Religionsgemeinschaft. Eine moralische Pflicht des
Menschen Gott gegenüber, die Wahrheit zu suchen und dasjenige,
was er im Glauben als Wahrheit erkennt, zu ergreifen und danach zu
handeln, lässt sie unberührt."
Der Streit über das Kopftuch - ein symbolträchtiger
Anlass für eben sehr grundsätzliche Erwägungen, die
den nötigen Entscheidungen voraus gehen müssen - kann
nicht wirklich ausgefochten werden, ohne die eigene
europäische Geschichte in den Blick zu nehmen und auch nicht,
ohne die aktuellen Modernisierungskonflikte im Islam zu betrachten.
Wir stoßen dann auf problematische Ungleichzeitigkeiten
ebenso wie auf erhellende Parallelen, die für das
wechselseitige Verständnis der Religionen und Kulturen von
Bedeutung sind. Der Dialog der Religionen und der Kulturen wird
ohne dieses Verständnis nicht wirklich, nicht wirksam,
stattfinden können.
Das europäische Christentum hat überhaupt keinen Grund,
sich angesichts inner-islamischer Konflikte stolz in die Brust zu
werfen. Wir haben Jahrhunderte lang religiös motivierte Kriege
geführt, wenn Sie so wollen: innerchristliche Konflikte mit
der Waffe ausgefochten und selbst nach dem Westfälischen
Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges noch einmal
rund 300 Jahre benötigt, um den heutigen Stand der Dinge zu
erreichen.
Der Islam befindet sich heute in vergleichbaren
Auseinandersetzungen. Die einen wollen - aus meiner Sicht
zurück - auf eine Verabsolutierung des Religiösen als
verbindlichen Maßstab sowohl für die Gestaltung des
Lebens jedes Gläubigen als auch für die Regelung der
öffentlichen Angelegenheiten. Die anderen wollen den Koran als
zwar heiligen, aber doch historischen und damit interpretierbaren
Text, sodass vielfältige Folgerungen daraus für das
Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft gezogen werden
können. Darunter auch die Einsicht, dass er für die
Regelung der öffentlichen Angelegenheiten nicht unmittelbares
Gesetz sein kann.
Die Realität in den islamischen Staaten ist folglich von einer
Vielfalt, die hierzulande nur von Wenigen überhaupt
wahrgenommen wird. Ich will das gar nicht theologisch
erörtern; man könnte Vergleiche heranziehen des
Zivilrechts, des Familienrechts in verschiedenen islamischen
Ländern, man kann aber auch den Augenschein bemühen. Die
Unterschiede sind greifbar, ob man in Tunesien oder Marokko, ob man
in Jordanien oder Palästina, ob man in der Türkei oder im
Iran, in Saudi-Arabien oder im Jemen ist. Vielleicht sind die
Türkei und Ägypten besonders geeignete Beispiele, weil
man dort viele Strömungen zugleich findet: Verabsolutierung
der Religion, Festhalten an Traditionen, die mit dem Islam, dem
Koran nichts zu tun haben, Überwindung solcher Traditionen,
Angst vor Freiheit und Streben nach Freiheit, Streben nach
Vereinbarkeit tiefer Religiosität mit der Moderne und
fundamentalistische Ablehnung der Moderne mit religiösen
Begründungen. Alle Schattierungen von Verabsolutierung
bestimmter Lesarten des Islam bis zur Mäßigung der
Religion. Der jordanische Prinz (und Bruder des verstorbenen
Königs) Al Hassan Bin Talal geht vor diesem Hintergrund so
weit zu erklären, dass es keinen Streit der Kulturen, also
"des" Islam mit "dem" Westen gebe, sondern dass es sich stets um
inner-islamische Konflikte handele.
Solche Konflikte hat es auch im europäischen Christentum
gegeben: das Schisma, die Hexenverbrennungen, die heilige
Inquisition, den 30-jährigen Krieg bis zu deren
Überwindung im Streben nach Ökumene in offenen
Zivilgesellschaften. Wir können die blutige Art und Weise, auf
der diese Konflikte in Europa über einen so langen Zeitraum
ausgetragen wurde, den islamischen Gesellschaften weiß Gott
nicht zur Nachahmung empfehlen.
Ich erinnere an diese Parallele, weil sie helfen kann, die
Konflikte im Islam zu verstehen, weil sie hilft, den Islam nicht
als monolithischen Block zu begreifen und weil sie hilft, die
vorwiegend negativen Schlagzeilen über Fundamentalismus,
Gewalt, Frauenfeindlichkeit nicht für den Islam insgesamt zu
halten. Sie sind nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber (ein wenig)
Wahrheit haben sie doch. Ich zitiere einen brillanten islamischen
Intellektuellen, den in Deutschland lebenden Schriftsteller Navid
Kermani: "Fast alle Muslime hierzulande und die meisten
Islamwissenschaftler ärgern sich über das verzerrte Bild,
das die Medien vom Islam zeichnen. Aber dieses Bild wäre
niemals so sehr in den Vordergrund gerückt, wenn nicht genug
Muslime - Terroristen, Theologen, Staatsführer - exakt jener
Karikatur des Islams entsprächen, die den Gläubigen und
Kennern aufstößt. Es mag ein Feindbild Islam geben. Aber
schlimmer ist, dass es einen Islam gibt, der sich als Feind
geriert."
Zugleich (aber) wehrt sich Karmani gegen die flotten,
oberflächlichen Urteile von Europäern über den
islamischen Glauben. Wir sollten uns zurückhalten, vielleicht
gar heraushalten aus dem innerislamischen Streit.
Ich bin ganz einverstanden damit, jedenfalls im Prinzip. Das -
vorsichtig gesagt - Spannungsverhältnis zwischen der
universellen Geltung der Menschenrechte, dem Streben nach
höherem Wohlstand einerseits und tradierten kulturellen und
religiösen Prägungen andererseits wird am ehesten
bewältigt und vielleicht sogar aufgelöst, wenn die
verschiedenen Kulturen ihren eigenen Weg zum Ziel finden.
Nur kann weder die Menschenrechtscharta dafür aufgegeben
werden, noch kann die Forderung nach Mäßigung der
Religion, nach Unterscheidung von Religion und Politik fallen
gelassen werden. Lassen Sie uns vielmehr für die Einsicht
werben, dass mangelnder Respekt vor anderen Überzeugungen die
Substanz des eigenen Glaubens beschädigt, der für
Christen wie für Muslime auch Glaube an die
Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen, also
an die Würde des Menschen ist.
Globalisierung und Migration unterstreichen die Notwendigkeit
dieser Forderungen, weil wir es uns nicht mehr aussuchen
können, ob wir mit Angehörigen fremder Kulturen
zusammenleben wollen. Im Gegenteil: angesichts der engen
Nachbarschaft und Verflechtung zwischen den Kulturen gilt nicht
mehr nur national sondern auch global: friedliches Zusammenleben
der Religionen ist nur bei Freiheit und Mäßigung der
Religionen zugleich, also bei religiöser Toleranz
möglich.
Vor diesem Hintergrund nun kann der Blick nach innen gerichtet
werden, auf unsere Gesellschaft, in der gut 3 Millionen Muslime
leben, auf unseren Kopftuchstreit, auf unsere
Selbstverständigung. Wenn wir uns - in den genannten Grenzen -
aus der Selbstverständigung islamischer Gesellschaften
heraushalten wollen, so müssen wir doch unsere eigene
Selbstverständigung in einer längst multikulturellen
Gesellschaft immer wieder vornehmen und dabei auch bedenken, ob und
wie wir mit unserem eigenen Verhalten Einfluss nehmen auf
inner-islamische Konflikte und auf eine Gestaltung der globalen
Verhältnisse, die das friedliche Zusammenleben der Religionen
und Kulturen zum Ziel hat.
Neben der rechtlichen und rechtstheoretischen Debatte, die wir seit
dem Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts in neuer
Heftigkeit führen, ob die Landtage nun gesetzgeberischen
Handlungsbedarf sehen oder nicht und wie die gesetzlichen
Regelungen aussehen sollen - existieren eine ganze Reihe von Neben-
und Hintergedanken, politischen Zielen und Absichten, von
Ängsten und Ressentiments, die aufzuklären sind.
Die einen sind gegen das Kopftuch aus religiöser Intoleranz;
andere, weil sie eigene Gewohnheiten und Vertrautheiten durch das
Fremde in Frage gestellt sehen.
Die einen erhoffen sich durch Duldung des Kopftuchs auch bei
Beamtinnen, insbesondere Lehrerinnen (nur um diese geht es
bekanntlich) einen Beitrag zur Abwendung des "Clash of
Civilisations", andere sehen darin die einzige Möglichkeit
"wirkliche Religionsfreiheit" zu verwirklichen.
Die einen sind gegen das Kopftuch aus Fremdenfeindlichkeit und
Überfremdungsangst, die anderen, weil sie nur so die
grundgesetzliche Werteübereinkunft gewahrt sehen.
Die Einen sind gegen ein Kopftuchverbot aus Angst vor dem
Bundesverfassungsgericht, die anderen wegen der befürchteten
laizistischen Konsequenzen.
Die einen sind für ein Kopftuchverbot, weil sie sich davon ein
Verbot aller religiösen Symbole in Schulen oder gar im
öffentlichen Raum erhoffen, andere sind dagegen, weil sie
genau das befürchten.
Ich selbst bin - gerade weil es in unserer Debatte nur um das
Kopftuch von Lehrerinnen geht - eher für ein Verbot (mit
Einschränkung). Das Kopftuch steht - so meine Wahrnehmung -
für Auffassungen, die nicht mit den Werten des Grundgesetzes
vereinbar sind. Und ich bin zugleich für die religiöse
Neutralität des Grundgesetzes, die etwas ganz anderes ist als
Laizismus. Und ich bin schließlich überzeugt, dass
beides miteinander vereinbar ist und einen Beitrag zum friedlichen
Zusammenleben der Religionen (unter den Bedingungen der
Globalisierung wie auch) im eigenen Land leisten kann.
Diese Position gründet darauf, dass das Kopftuch kein nur oder
vor allem religiöses Symbol ist, sondern noch mehr kulturelles
und politisches Zeichen.
An dieser Stelle wäre ein kleiner Exkurs über den
Unterschied zwischen Religion und Kultur notwendig. Wie (also)
verhält es sich mit religiösen Symbolen, wie mit
Kopftuch, Kreuz und Mönchskutte?
Die genannten Zeichen können Ausdruck einer religiösen
Überzeugung sein, aber Kopftuch, Kreuz und Mönchskutte
sind trotzdem nicht dasselbe. Und es gehört zur Redlichkeit
der gegenseitigen Wahrnehmung von Religionen und der
öffentlichen Diskussion über sie, die Unterschiede im
Bedeutungsgehalt auch zu benennen. Ich zitiere Jürgen
Moltmann, den berühmten Theologen: "Weil …nicht alle
Religionen gleich sind, können auch nicht alle gleich
behandelt werden. Es gibt eine Würde der Differenz, die auch
öffentlich respektiert werden muss. Man muss schon einen sehr
großen Abstand von Religion überhaupt haben, wenn einem
die verschiedenen Symbole der Religionen alle gleich gültig
erscheinen. Je näher man hinsieht, um so besser erkennt man,
wofür die verschiedenen Symbole stehen, und dann muss man
unterscheiden. Es gibt Symbole der Freiheit und Symbole der
Unterwerfung, Symbole der Exklusivität und Symbole der offenen
Gemeinschaft, Symbole des Lebens und Symbole des Tötens." (Die
Zeit, 26.2.2004) Auch unter dem Aspekt religiöser Symbolik
also sollten wir unterscheiden. Das christliche Kreuz ist - nach
vielen Jahrhunderten in denen es wahrlich anders wahr - kein
Zeichen der Unterdrückung mehr.
Und die Mönchskutte? Das Christentum kennt zunächst
einmal keine spezifischen Kleidervorschriften für
Gläubige. Eine Ordenstracht wird freiwillig als Ausdruck einer
bestimmten Lebensform gewählt und widerspricht nicht den
Verfassungsprinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Auch impliziert sie keinerlei normative Vorgaben für die
Schülerseite.
Die Problematik des muslimischen Kopftuchs dagegen liegt in seiner
Mehrdeutigkeit. Wenn eine Muslima das Tragen eines Tuchs als zu
ihrer islamischen Glaubensüberzeugung gehörig darlegen
kann, gehört das in den Schutzbereich von Artikel 4 des
Grundgesetzes. In diesem Sinne ist es konsequent und richtig, die
Diskriminierung von Kopftuchträgerinnen beispielsweise im
Einzelhandel zu unterbinden. Da der Staat sich in die
innerreligiöse Hermeneutik nicht einschaltet, gilt dies
unabhängig davon, ob der Koran das Tragen eines Kopftuchs
vorschreibt, oder ob es sich bei dieser Sicht um eine theologische
Interpretation oder um eine ganz anders motivierte kulturelle
Tradition handelt, die nicht von allen geteilt wird. Das
schließt freilich einen gesellschaftlichen Diskurs über
diese Fragen nicht aus.
Wenn dem aber so ist, dann halte ich es für unzulässig
und auch für pädagogisch fragwürdig, Kindern zu
erklären, es handle sich hier nur um bloße Mode, so Frau
Ludin (die Anlassgeberin zum Kopftuchstreit) gegenüber
Schülern, oder um eine "therapeutische Maßnahme", das
suggeriert eine Äußerung von Frau Alzayed von der
Deutschen Muslim-Liga bei einer Veranstaltung der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin im Februar: "Du trägst eine
Zahnspange, ich trage ein Kopftuch". Verhielte es sich so,
wäre der Kopftuchstreit bis hinauf zum
Bundesverfassungsgericht überflüssig.
Hält man es deshalb für unzulässig, dem islamischen
Kopftuch seine religiöse Bedeutung gänzlich abzusprechen,
gerät man in einen interessanten Widerspruch zur
Erklärung des iranischen Präsidenten Mohammed Chatami,
der zugleich hoher islamischer Geistlicher ist, in einem Interview
in der Süddeutschen Zeitung am 27. Januar 2004:
"Ich, als Geistlicher, sage Ihnen hier, wir haben in unseren
theologischen Grundsätzen nichts, was nicht-muslimische Frauen
zwingen könnte, ein Kopftuch zu tragen. Das dürfen wir
nicht. Was Sie hier sehen, das ist eine gesellschaftliche Tradition
in Iran, das hat mit dem Islam nichts zu tun. Und wir dürfen
Menschen überhaupt nicht zwingen, ihr privates Leben auf eine
bestimmte Art und Weise zu führen. Aber ich bin sicher, dass
die Zeit viele von diesen Problemen lösen wird."
Das Kopftuch ist also in jedem Falle auch, Präsident Chatami
bestätigt dies, ein kulturelles, ein
politisch-gesellschaftliches Symbol. Dafür sprechen die
Wirkung dieses starken Zeichens in der Öffentlichkeit und der
objektive politisch-historische Deutungskontext des Kopftuchs. In
diesem Sinne kann das Kopftuch gelten:
1. als Zeichen der Abgrenzung von der westlich-christlichen
Mehrheitsgesellschaft;
2. als Zeichen, das die Unterordnung der Frau unter den Mann
sinnfällig macht und damit mindestens in Spannung zu Art. 3
des Grundgesetzes - dazu komme ich noch im Einzelnen - steht, zumal
der Islam keine Trennung zwischen religiösem und staatlichen
Bereich kennt;
3. als möglicher Ausdruck einer Haltung, die den
religiösen Geboten des Islam den Vorrang vor der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung einräumt;
4. möglicherweise sogar mit dem programmatischen Ziel der
Ablösung des Grundgesetzes bei anderen
Mehrheitsverhältnissen.
Welcher Maßstab, welche Deutung soll nun gelten: die
individuelle Sicht der Kopftuchträgerin oder die objektive
Sicht/die mögliche Wirkung als demonstratives
Bekenntniszeichen mit entsprechendem Deutungskontext?
Oder anders gefragt: Muss sich eine kopftuchtragende muslimische
Frau die möglichen objektiven Wirkungen zurechnen lassen,
selbst wenn sie ihrem Selbstverständnis widerstreiten?
Bei der Antwort auf diese Frage ist zu differenzieren: im Blick auf
die eigene Religionsfreiheit: Nein. Niemand kann und will der
muslimischen Frau vorschreiben, welche Folgerungen sie für
sich aus ihrem Glauben zieht. Im Blick auf ihre mögliche Rolle
als beamtete Lehrerin meiner Auffassung nach aber sehr wohl, denn
da muss sie aktiv sicher stellen, dass ihr Verhalten der Treue zur
freiheitlich-demokratischen Grundordnung entspricht.
Bei aller Vorsicht vor sich herausbildenden Stereotypen und auch
vor der Gefahr einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die
scheinrationale Argumente für religiöse Intoleranz und
Fremdenfeindlichkeit hervorbringt, muss man sich mit den Argumenten
der Verteidiger des Kopftuchs inhaltlich auseinandersetzen:
1. Dem Argument, dass das Kopftuch ein freiwillig getragenes
religiöses Zeichen sei, muß ich insoweit widersprechen,
als die Freiwilligkeit nicht zweifelsfrei vorauszusetzen ist. Es
gibt offenkundig ungezählte Fälle von Zwang und massivem
sozialen Druck, dem junge Mädchen ausgesetzt sind, damit sie
ein Kopftuch tragen. An diesem Zwang darf sich die Schule nicht
beteiligen. Ich erinnere an Berichte von Lehrerinnen z. B. aus
Berlin-Kreuzberg über zunehmenden familiären,
männlich-väterlichen Druck auf islamische Mädchen,
Kopftuch zu tragen, an Sportunterricht und Schulausflügen
nicht teilzunehmen.
2. Das Argument, das Kopftuch sei ein Zeichen der Emanzipation der
Frau, ist mir nicht verständlich, weil es historisch das
Gegenteil von Emanzipation signalisiert. Wovon wollen sich die
muslimischen Frauen emanzipieren und worauf ist diese
gerichtet?
3. Das Argument, das Kopftuch sei nötig zur Abgrenzung von der
Frauenrolle in der säkularen Gesellschaft, vermag Anlass zum
gesellschaftlichen Diskurs geben. Es bestätigt zugleich seinen
gesellschaftspolitischen Gehalt. Die zum Ausdruck gebrachte
Differenz steht im Widerspruch zur rechtlich bereits errungenen
Gleichberechtigung und tatsächlich erreichten Gleichstellung
von Mann und Frau, die sich aus dem Grundgesetz ergeben.
4. Das Kernargument aus der Sicht der streitbaren
Kopftuchträgerinnen selbst ist das des notwendigen
Selbstschutzes. Frau Ludin hat es unmissverständlich
formuliert: "Ohne Kopftuch fühle ich mich nackt." Ein solches
Argument und der dahinter liegende "Anständigkeitsdiskurs"
trifft den Nerv einer Gesellschaft, die um die Emanzipation der
Frau einen harten Kampf geführt hat, die die Gleichstellung
der Geschlechter in den Rang eines Verfassungsprinzips erhoben und
die eine hohe Sensibilität für Verletzungen dieses
Prinzips im Alltag entwickelt hat. Und es trifft auch den Nerv
christlicher Identität. So lange ist es noch nicht her, dass
eine Frau ihrem Mann vor dem Traualtar den Gehorsam schwur. Auch
das Verhältnis zwischen weiblicher (und damit auch sexueller)
Identität und christlicher Religion ist alles andere als
unverkrampft. Das Bild der sündigen Eva ist tief in unserem
kulturellen Bewusstsein verankert.
Dass eine Frau gleiche Rechte wie ein Mann hat, dass sie ihre
weibliche Identität nicht verstecken muss, um als
"anständig" zu gelten und vor sexuellen Übergriffen
geschützt zu sein, sind große Errungenschaften des
demokratischen Rechtsstaats. Die Einsicht, dass eine Frau in
gleicher Weise wie der Mann und nicht nur in von ihm abgeleiteter
Weise Bild Gottes ist, ist heute "Gott sei Dank" auch in der
christlichen Theologie unstrittig.
Als sich im Januar diesen Jahres der Geburtstag Lessings zum 275.
Mal jährte, war das Gelegenheit an seine Verdienste als
Aufklärer und als Streiter für religiöse Toleranz zu
erinnern. Bundespräsident Johannes Rau hat aus diesem Anlass
eine große und überzeugende Rede zu unserem Thema
gehalten. Lessings Toleranzbegriff nun erschöpfte sich nicht
im Erdulden und Ertragen der anderen Religionen, sondern er rief
dazu auf, sich mit den kulturellen Leistungen des Judentums und des
Islam auseinanderzusetzen und sie zu respektieren. Aber damit ist
keineswegs laissez-faire, Werterelativismus oder
Überzeugungslosigkeit gemeint, sondern: für die eigene
Identität, die eigene Kultur, die eigenen Grundwerte
einzustehen, das gehört unabdingbar zur herben Tugend der
Toleranz.
Das also müssen wir zusammen denken und zusammen praktizieren:
den Respekt vor der anderen Religion und den Einsatz für die
eigenen Überzeugungen! Und zwar um des demokratischen
Rechtsstaates willen, für dessen Voraussetzungen die
Gesellschaft immer neu sorgen muss, indem sie seine grundlegenden
Werte immer neu stiftet und lebendig hält. "Der Despotismus
kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht", heißt es bei
Alexis de Tocqueville.
Der Staat - und seine Schulen - haben sich nach unserer Verfassung
gegenüber den Religionen neutral zu verhalten. Er schaltet
sich nicht in die innerreligiöse Hermeneutik ein. Das ist
unsere Konsequenz aus Lessings Forderung nach religiöser
Toleranz.
Da wir in einer multikulturellen Gesellschaft mit einer bedeutenden
islamischen Minderheit leben, bedeutet dieses Verständnis von
Toleranz aber auch, dass uns zur Verteidigung des Status quo
weitergehende Begründungspflichten abverlangt werden. Diese
Konsequenz haben wir bislang noch nicht aus der Tatsache gezogen,
dass wir uns auf ein unausgesprochenes Einverständnis, eine
Grundübereinstimmung aufgrund gemeinsamer Sprache, Geschichte
und Gebräuche nicht mehr ohne weiteres verlassen können
(wie Mark Siemons in einem beachtenswerten Beitrag im Feuilleton
der FAZ vom 17. März schrieb).
"Die Probleme beim Zusammenleben und die Konflikte mit dem
Rechtsstaat", heißt es da an anderer Stelle, "entstehen ja
weniger durch den religiösen Kern der verschiedenen
Bekenntnisse als durch deren Einbettung in bestimmte, von
politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren beeinflusste
Kulturen. Diese Einbettung ist unvermeidlich, aber sie ist nicht
unveränderlich. Wie alle Kulturen wandeln sich auch die
religiös geprägten ständig und geben insofern auch
Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Koexistenz." Das ist eine
richtige Beobachtung, gespeist aus europäischer
geschichtlicher Erfahrung.
Deshalb bietet sich nicht der Ausweg, durch die Unterscheidung
zwischen Religion und Kultur den Kopftuchstreit zu entscheiden. Wir
können nicht von Staats wegen bestimmen, ob das Kopftuch
grundsätzlich religiös oder bloß kulturell ist.
Dass dies im Islam selbst höchst umstritten ist, sollte uns
erst recht davor zurückschrecken lassen.
Wir können das Kopftuch der muslimischen Lehrerin nur zulassen
oder ablehnen aufgrund unserer eigenen, wohlbegründeten
Werteentscheidung.
Auf die Vielfalt und Wandlungsprozesse islamischer Kulturen habe
ich eingangs hingewiesen.
Es ist ein Jammer, dass wir in Deutschland zwar ein ungeheures
Wissen über den Islam in wissenschaftlichen Archiven
versammelt haben - das größte außerhalb der
islamischen Welt, hat mir ein islamischer Religionslehrer in
Marokko versichert - und dass wir schon geraume Zeit mit gut 3
Millionen Muslimen zusammenleben, denen aber immer noch mit
Gleichgültigkeit und Unverständnis bis hin zu Ablehnung
und Aggression begegnen.
Das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen ist nach
wie vor alles andere als selbstverständlich. Für viele
Muslime ist das Leben in unserer säkularisierten Gesellschaft
zweifellos eine Herausforderung. Im täglichen Zusammenleben
zwischen Christen und Muslimen irritieren dabei nicht so sehr die
unterschiedlichen Religionen, sondern vor allem die
unterschiedlichen Einstellungen zum Glauben.
Und obwohl das Grundgesetz die Freiheit der Religion und der
Ausübung des Glaubens garantiert und obwohl die Zahl der
islamischen Gebetsräume und Moscheen bei uns im Lande
ständig wächst, haben viele Muslime offenbar Angst davor,
diesen eigenen Glauben nicht mehr leben zu können. Sie
fürchten, nach und nach ihre religiös-kulturelle
Identität zu verlieren, und reagieren mit bewusster Abgrenzung
oder gar Abschottung.
Deshalb handelt der Kopftuchstreit natürlich auch von
Integration, was sie für wen bedeutet und wie weit sie gehen
soll. Hierauf gibt es keine einfachen Antworten. Nur, dass
Integragion konfliktfrei verlaufen könnte, das kann man wohl
sicher ausschließen.
Die letztlich entscheidende Frage hat Böckenförde (in
seinem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Januar
2004) formuliert. Ich zitiere: "Die relevante Frage ist deshalb
nur, was sich aus einer politischen Dimension des Kopftuches
für dessen Zulassung oder Verbot ergeben kann."
Das Urteil des Verfassungsgerichts lässt beides zu: ein Verbot
oder eine Zulassung in einem bestimmten Umfang. Die Abwehr
konkreter Gefahren und der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit sollten uns bei unseren
Überlegungen leiten.
Ich habe - jeweils mit einem Schwerpunkt darauf, den Dialog der
Kulturen in Gang zu halten - fast alle eingangs aufgezählten
islamischen Staaten besucht und nicht nur durch Augenschein sondern
in unzähligen Debatten bestätigt bekommen, dass es
natürlich einen Zusammenhang zwischen den angeblich
religiös bestimmten Bekleidungsvorschriften und der
Diskriminierung der Frau gibt. Diese Diskriminierung wird
bestenfalls dadurch bestätigt, dass man erklärt und
mancherorts auch auf überzeugende Taten verweisen kann, sie
überwinden zu wollen.
Nicht selten wird zur eigenen Entlastung - aber ja durchaus zu
Recht - auf die Defizite verwiesen, die Deutschland noch immer hat,
wenn es um die gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen
geht.
Ähnlichkeit mit unserem Status quo gibt es allerdings nur
dort, wo Frauen noch keine oder nur wenige Führungspositionen
in Wirtschaft und Gesellschaft eingenommen haben.
Aber jenseits unseres Verfassungsanspruchs liegt es eindeutig,
Frauen auf das häusliche Leben zu beschränken, sie von
öffentlicher Verantwortung fern zu halten, sie aus dem
öffentlichen Leben insgesamt auszuschließen oder sie
schließlich gar zum bloßen Anhängsel, zum Eigentum
des Mannes herabzuwürdigen, wie ich es im Jemen gerade erlebt
habe.
Dort und im Iran, wo vollständige Verhüllung erzwungen
wird, sind beispielsweise weibliche Richter unvorstellbar.
Vermutlich wird sich das im Iran aber schneller ändern als im
Jemen, aus vielen Gründen, einer davon ist, dass die
iranischen Frauen ein hohes Bildungsniveau haben, die jemenitischen
aber zu schätzungsweise 80 Prozent Analphabetinnen sind.
Diesen kurzen Erfahrungsbericht könnte man als
Schreckensszenario missverstehen. Tatsächlich zeigt es ein
unakzeptables Frauenbild, aber es zeigt vor allem sehr
unterschiedliche kulturelle Entwicklungsstände. Diese
unterschiedlichen Entwicklungsstände sind hier in Deutschland
anwesend.
Deshalb sollte unsere Entscheidung im Kopftuchstreit nicht ganz
außer Acht lassen, ob und wie sie auf diese verschiedenen
kulturellen Prägungen wirkt, sie sollte aber vor allem in
Rechung stellen, welche Auswirkungen sie für die Integration
dieser verschiedenen muslimischen Kulturen hat.
Da wir uns also laut Verfassungsgericht für wie gegen ein
Verbot des muslimischen Kopftuchs für Lehrerinnen in Schule
und Unterricht entscheiden können, da wir dabei nicht eine
endgültige Entscheidung treffen können, ob es sich um ein
religiöses Symbol oder gar eine Vorschrift handelt oder nicht,
was (ich wiederhole) im Islam selbst umstritten ist, und da wir
eine wie immer begründete Diskriminierung der Frau nicht
akzeptieren dürfen, müssen wir eine
Güterabwägung vornehmen zwischen der individuellen
Religionsfreiheit und der weltanschaulichen Neutralität der
Schule und der besonderen Verpflichtung von Beamten gegenüber
dem Grundgesetz.
Demnach sind folgende Alternativen denkbar:
1. Wer die hohe Bedeutung der Glaubensfreiheit betont und die
staatliche Neutralität im Sinne einer Kooperation in den
Vordergrund rückt und die Schule nicht als religionsfreien
Raum betrachtet, wird dem Islam Gleiches zubilligen wie dem
Christentum und für die grundsätzliche Zulassung eines
Kopftuchs votieren. Konkrete Schwierigkeiten wären im
Einzelfall disziplinarisch zu ahnden. Diese Position ist angesichts
der offensichtlichen Mehrdeutigkeit des Kopftuches
problematisch.
2. Wer das Kopftuch als sowohl politisch-gesellschaftliches Symbol
als auch als Ausdruck für eine Interpretation des Islam
betrachtet, das für eine Parallel- oder sogar eine
Gegengesellschaft zur westlich-demokratischen deutschen
Gesellschaft und gegen den säkularen Rechtsstaat steht, wird
sich auf das Argument stützen, dass das islamische Kopftuch im
Widerspruch zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes steht. Das
Kopftuch vermittelt in diesem Sinn die islamische Vorstellung von
einem niederen Rang der Frau. Ein Verbot eines solchen Symbols, das
eben mit dem grundgesetzlichen Gebot der Gleichberechtigung von
Frau und Mann nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, das
mithin die Diskriminierung verfestigt, wäre die notwendige
Konsequenz. Hinzu kommt, dass das gedeihliche Zusammenwirken in der
Schule, mithin der Schulfrieden gefährdet wäre. Die
Kinder und Jugendlichen in unserem Land sollen erzogen werden im
Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur
Duldsamkeit und zur Achtung der Überzeugung des anderen - ein
Lehrer muss im Unterricht diese Grundwerte der Verfassung glaubhaft
vermitteln können. Dem Staat ist es verwehrt, aus
vermeintlicher Toleranz auf diese persönlichen Anforderungen
an seine Lehrer zu verzichten. Er ist zur Erfüllung seines
Erziehungsauftrages auf Lehrer angewiesen, die sich vorbehalts- und
widerspruchsfrei zu unserer Verfassung und ihren Werten
bekennen.
Die Religionsfreiheit wäre durch ein solches Verbot meines
Erachtens schon deshalb nicht tangiert, weil es sich um eine
bloße Konkretisierung des besonderen Treueverhältnisses
von Beamten gegenüber dem Grundgesetz handelt. Folglich finde
ich den Vorschlag aus mehreren Bundesländern
(Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen) überzeugend, einem
entsprechend neutral formulierten Verbot einen Erlaubnisvorbehalt
hinzuzufügen. Die Formulierung für das Verbot lautet
vorläufig:
"... im Dienste keine Kleidung oder Zeichen [zu] tragen..., deren
objektiver Erklärungsgehalt zu den Grundwerten der Verfassung,
insbesondere der Menschenwürde sowie den Freiheits- und
Gleichheitsrechten, in Widerspruch steht und die geeignet sind, den
Schulfrieden zu beeinträchtigen..."
Verbot und Erlaubnisvorbehalt folgen aus einer möglichst
umfassenden Güterabwägung mit dem hohen Gut von Artikel 4
des Grundgesetzes, der Religionsfreiheit, und entsprechen der
Lebenswirklichkeit, die natürlich auch
Kopftuchträgerinnen kennt, die sich freiwillig dazu
entschließen und keine inkriminierten Absichten verfolgen.
Der Umstand, dass das Kopftuch objektiv eine politische Botschaft
vermittelt, nämlich ein bestimmtes Frauenbild, das mit Art. 3
GG nicht vereinbar ist, begründet das generelle Verbot. Der
Umstand, dass das Kopftuch subjektiv auch schlichter Ausdruck eines
individuellen religiösen Bekenntnisses und der
Zugehörigkeit zum Islam in seiner Vielfältigkeit sein
kann, begründet die Möglichkeit der Ausnahme.
Der Vorschlag kehrt die Beweislast um: Die Bewerberin muss zeigen,
dass sie auch mit Kopftuch grundgesetzkonform unterrichten wird.
Mit anderen Worten, von einer Lehrerin oder einer
Lehramtsbewerberin, die ihr Kopftuch aus religiösen Motiven
nicht ablegen möchte, kann wegen des mehrdeutigen und, wie
dargelegt, auch diskriminierenden Gehalts des Kopftuches verlangt
werden, glaubhaft zu machen, dass sie für unser Grundgesetz,
für Gleichberechtigung und Toleranz eintritt. Dabei muss ein
Verfahren gewählt werden, dem objektiv nachvollziehbare
Kriterien zugrunde liegen und das nicht in einer
"Gesinnungsprüfung" mündet. Damit sollte zudem
sichergestellt sein, dass keine Muslima gehindert ist, Beamtin zu
werden, wenn sie den beamtenrechtlichen Dienstpflichten nachkommt
und ihre Rechtstreue zweifelsfrei feststeht.
Der Vorwurf, dass ein Verbot eine Diskriminierung im Sinne des
Geschlechts (Artikel 14 der Europäischen
Menschenrechtskonvention) darstellt, ist - unabhängig von der
ja möglichen geschlechtsneutralen Ausgestaltung der
gesetzlichen Regelung - meines Erachtens nicht berechtigt. Das
Verbot zielt nicht auf die Zugehörigkeit zum weiblichen
Geschlecht, sondern dient dem legitimen Zweck der Beachtung der
Neutralität des staatlichen Unterrichts.
Gegen eine solche Regelung könnte weder der Vorwurf erhoben
werden, die Religionsfreiheit würde gefährdet, noch
könnten wir uns umgekehrt den Vorwurf machen, wir würden
unsere eigenen Verfassungsgebote und unsere eigenen Bemühungen
um die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter falsch
verstandener religiöser oder kultureller Toleranz
opfern.
Ich teile die Befürchtung nicht - den Wunsch schon gar nicht -
wir könnten uns damit auf einer Rutschbahn zum Laizismus
bewegen.
Mit einer solchen behutsamen Regelung vermeiden wir übrigens
auch eine Einmischung in den innerislamischen Streit, ob es sich um
ein strikt religiöses Symbol handelt und ob es als solches
für Musliminnen zwingend ist.
Eine solche Einmischung nämlich - nun zitiere ich noch einmal
Mark Siemons - würde die hoffnungsvollen kulturellen
Wandlungsprozess gefährden."… wenn sich staatliche
Gewalten anmaßten, 'Kulturen' und 'Identitäten' …
ein für allemal fixieren zu wollen und würde das als eine
"sich selbst erfüllende Prophezeiung die Konflikte erst
schüren, die sie zu lösen beanspruchte".
Religion ist keine Privatsache, sie gehört aus vielen
Gründen in die Öffentlichkeit. "Religionen gehören
wie die Künste, die Presse und die übrigen Gedanken zur
gesellschaftlichen Selbstbestimmung, die man nicht ungestraft
unterdrückt."
Im Kopftuchstreit haben wir mit der Schwierigkeit zu kämpfen,
dass sich hinter dem religiösen Motiv, ein Kopftuch zu tragen,
das politische Motiv verbirgt, die Diskriminierung der Frau zu
verfestigen statt sie aufzuheben. Diese Wahrnehmung ist solange
berechtigt, wie der Islam - bei den erwähnten Ausnahmen -
beansprucht, auch alleinige Richtschnur für Politik und Kultur
zu sein.
Gelöst werden kann diese Schwierigkeit nur durch
Mäßigung der Religion. Noch einmal aus dem
erwähnten Artikel: "Die demokratische Öffentlichkeit muss
fortwährend auf die Unterscheidung der Ebenen dringen, damit
politische Argumente politisch begründet werden und
religiöse religiös. Eine wie auch immer verschleierte
machtpolitische Ideologisierung der Religion darf kein
säkularer Staat dulden." Das heißt, wir müssen
angesichts des Kopftuchstreits aufpassen, dass wir in unserem
Bemühen um religiöse Toleranz nicht nachlassen, nicht
sogar wieder zurückfallen vor Lessing und in religiös
motivierte Machtkämpfe. Von unseren Mitbürgern und
Mitbürgerinnen islamischen Glaubens können und
müssen wir dieselbe Mäßigung der Religion erwarten
und ebenso dass sie sich den für alle gleichen
rechtsstaatlichen Regeln beugen.
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