Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, zur Eröffnung der Retrospektive "Gerhard Altenbourg ? Im Fluss der Zeit" am 2. April 2004 im Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Anrede,
nach so vielen Jahren wieder eine Gerhard-Altenbourg-Retrospektive
sehen zu können und dieses Mal sogar mit eröffnen zu
dürfen, das bewegt mich. Denn Gerhard Altenbourg ist auch ein
wenig Teil meiner intellektuellen Biographie. Sein Beispiel hat -
auf mitunter verschlungenen Wegen - auch mir Denkanstöße
vermittelt. Es hat ermutigt. Sein Beispiel hat gezeigt, dass das
trotzige Beharren auf künstlerischer und intellektueller
Freiheit, auf Individualität immer auch eine Sache der eigenen
Haltung ist, des eigenen Engagements. Die Verantwortung für
sich selbst kann man nicht delegieren.
Gerhard Altenbourg hatte schon lange vor 1989 einen beinahe
legendären Ruf in der kulturellen "Subkultur" - aus mindestens
zwei sehr respektablen Gründen. Erstens: Er war ein
Verweigerer, ein produktiver Verweigerer, der sich weder
ideologisch noch ästhetisch vereinnahmen ließ. Jemand,
der nicht bestechlich war. Ein Mann von verstörender,
bewundernswerter Unbeirrbarkeit!
Und zweitens: Altenbourgs Arbeiten, die man hier und da, aber viel
zu selten, zu Gesicht bekam, waren insulär, fremd, waren
einfach anders als das Übliche, das Gewohnte, das Verordnete.
Seine Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken irritierten
überkommene Sehgewohnheiten. Sie verweigerten sich dem
flüchtigen Blick, der routinierten Wahrnehmung. Und so etwas
darf man von Kunst ja erwarten: Dass sie ästhetisch gegen den
Strich bürstet, dass sie Erfahrungen sublimiert und
Rätsel aufgibt, dass sie unsere Phantasie herausfordert und
ihr auf die Sprünge hilft. Altenbourg hat genau das gekonnt:
Behutsam und sehr poetisch. Ohne zu agitieren, ohne zu belehren,
ohne zu verkünden.
In der Biographie Gerhard Altenbourgs spiegelt sich die Zeit- und
Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts - eines Jahrhunderts der
großen Umbrüche in Gesellschaft und Kultur, eines
Jahrhunderts schlimmer Verwerfungen, eines Jahrhunderts
enttäuschter Hoffnungen und Illusionen. Altenbourg wurde 1944
in Hitlers Armee einberufen und erlebte als 17-jähriger
Infanterist die Schrecken des mörderischen Krieges aus
unmittelbarer Nähe - Bomben, Zerstörung,
Verstümmelung, Tod, Hilflosigkeit, Erstarrung. Dieses Trauma
prägte wesentlich sein Menschenbild, sein künstlerisches
Ethos. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit verarbeitete er
später mit Hilfe der Kunst - in kleineren Texten und vor allem
in Zeichnungen.
Das Bildnis "Ecce homo I. Der Sterbende Krieger" von 1949
zählt für mich zu den eindrucksvollsten Zeugnissen dieser
Auseinandersetzung - auch und gerade mit eigener Verantwortung und
Schuld. Sie erreicht in dieser Darstellung eine glaubhafte,
existentielle Dimension. Altenbourg zeichnete den "Sterbenden
Krieger" auf ein Blatt, das er viele Jahre zuvor schon bekritzelt
hatte, noch als Schüler. Es sind naive Kinderzeichnungen, in
denen das kommende Unheil gleichwohl schon aufblitzt. Zu sehen ist
ein Truppenübungsplatz, darauf Soldaten mit Maschinengewehren,
einige Panzer, Geschütze. Und über dieser Landschaft
krümmt sich nun die malträtierte menschliche Gestalt,
Ecce homo ? der Sterbende Krieger.
Ich bin dankbar, dass diese eindrucksvolle Arbeit hier in Dresden
zu sehen ist, neben zwei weiteren Ecce-homo-Bildnissen von 1949 und
1950. Die Handschrift des Künstlers ist in diesen frühen
Arbeiten erkennbar, seine große Fähigkeit zur
Abstraktion tritt deutlich hervor. Und hinzu kommt, dass "Ecce
homo" - dieses biblische Motiv - ein hochaktuelles Thema ist, ein
zeitloses Sujet: Es verweist auf unsere eigene Gegenwart.
Die Nachkriegsjahre sind für Gerhard Altenbourg Jahre des
Studiums (Weimar), der Lektüre, des Schreibens, des
künstlerischen Ausprobierens, gleichwohl auch Jahre des
Einübens in Konflikte mit der Staatsmacht und des Abwehrens
fremder Erwartungen, die an ihn herangetragen werden. Ihn
interessiert die Moderne: Surrealismus, Dadaismus, Bauhaus, wichtig
sind ihm Grosz, Dix, Klee, Ernst, aber auch Chagall, Schiele, Wols
und andere. Sie sind Quelle der Anregung, sie dienen dem
Künstler als Material, als Projektions- und
Reibungsfläche. Altenbourg korrespondiert mit ihnen, kommt
aber zu anderen Ergebnissen. Denn er lebt und wirkt ja auch in
einer anderen "Erfahrungswelt" - und diese ist ihm wichtig.
"Erfahrungswelt" meint vor allem die Landschaften, die
natürlichen Räume, in denen er zu Hause ist, in denen er
sich auskennt. "Erfahrungswelt" meint aber auch jene Landschaften,
in die er sich hineindenkt, die er sich selber schafft - im Geiste
und im Bild.
Natur und Landschaft als Bereiche der Imagination - das ist ein
zentrales Thema seines Oeuvres, eine Konstante auf Jahrzehnte.
Figur und Landschaft vermischen sich, gehen ineinander über,
lösen sich ineinander auf. Die Vermenschlichung
landschaftlicher Formen - sie prägt das Landschaftsbild dieser
Kunst, sie macht ihren besonderen Reiz aus, sie öffnet den
Blick des Betrachters.
Gerhard Altenbourg geht künstlerisch einen sehr
eigenständigen und - im besten Sinne des Wortes -
eigenwilligen Weg. Und das mitten in Thüringen, also in
Distanz zu den Kunstzentren Leipzig, Halle, Berlin, Dresden. Und
die Distanz tut dieser Kunst offenbar auch sehr gut; es ist eine
produktive Distanz. Der Künstler knüpft an Traditionen
der europäischen Moderne an und entwickelte sie weiter -
ästhetisch und reflexiv, also auch in sprachgewaltigen
Bildern.
Altenbourg zählt zu den wenigen in Ostdeutschland
ansässigen Künstlern seiner Generation, die sich von
Beginn an konsequent dem Zeitgeist verweigern, den Kunst- und
Ideologie- Kampagnen trotzen, immun sind gegen neue
Glücksversprechen. Ein Solitär.
Den Sozialistischen Realismus mit all seinen Zumutungen, mit all
seinen Dogmen hält sich Altenbourg erfolgreich vom Halse.
Darin vergleichbar etwa dem etwas jüngeren Carlfriedrich Claus
oder dem sehr viel älteren Hermann Glöckner. Darin
vergleichbar auch seinem Freund, dem Lyriker Erich Arendt.
Altenbourg braucht keine offizielle Kunstdoktrin. Er lebt als
Unzeitgemäßer. Statt dem verordneten Realismus zu
frönen, entwirft er filigrane, schwer durchschaubare
Seelenlandschaften, denen demonstrative Dynamik fremd ist. Ironie
statt Optimismus, Experiment statt Regelwerk - das ist sein
Weg.
Auf dieses Kunstverständnis, auf diesen künstlerischen
Anspruch reagiert der offizielle Kulturbetrieb in der DDR mit
Missachtung, Ignoranz, Ausgrenzung. Altenbourg wird jahrzehntelang
überwacht und bespitzelt. Er ist allerlei Repressionen
ausgesetzt, wird wegen angeblicher Devisenvergehen verurteilt, mit
Gefängnis bedroht, mit Ausstellungsverboten belegt. Wer seine
Arbeiten in der DDR dennoch zeigen oder publizieren will, hat mit
Restriktionen zu rechnen - sein Verleger Lothar Lang wird
entlassen, Günter Ullmann aus seinem Museumsamt vertrieben
(wegen einer Ausstellung in Glauchau 1976). Auch dies gehört
zur Geschichte dieser Kunst. Ich finde es wichtig, an einem Tag wie
heute daran zu erinnern und die Couragierten zu würdigen, von
denen es in Altenbourgs Umfeld zu seinem und unserem Glück
einige gegeben hat. An erster Stelle zu nennen ist zweifellos seine
Schwester, Anneliese Ströch, die sich große Verdienste
um das Werk Altenbourgs erworben hat. Zu den Förderern und
Freunden in der DDR gehörte Werner Schmidt vom
Kupferstich-Kabinett Dresden, der die Sanktionen gegen Altenbourg
unterlief, gehörte Annegret Janda, die wohl beste Kennerin
seines Schaffens, und andere.
Zu nennen sind aber auch Altenbourgs Sammler in der alten
Bundesrepublik: Astrid und Wilfried Rugo, die die größte
Privatsammlung zusammengetragen haben, und Dieter Brusberg, der
schon 1964 Arbeiten von Gerhard Altenbourg in Hannover ausstellte
und dem Künstler zeitlebens verbunden blieb - als Galerist und
Freund. Dieter Brusberg ist es wesentlich zu verdanken, dass
Altenbourg im Westen bekannt wurde und geschätzt wurde, was
dazu führte, dass die angestrebte Isolation in der DDR ein
Stück weit ins Leere lief. Denn der Erfolg im Westen strahlte
auf die wache und interessierte Szene im Osten zurück.
Meine Damen und Herren,
ich finde es wunderbar, dass es diese Altenbourg-Retrospektive
gibt. Sie ist eine verdienstvolle Unternehmung, ein bemerkenswertes
Projekt. Bemerkenswert, weil gleich drei große
traditionsreiche Häuser sich dem künstlerischen Werk
Gerhard Altenbourgs verpflichtet fühlen und diese Ausstellung
gemeinsam auf den Weg gebracht haben: die Kunstsammlung NRW in
Düsseldorf, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die
Staatliche Graphische Sammlung München. Das hat ja durchaus
auch etwas Symbolisches: An den Künstler Altenbourg wird nicht
zweigeteilt erinnert, in Ost anders als in West oder nur hier und
nicht da, sondern eben gemeinsam. Einen ebenso fairen,
unaufgeregten Blick auf Kunst aus Ost und West, auf die
deutsch-deutsche Geschichte wünschte ich mir sehr viel
häufiger. Und so empfehle ich anderen Museen dieses
Ausstellungsprojekt als Modell: Kommt her, hier kann man etwas
lernen.
Vor allem aber wünsche ich mir, dass möglichst viele
junge Menschen diese Ausstellung sehen, sich mit dem Leben und der
Kunst Gerhard Altenbourgs beschäftigen - und zugleich etwas
über die jüngere deutsche Geschichte erfahren. Gerhard
Altenbourg zählt zu den bedeutendsten Künstlern seiner
Zeit - sein Werk darf nicht in Vergessenheit geraten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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