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Stand: 01.07.2004
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Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Vereidigung des Bundespräsidenten am 1. Juli 2004 im Deutschen Bundestag

Es gilt das gesprochene Wort


"Wir haben uns hier zur Vereidigung und Amtseinführung des neu gewählten Bundespräsidenten versammelt. Gleichzeitig wollen wir Johannes Rau danken, der nach fünf Jahren aus dem Amt ausscheidet - nach fünf überaus bewegten, schwierigen Jahren für unser Land und für die ganze Welt.

Als Johannes Rau am 1. Juli 1999 - übrigens noch im Bonner Plenarsaal - in sein Amt eingeführt wurde, da hielten wir die Jahrtausendwende für die bevorstehende große Zäsur. Wir konnten nicht wissen, dass uns Monate danach eine Zeitenwende ganz anderer Art einholen würde, unerwartet, brutal und heimtückisch: durch die menschenverachtenden Terroranschläge von New York und Washington. Sie stehen für eine neue Qualität von Hass und Gewalt, Angst und Unsicherheit - in den internationalen Beziehungen, aber auch im Alltag der Menschen, überall auf der Welt. Angesichts dieser neuen, unerwarteten Herausforderungen war es umso wichtiger, dass wir in Ihnen einen Bundespräsidenten hatten, der nicht nur den Menschen im Lande Orientierung und Halt gegeben hat, sondern der einen reichen Schatz an internationaler Erfahrung mitgebracht hat und der auch im Ausland hohes, ja höchstes Ansehen genießt.

Herr Bundespräsident, lieber Johannes Rau, dank Ihrer Offenheit, Sensibilität und Herzlichkeit hatten Sie bereits Freunde in aller Welt, als Sie das höchste Staatsamt angetreten haben. In den letzten fünf Jahren sind unzählige Zeichen von Respekt und Vertrauen hinzugekommen. Ich will nur zwei erwähnen, die herausragend waren: die Einladungen aus Israel und aus Polen, vor den Parlamenten beider Länder zu sprechen – eine Ehre, die Ihnen als erstem deutschen Politiker zuteil wurde und die Sie genutzt haben, das Vertrauen in unser Land zu stärken.

Die Beziehungen zu Israel und zu Polen werden wegen unserer schwierigen, belasteten Vergangenheit immer ganz besondere Beziehungen sein. Obwohl Sie sich dieser historischen Verantwortung bewusst waren, haben Sie die mutige Entscheidung getroffen, vor der Knesset in deutscher Sprache zu reden. Sie haben diesen mutigen Schritt damit begründet, dass es weniger darauf ankommt, in welcher Sprache man spricht, als darauf, was man sagt. Und Sie haben die richtigen Worte gefunden - in Israel, in Polen und in den vielen anderen Ländern, die Sie bereist haben.

In Polen waren Sie so oft wie in keinem andern Land, zuletzt am Vorabend der Osterweiterung der Europäischen Union. Es war richtig, dass der deutsche Bundespräsident in dieser historischen Stunde vor den polnischen Parlamentariern deutlich gemacht hat, dass uns die Pflege der deutsch-polnischen Beziehungen eine Herzensangelegenheit ist. Das ist sie auch für Johannes Rau ganz persönlich, der sich dem Motto Willy Brandts verpflichtet fühlt, dass wir ein Volk guter Nachbarn sein wollen. Es ist ein großartiger Beweis für die Kraft des europäischen Gedankens, dass Polen und Deutsche, Westeuropa und Osteuropa unter dem einen Dach der Europäischen Union vereint und freundschaftlich zusammenleben. Johannes Rau hat das in Polen als ein "Wunder" bezeichnet. Johannes Rau war kein Präsident diplomatischer Unverbindlichkeit. So wie er aus Überzeugung in Polen für gute Nachbarschaft warb, so mahnte er aus Überzeugung in China die Einhaltung der Menschenrechte an. Als Bundespräsident war er versöhnlich, aber nicht anbiedernd. Auch im eigenen Land hat er stets gesagt, was gesagt werden musste, auch wenn es unbequem war - ich denke etwa an seine öffentliche Rüge für die politisch Handelnden nach dem Scheitern des Zuwanderungsgesetzes. In Fragen, die ihm wichtig waren, hat er deutlich Position bezogen. Dazu hat er nicht zuletzt die alljährliche Berliner Rede genutzt, die von seinem Vorgänger Roman Herzog initiiert und von ihm selbst dann institutionalisiert wurde.

Die notwendige Überparteilichkeit dieses Bundespräsidenten, so wie Johannes Rau sie interpretiert hat, ist weit entfernt von Überzeugungslosigkeit. Alle Berliner Reden von Johannes Rau zeichnen sich dadurch aus, dass sie ausgewogen argumentieren, aber zugleich auch klar Position beziehen. Am frischesten dürfte uns allen noch seine letzte Mahnung in Erinnerung sein, dass wir Politiker uns stärker um Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Anstand bemühen sollten, um das Vertrauen der Bürger wiederzugewinnen.

Nachhaltige Wirkung hat gewiss auch seine große Rede zur Bio- und Gentechnik hinterlassen, in der er für mehr Behutsamkeit und Besonnenheit im Umgang mit den ethischen Problemen der wissenschaftlichen Forschung plädierte, für einen Fortschritt nach menschlichem Maß eintrat - aus einer religiös fundierten Ehrfurcht vor der menschlichen Würde heraus. Denn für Johannes Rau war Politik nie von den Werten zu trennen, die er für sein Leben und für den Zusammenhalt der Gesellschaft für unersetzlich hält. Schon in seiner Antrittsrede hat er keinen Hehl daraus gemacht, dass der christliche Glaube das Fundament ist, auf dem seine politischen Überzeugungen ruhen. Wer Stoff für’s Nachdenken, wer Wegweisung sucht, der lese Johannes Raus Berliner Reden nach!

Johannes Rau war ein ausgesprochen fleißiger Präsident. Rund 900 Besuchstermine im In- und Ausland hat er während seiner Amtszeit absolviert, über 700 Reden gehalten, tausende von Briefen geschrieben, unzählige Gespräche mit den Bürgern geführt - ein immenses Arbeitspensum, eine stolze Bilanz! Doch Zahlen sagen nur wenig darüber aus, was der scheidende Bundespräsident geleistet und bewirkt hat: Sie sagen nicht, wie vielen Menschen er Mut gemacht hat, wie vielen er Vertrauen in unseren Staat und unsere Demokratie geschenkt hat, wie vielen er neue Sichtweisen eröffnet hat. In Zeiten der lauten Töne, der aggressiven Häme ist er durchs Land gereist, hat Menschen zugehört und sie das Zuhören gelehrt. Er hat seine beneidenswerte Gabe, ein Menschenfischer zu sein, dazu verwandt, ein guter Botschafter der Bürgergesellschaft zu werden, mit Humor, mit Seele, mit Empathie für die Menschen und ihre Ängste und Hoffnungen.

Den Zusammenhalt der Menschen, ihr Zusammenleben zu sichern und zu fördern - in Zeiten politischer Trennung und nach Überwindung der deutschen und europäischen Spaltung - das war und ist ein lebensprägendes Motiv Johannes Raus. Seine politische Laufbahn begann in den fünfziger Jahren. Damals trat er in die Gesamtdeutsche Volkspartei Gustav Heinemanns ein, weil er davon überzeugt war, dass wir uns nicht mit der deutschen Teilung abfinden dürften. Auch in den späteren Jahren - als SPD-Abgeordneter im Landtag, als Wissenschaftsminister und schließlich als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen - hielt er an diesem Ziel fest und reiste immer wieder nach Ostdeutschland. Ganz offenbar haben die Ostdeutschen das nicht vergessen, und sie haben das persönliche Interesse dieses Bundespräsidenten an ihren Sorgen und Problemen gespürt. Johannes Rau hat jedenfalls die Zustimmung von mehr als zwei Dritteln aller Ostdeutschen - in diesem Fall bin ich gerne bereit, den Ergebnissen von Meinungsumfragen zu glauben.

Seinen Anspruch, Präsident aller Deutschen zu sein und den Zusammenhalt von Ost und West zu stärken, hat der scheidende Bundespräsident in unzähligen Besuchen und Gesprächen mit den Menschen in Ost und West eingelöst. Damit hat er nicht zuletzt auch gezeigt, dass sich die Eignung zu diesem Amt nicht in der Erfüllung bestimmter formaler Kriterien wie Mann oder Frau, Ostdeutscher oder Westdeutscher - erweist, sondern vor allem in der Persönlichkeit und den Leistungen des jeweiligen Amtsinhabers.

Herr Bundespräsident, verehrter Johannes Rau, mit Ihnen hatten die Menschen in Deutschland einen Präsidenten, der die Lebenserfahrung und die Glaubwürdigkeit hatte, "moralische Instanz" zu sein. Sie konnten in schwieriger Zeit Rat und Orientierung, Zuspruch und Zuversicht geben, denn Sie vereinen in sich in glücklicher Weise politische Erfahrung, Lebensklugheit und Menschenfreundlichkeit.

Ihre Fähigkeiten und Gaben haben nicht nur anderen Menschen Vertrauen eingeflößt, sondern auch Ihnen persönlich geholfen, schwierige Zeiten durchzustehen. Ich will hier nicht von Krankheit und anderen Schicksalsschlägen reden - auch die haben Sie zu überwinden und zu verkraften gehabt. Ich will daran erinnern, dass Ihnen - auch das ein Ausdruck der veränderten Stimmung im Lande - die Zeit Ihrer Kandidatur und Amtsübernahme von einer skandalsüchtigen Öffentlichkeit nicht leicht gemacht worden ist. Ich halte es auch im Rückblick für einen beispiellosen und bedenklichen Vorgang, dass einige Medien nicht einmal mehr vor der Würde des höchsten Staatsamtes Halt gemacht haben. Aber Sie haben diejenigen, die Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit eher abschätzig behandelt haben, auf überzeugende Weise widerlegt, auf eine Weise, die Ihnen die überwältigende Zustimmung der Bürger unseres Landes eingebracht hat.

So hat Johannes Rau auch die schwierigen Seiten dieses gewiss schönen Amtes erlebt und erfahren. Zwischen dem in unserer Mediengesellschaft immer stärker werdenden Zwang zur Unterhaltung und dem unausweichlichen Ernst der Politik besteht ein Zwiespalt, der den Bundespräsidenten, der doch vor allem über das gesprochene Wort wirkt, in besonderer Weise betrifft. Wie soll, wie kann er sich Gehör verschaffen, wenn auf fast vierzig Kanälen rund um die Uhr geredet wird? Wie soll er Gedankentiefe weitergeben, wo alles auf oberflächliche Zerstreuung ausgerichtet ist? Johannes Rau hat sich diesem Dilemma auf eine für ihn typische Art und Weise entzogen: indem er nicht auf Kameras, sondern auf Menschen zuging. Wie oft ist gerade diese seiner Fähigkeiten, auf Menschen zuzugehen, beschrieben und bewundert worden! Die Nähe zu den Menschen war ihm ein Bedürfnis, und es war ihm ernst mit dem Diktum Hannah Arendts, Politik sei angewandte Liebe zur Welt. Den scheidenden Bundespräsidenten hat immer die Frage bewegt, welches Bild vom Menschen und welches Bild vom menschlichen Zusammenleben wir haben und vermitteln.

Das Wohl der Menschen gilt ihm als der Maßstab, an dem Politik sich zu orientieren hat. In seiner Antrittsrede hat er gemahnt, diesen Maßstab auch anzulegen, wenn es um die große politische Gestaltungsaufgabe der Gegenwart geht, die Globalisierung. Die entscheidenden Fragen dabei waren für ihn, wie privates Wirtschaften und öffentliche Verantwortung im Interesse aller in ein neues Gleichgewicht gebracht werden könnten und wie das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bei uns zu Hause und auf unserem Globus gelöst werden solle.

Mit Sorge beobachtet er, dass gewachsene Werte an Verbindlichkeit, bewährte Institutionen an Bindekraft verlieren und jeder von allem den Preis kenne und von nichts mehr den Wert. So hat Johannes Rau davor gewarnt, über dem Streben nach wirtschaftlichem Erfolg nicht den Wert von Solidarität für den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu unterschätzen. Deshalb verteidigte er vehement die Schutzfunktion des Staates und das Modell des europäischen Sozialstaates. Diese Haltung, so kommentierte der "Rheinische Merkur", sei so anachronistisch, dass sie schon wieder anarchisch wirke. Ich bin sicher, dass nicht diese Haltung anachronistisch ist, sondern dass allenfalls die tiefe und ehrliche Überzeugung so wirkt, mit der Johannes Rau sie vertritt. Dann wäre die Eigenschaft "anachronistisch" allerdings eine Auszeichnung. Ich bin jedenfalls sicher, sehr geehrter Herr Rau, dass dieses Thema, das Sie so bewegt hat, noch lange über Ihre Amtszeit hinaus aktuell bleibt. Eine andere Aufgabe, für die Sie sich sehr engagiert haben, ist ebenfalls noch nicht gelöst: Zuwanderung und Integration, das Thema Ihrer ersten Berliner Rede. Es ist leider nicht mehr gelungen, vor Ablauf Ihrer Amtszeit das Zuwanderungsgesetz zu beschließen. Wir alle wissen, dass Sie es gerne noch selbst unterzeichnet hätten.

In vielen Gesten haben Sie gezeigt, wie gern Sie dieses Amt ausgeübt haben - weil Sie darin mehr bewirken und gestalten konnten, als man dem Amt gemeinhin zuschreibt. Verehrter Johannes Rau, wir haben es bemerkt: Das Amt hat Sie ausgefüllt und Sie haben das Amt ausgefüllt - als ein wirklicher Bürgerpräsident!

Vor kurzem haben Sie erzählt, Sie läsen von Verfassungsrechtlern, dieses Amt sei "ärmlich" ausgestattet – dabei hätten Sie selbst es als eine überaus reiche Erfahrung erlebt. Auch für uns Deutsche war - das darf ich wohl im Namen aller sagen - die Amtszeit von Johannes Rau eine Bereicherung.

Viel dazu beigetragen hat seine Frau Christina, die mit Johannes Rau gemeinsam unser Land stets mit der gebotenen Würde, aber auch mit der ihr eigenen frischen und herzlichen Art vertreten hat. Wie es inzwischen gute Tradition ist, verehrte Frau Rau, haben Sie Ihre bis dahin geübte Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit aufgegeben und sich dankenswerter Weise für viele gute Zwecke eingesetzt - besonders vehement für die Kinder- und Jugendarbeit.

Sehr geehrter Herr Rau, verehrte Frau Rau, wir danken Ihnen von Herzen für alles, was Sie für unser Land, für die Demokratie und für die Menschen getan haben und wünschen Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute.

Sehr geehrter Herr Köhler, heute übernehmen Sie das höchste deutsche Staatsamt, in das Sie die Bundesversammlung am 23. Mai gewählt hat. Jede Persönlichkeit, die dieses Amt innehat, führt es auf ihre individuelle Art und Weise. Ein solcher Wechsel des Amtsinhabers ist daher immer ein Neuanfang, doch vielleicht ist er es heute in besonderem Maße. Der scheidende und der neu gewählte Bundespräsident kommen aus verschiedenen Berufen, Traditionen, Generationen. Was das für die kommende Amtsperiode bedeutet, können wir naturgemäß noch nicht absehen. Auch habe ich Ihnen heute noch keine Laudatio zu halten. Doch möchte ich Ihnen sagen, wie sehr wir gespannt sind, wie Sie die Herausforderungen meistern, die mit diesem Amt verbunden sind, wie groß auch die Erwartungen. Deshalb wünscht das Deutsche Parlament Ihnen gutes Gelingen und eine glückliche Hand und ich wünsche Ihnen für Ihre große Aufgabe viel Kraft und Klugheit und Gottes Segen."

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Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2004/pz_040701
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