Verständnis, aber keine Zustimmung
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse äußerte in
der "Bild am Sonntag" Verständnis für die Motive der
angekündigten Demonstrationen, aber keine Zustimmung. Den
Vorwurf, das Land in Ost und West zu spalten, weist er zudem als
absurd zurück.
"Die Verunsicherung aufgrund der Arbeitsmarktreformen ist deutlich
zu spüren, vor allem in Ostdeutschland, und die Menschen
formulieren ihre Sorgen in friedlichen Protesten. Aber die
Demonstranten dürfen sich der gesellschaftlichen Realität
nicht verschließen. Sie müssen wissen, dass an den
Reformen kein Weg vorbei führt, damit Arbeitslose endlich
wieder eine Chance bekommen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden",
stellt Thierse noch einmal klar.
"1989 richteten sich die Montags-Demonstrationen gegen eine
politische Führung, die sich der Wirklichkeit verweigerte.
Heute sind diejenigen, die zu neuen Montags-Demonstrationen
aufrufen, in der Gefahr, sich aus Angst vor Veränderungen
selbst der Wirklichkeit zu verweigern. Sozialstaatsreformen bleiben
um unserer Zukunft Willen notwendig, an dieser Tatsache können
auch Montags-Demonstrationen nichts ändern", erklärt
Thierse.
Da in den vergangenen Tagen Thierses Kommentar in der "Bild am
Sonntag" oft verkürzt dargestellt wurde, wird der Text noch
einmal wiedergegeben:
15 Jahre nach dem Fall der Mauer protestieren Ostdeutsche wieder
bei Montagsdemos - wegen der großen Arbeitsmarktreform. Ich
habe dafür Verständnis. Die Menschen in Ostdeutschland
haben ein anderes, tiefer gehendes Gerechtigkeitsbedürfnis als
ihre Mitbürger im Westen. Mit friedlichem Massenprotest haben
viele von ihnen schon einmal gute Erfahrungen gemacht, als sie das
DDR-Regime stürzten.
Diese Erfahrung unterscheidet die Menschen in den neuen und alten
Ländern. Die Montagsdemos bedeuten nicht, dass sich ein neuer
Graben zwischen "Ossis" und "Wessis" auftut. Solche unsinnigen
Erklärungsversuche sollten wir uns nicht aufdrängen
lassen. Das Gegenteil ist richtig. Die Menschen in Ost und West
eint eine Verunsicherung: Sie fürchten die Folgen, wenn nicht
mehr alle Ansprüche gegen die Solidargemeinschaft wie gewohnt
befriedigt werden können.
Nur Unmenschen verstehen diese Sorgen nicht - aber sie sind oft
übertrieben und unbegründet. Außerdem: Was
wäre die Alternative? Noch höhere Sozialbeiträge?
Noch teurere Arbeitsplätze? Sollen wir weiter tatenlos
zusehen, wie immer mehr Menschen in Dauerarbeitslosigkeit absinken?
Das kann auch für politisch Linke und für "Ossis" keine
Lösung sein. Die Politik hat die Reformen beschlossen, und die
Wirtschaft wächst wieder. Jetzt sind die Unternehmen dran. Ich
appelliere an alle in der Wirtschaft: Nehmt eure gesellschaftliche
Verantwortung wahr und schafft Arbeitsplätze! Jeder einzelne
zählt.
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