Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, anlässlich USA-Reise September 2004
Es gilt das gesprochene Wort
Im November vor 15 Jahren begann mit der Öffnung der Mauer in
Berlin die deutsche Einheit. Wer die Ereignisse in den Monaten nach
dem 9. November 1989 verfolgt hat, wird sich dankbar daran
erinnern, wie rasch und entschlossen der damalige Präsident
Bush geholfen hat, dass die staatliche Einheit Wirklichkeit werden
konnte. Ich empfinde die deutsche Einheit noch immer als ein
großes Glück. Den größten Teil meines Lebens
habe ich verzichten müssen: auf die Freiheit, auf die
Möglichkeit zur öffentlichen Rede, auf das Recht, jedes
Buch, das ich lesen wollte lesen zu dürfen.
Seither wurde aber auch über wirtschaftliche und
haushalterische Probleme Deutschlands geklagt und gewitzelt. Manche
haben sich auch ehrlich gesorgt. Regelmäßig
übersehen wurde dabei, dass unser Land plötzlich 16,4
Millionen Einwohner mehr zu versorgen hatte. Die hatten bis dahin
nichts in die sozialen Systeme einzahlen und nichts zum
Steueraufkommen beitragen können. Die DDR hatte uns nicht nur
hinter einer Mauer eingesperrt, sie hatte auch eine unheilvolle
Wirtschaftspolitik betrieben, die ihre ökonomische Substanz
aufzehrte. Vermutlich hätte auch eine langsamere und
sorgfältigere Vereinigung der beiden so verschiedenen
deutschen Staaten nur zum Teil verhindern können, was dann
geschah: Zusammenbrüche fast aller großen
Industriebetriebe, radikaler Abbau der Forschungskapazitäten
und entsprechend schnell steigende Arbeitslosigkeit. Natürlich
laborieren wir 15 Jahre später immer noch an den Folgen des
fast vollständigen Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft.
Die Arbeitslosigkeit ist mehr als doppelt so hoch als im Westen und
beträgt fast 20%. In Westdeutschland liegt sie im Schnitt
deutlich unter 10% und nur in einer Region höher als 15 %.
Über eine Million Menschen haben Ostdeutschland seit 1989
verlassen.
Aber wir waren natürlich nicht untätig. Es gibt in diesem
Teil Deutschlands inzwischen eine ganze Reihe von Wachstumszentren:
Chemie; Computertechnik, Werften, Optische Industrie, Autoindustrie
und Nahrungsmittelindustrie sind auf einem sehr guten Weg in Halle,
Leipzig, Dresden, Jena, Rostock, Eisenach und rund um Berlin. Die
Universitäten in Ostdeutschland haben ihren guten Ruf wieder
hergestellt; öffentliche Forschungseinrichtungen erweisen sich
als Wachstumsmotoren. Die jetzige Bundesregierung hat verstanden,
dass sie diese Wachstumskerne unterstützen muss, wenn
Ostdeutschland eine Zukunft haben soll.
Die Transformation von einer kommunistischen Kommandowirtschaft mit
schwindender Substanz in eine funktionierende, freie und soziale
Marktwirtschaft bei politischer Stabilität ist aufwendig,
Kräfte zehrend und teuer. Freiheit ist eben nicht umsonst zu
haben. Aber ich bin sicher, dass dieser Aufwand sich nach weiteren
15 Jahren auch ökonomisch auszahlen wird.
Das Glück der deutschen Einheit und diese Anstrengungen und
Aufregungen haben einen Reformstau in den Hintergrund
gedrängt, der in Wirklichkeit schon Anfang der 90er Jahre in
Westdeutschland diagnostiziert war. So mussten sich die
Ostdeutschen ironischerweise an ein System anpassen, dass selbst in
hohem Maße veränderungsbedürftig war. Erst die
heutige Bundesregierung leitete die Veränderungen ein, die
schon 1990 dringend geboten waren.
Nach dem Regierungswechsel 1998 aber hatte sich die neue politische
Mehrheit, die einen pazifistischen oder doch friedensbewegten
philosophischen Hintergrund hat, zunächst auf neue,
widersprüchliche außenpolitische Herausforderungen
einzustellen. Nach dem Zusammenbruch der alten, bipolaren
Weltordnung erwiesen sich die Probleme auf dem Balkan, die sich
gewalttätig entluden, als nicht mehr nur mit diplomatischen
und ökonomischen Mitteln lösbar. Um einen bereits
ausbrechenden Völkermord zu verhindern, brauchten wir
militärische Gewalt, brauchten wir die Hilfe und
Entschlossenheit der USA. Die NATO und die deutsche Bundeswehr
wurden vor eine neue Aufgabe gestellt: Frieden, zumindest das Ende
von Gewalt militärisch, also durch Gewaltanwendung zu
erzwingen. Heute noch befinden sich tausende deutsche und andere
europäische Soldaten in Bosnien-Herzegowina und in Mazedonien,
um den damals gewonnen Frieden zu sichern, rassistische oder
einfach kriminelle Banden zu entwaffnen und eine zivile Entwicklung
zu ermöglichen.
Seither haben wir die Umgestaltung der Bundeswehr vorangetrieben,
die schon von der Vorgängerregierung eingeleitet worden war.
Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Deutschland im
wiedervereinigten Europa von Freunden umzingelt ist und eine
klassische Landesverteidigung nicht mehr benötigt. Aber
angesichts unserer Wirtschaftskraft, unserer mittleren
Größe und unserer Stellung in Europa, vor allem
angesichts der mit der Einheit und dem 2+4-Vertrag wieder
gewonnenen vollen Souveränität fällt uns
internationale Verantwortung zu. Darauf mussten wir uns politisch
UND militärisch einstellen. Natürlich finden wir es
angenehm, dass die internationale Staatengemeinschaft diese
Anstrengung lobt und anerkennt, nicht zuletzt wegen unseres
großen Engagements in Afghanistan.
Derzeit ist Deutschland das Land, das - nach den USA - die meisten
Soldaten in friedenssichernden Einsätzen in die Welt hinaus
geschickt hat.
Man hat mir gesagt, Sie, verehrte Zuhörer, würden von mir
erwarten, dass ich auch zur deutsch-amerikanischen Kontroverse
über den Irak-Krieg spreche. Ich gestehe: dazu habe ich gar
keine Lust. Die Kontroverse ist vorüber und der Umstand, dass
ich der erste deutsche Parlamentspräsident seit 30 Jahren bin,
der von seinem amerikanischen Kollegen zu einem offiziellen Besuch
eingeladen ist, zeigt, das wir in unserem bilateralen
Verhältnis längst wieder auf einem guten Weg sind. Viele
Skeptiker und Kritiker im "alten Europa" sehen sich allerdings
durch den Gang der Ereignisse bestätigt. 11000 Menschen seien
im Irak nach Beendigung der Kriegshandlungen ums Leben gekommen,
meldeten die Medien im Sommer. Welchen Sinn, welchen Zweck hat
dieser vieltausendfache Tod? Mein Mitgefühl gehört den
Eltern, Geschwistern und Lebenspartnern der jungen Amerikaner, die
dort ihr Leben ließen oder dort immer noch in großer
Gefahr schweben.
Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika sind ungeachtet
der überstandenen und zu den Akten gelegten Kontroverse
über den Irak-Krieg fest miteinander verbunden gegen den
neuartigen, international operierenden und fundamentalistisch
motivierten Terrorismus. In Deutschland mobilisierten die
Anschläge vom 11. September 2001 großes Mitgefühl,
Solidarität und Trauer. Mit den USA besteht eben eine
über 50jährige transatlantische Freundschaft. Allerdings
wurde der 11. 9. nicht als Angelegenheit allein der USA betrachtet.
Sowohl der Verstand als auch das Gefühl sagten uns: dieser
Terror zielt auf alle, die für Freiheit, Demokratie und
Menschenrechte eintreten und auf der Basis dieser Werte leben
wollen. Hier sind Deutsche und Amerikaner ein Herz und eine
Seele.
Aus aktuellem Anlass muss ich ein Wort zu Russland sagen.
Höhepunkt einer ganzen Serie terroristischer Verbrechen war
die Geiselnahme einer ganzen Schule vor einer Woche, der über
400 Kinder und Eltern zum Opfer gefallen sind. Entsetzen, Trauer
und Mitgefühl in aller Welt sind groß, und auch wenn in
der deutschen Öffentlichkeit die Kritik an den russischen
Demokratiedefiziten nicht nachlässt, zeigt das, wie notwendig
die internationale Zusammenarbeit beim Kampf gegen den Terrorismus
ist. Das ist nicht nur eine Frage der Vernunft. Es ist auch eine
Frage mitmenschlichen Empfindens für die Opfer des
Terrorismus.
Wir arbeiten in Deutschland konzentriert und wachsam gegen den
Terrorismus, lassen uns dabei aber unsere Freiheit, die Freude am
Leben und Arbeiten nicht nehmen. Die Terrorismusabwehr ist eine
Selbstverständlichkeit und wird nicht parteipolitisch
ausgebeutet. Wir bündeln die Kräfte unserer Geheimdienste
und arbeiten eng mit den USA zusammen.
Gemeinsam begrüßen Regierung und Opposition in
Deutschland den aktuellen Zugewinn an Respekt und Autorität
für die Vereinten Nationen. Immer, wenn es gelingt, dass sich
die Völkerfamilie auf gemeinsames Handeln verständigt -
sei es im Kampf gegen Aids, gegen Hunger und Elend in der Welt, sei
es zur Lösung oder wenigstens zur Deeskalation schwieriger
Konflikte in der Welt - ist das ganz nach unseren deutschen und
europäischen Wünschen.
Es ist keine Übertreibung, wenn gesagt wird, in Deutschland
seien alle der Meinung, jeder Einzelne wie jedes Land müsse
sich gleichermaßen an die gemeinsamen Regeln halten, einer
gemeinsamen Gerichtsbarkeit unterliegen und es dürfe kein
Recht des Stärkeren geben. Auf Dauer halten wir dann am besten
zusammen, wenn wir aufeinander hören. Wir bewahren die
Schöpfung nur dann für die zukünftigen Generationen,
wenn wir unsere Umwelt gemeinsam schützen.
Wenn jemand plötzlich einen anderen Weg einschlägt,
bloß, weil er nicht daran gehindert werden kann, dürfen
Kritik und Irritationen nicht verwundern.
Ich füge hinzu: der Mächtigste bleibt doch auch dann der
Mächtigste, wenn er sich selbst an die Regeln hält und
wenn er sich selbst der Institutionen bedient, zu deren Initiatoren
und Mitbegründern die USA gehören. In diesem Rahmen und
mit diesem Verständnis sucht Deutschland heute seine Rolle in
der Welt und bietet an, größere Verantwortung zu
übernehmen. Die VN haben eine Agenda für das 21.
Jahrhundert erarbeitet und beschlossen, die Frieden sichern, Hunger
und Elend zurückdrängen, die natürlichen
Lebensgrundlagen bewahren und Seuchen - allen voran AIDS -
bekämpfen soll. Wenn wir, also die reichen Industrienationen,
USA, Europa, Japan, uns auf diese globalen Aufgaben konzentrieren
und weitere Verbündete etwa Russland und China dafür
gewinnen brauchen wir in Zukunft keinen "clash of civilisations" zu
befürchten, weil es - wenn noch nicht gerecht, so doch
wenigstens fair - zu gehen würde in der Welt.
Fundamentalistische Fanatiker, die jetzt noch in manchen
Gesellschaften frei agieren können, wie die Fische im Wasser,
würden überall isoliert werden. Stellen wir uns dieser
Aufgabe nicht, werden wir in unserem Kampf gegen den Terror immer
nur Erfolge gegen Terroristen, aber keinen Erfolg gegen den
Terrorismus erzielen.
In den deutschen, aber auch einigen internationalen Medien war im
Juli zu lesen, die Deutschen strebten nun mit Nachdruck und Ehrgeiz
einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat an. Es geht
Deutschland um diese Agenda der VN und um die Unterstützung
der Reformen der VN, die diese besser auf die genannten Aufgaben
vorbereiten sollen. Es geht um die Sache und nicht um Prestige.
Für diese Sache wollen wir Verantwortung übernehmen. Und
nur dann, wenn auch der Sicherheitsrat sich in diesen
Zusammenhängen ändern würde und die
Völkerfamilie sagen würde, auch Deutschland solle dabei
sein, wird die Frage eines ständigen Sitzes aktuell.
Was heute den "Westen" ausmacht, ist ohne die französische und
die nordamerikanische Revolution überhaupt nicht vorstellbar.
Von den heutigen demokratischen Nationen in Europa haben die
Deutschen einen besonders langen Weg nach Westen genommen. Heute
sind wir glücklich, dort angekommen zu sein, scheinen
gelegentlich etwas verzagt angesichts der ökonomischen
Wandlungsprozesse, denen dieser Westen sich unterzieht, sind aber
entschlossen, an den Werten und den durch sie geprägten
Lebensstilen fest zu halten. Gelernt haben wir das weniger von
unseren eigenen Dichtern und Denkern als viel mehr erst nach den
Verbrechen Nazideutschlands von den USA. Das bleibt unvergessen.
Entsprechend groß ist die Faszination, die die USA auch auf
die junge deutsche Generation ausüben. Verschiedene
große deutsche Stiftungen, der German Marshall-Fund und
übrigens auch der Deutsche Bundestag im Zusammenwirken mit dem
US-Kongress organisieren erfolgreich den Austausch junger
Schüler, Studenten und Berufstätiger zwischen unseren
Ländern.
Unsere politische Kultur in Deutschland ist eine Kultur des
Aushandelns, der Suche nach Kompromissen und Verständigung.
Wir glauben, mit dieser Erfahrung unsere Verantwortung für
Sicherheit und Gerechtigkeit in der Welt wahrnehmen zu können.
Der politische Alltag in der Europäischen Union bestätigt
uns darin. Nicht machtbewusste Durchsetzungsstrategien sichern den
Erfolg der EU, sondern die Fähigkeit, im eigenen Kopf auch
Platz für die Interessen, Argumente und Gefühle der
Partner zu haben.
In Europa wird immer wieder gern ein angeblicher Ausspruch eines
früheren, deutschstämmigen US-Außenministers
zitiert, der die eine Telefonnummer Europas wissen wollte. Ich
zweifle ein wenig daran, dass es den USA heute so unwillkommen ist,
mehrere Telefonnummern wählen zu müssen, um die Stimme
Europas zu erfassen. Aber ich zweifle überhaupt nicht daran,
dass diese kleine Schwierigkeit Ausdruck des besonderen Reichtums
Europas ist.
Im nächsten Jahr wird das Ende des zweiten Weltkrieges sich
zum 60. Mal jähren; eine kurze Zeit für den unglaublichen
Wandel von einem zerrissenen und untereinander befeindeten
Kontinent über die Jahrzehnte der Teilung Europas zu einer
Union von 25 Staaten. Die sind entschlossen, den Frieden zu
bewahren und in einer gemeinsamen demokratischen und
marktwirtschaftlichen Ordnung wirtschaftlichen Erfolg zu
gewährleisten.
Der nächste Schritt soll die Ratifizierung eines gemeinsamen
Verfassungsvertrages sein, der nicht nur diese Ziele formuliert,
sondern die europäischen Entscheidungsverfahren strafft.
Europa ist schon jetzt ein einheitlicher Markt mit vielen
einheitlichen Wettbewerbsregeln, der größer ist als der
der USA. Wir wollen und werden daneben aber die kulturelle und
sprachliche Vielfalt Europas pflegen, die unterschiedlichen Talente
und regionalen Besonderheiten entfalten und für ein hohes
Maß an sozialer Sicherheit in Europa sorgen.
Europa wird sich auch in Zukunft über die Mittel und Wege
streiten. Aber gerade dadurch werden wir immer wieder neue,
überraschende und konstruktive Lösungen finden.
Es ist so, dass die Reform des europäischen Sozialstaates uns
zurzeit in Deutschland politische Turbulenzen beschert. Die
Organisation gesellschaftlicher Solidarität, des Einstehens
der Starken für die Schwachen, der Gesunden für die
Kranken und der jungen, arbeitenden Generationen für die
älteren Rentnerinnen und Rentner ist ein besonderes
Kennzeichen Europas, die vielleicht wichtigste Kulturleistung, die
den Kontinent von anderen unterscheidet. Die dazu notwendigen
Umverteilungssysteme sind allerdings in verschiedenen Staaten
unterschiedlich organisiert, und einige haben die Reformen schon
früher in die Wege geleitet als andere. Deutschland ist
spät dran, aber jetzt auf einem guten Weg.
Ich will Ihre Aufmerksamkeit noch ein wenig strapazieren, um zu
berichten, was sich auf diesem Feld zurzeit abspielt. Konservativ
gesonnene Menschen freuen sich ja schon, weil sie die jetzige
Bundesregierung kurz vor der Ablösung sehen. Es könnte
sehr gut sein, dass manche sich zu früh freuen.
Mit dem weltweiten Einbruch der hochgejubelten "new economy" sind
die offenbar übertriebenen Wachstumshoffnungen der 90er Jahre
zerplatzt und das Erfolgsrezept deutscher Politik, Probleme des
Sozialstaates durch entsprechende Verwendung der alljährlichen
ökonomischen Zuwächse zu lösen, ist nicht mehr
anwendbar. Das allein wäre noch kein Grund zur Reform des
Sozialstaates gewesen. Es liegt in dessen Natur, finanzielle
Polster anzusetzen, wenn das Wachstum hoch und die Arbeitslosigkeit
niedrig ist, und finanzielle Engpässe zu erleiden, wenn das
Wachstum ausbleibt und die Arbeitslosigkeit steigt.
Tatsächlich haben wir ein ganzes Bündel von Problemen zu
lösen, nicht zuletzt, weil wir sonst der Konkurrenz mancher
EU-Staaten nicht auf Dauer Stand halten könnten: der
demografische Wandel, der sowohl die Renten als auch das
Gesundheitswesen unbezahlbar zu machen droht; eines der teuersten
und zugleich uneffektivsten Systeme der Arbeitsmarktpolitik, die
sehr hohe Staatsverschuldung, die die Handlungsspielräume des
Staates bedroht und der Druck der Globalisierung nicht zuletzt auf
die Unternehmenskosten.
Die Generation der hier so genannten "Baby boomer" hat selbst nur
noch wenige Kinder bekommen, steht nun aber selbst kurz vor dem
Rentenalter. Dieser demografische Wandel stellt insbesondere das
System der Rentenfinanzierung in Frage. Selbst, wenn die
nächste Generation wieder mehr Kinder in die Welt setzen
würde, wären für einige Jahrzehnte zu wenig
erwerbsfähige Personen vorhanden, um mit ihren Beiträgen
die Renten der relativ zahlreichen Älteren mit ihrer deutlich
gestiegenen Lebenserwartung zu finanzieren.
Von gleichem Gewicht ist der Globalisierungsdruck auf die Höhe
der Löhne und auf die Rechte, die sich die abhängig
Beschäftigten während 150 Jahren der Industrialisierung
in Europa erstritten haben.
Spezifisch in Deutschland hat sich ein sehr teures System der
aktiven Arbeitsmarktpolitik entwickelt, dessen Scheitern
festgestellt werden musste. Manchen Bürgern und bestimmten
Interessengruppen fällt diese Einsicht allerdings noch
schwer.
Wir haben im Kampf gegen Arbeitslosigkeit bisher viel mehr Geld
ausgegeben als die meisten unserer europäischen Nachbarn und
wir haben dabei viel weniger Erfolg gehabt.
Schließlich steht die Krankenversicherung auf dem
Prüfstand, das einzige der drei sozialen Sicherungssysteme,
das ohne staatliche Zuschüsse auskommt. Da auch hier in USA
viel darüber diskutiert wurde und wird, zu dieser Reform
einige grundlegende Bemerkungen: Wir haben die verschiedenen
Gesundheitssysteme, die es weltweit gibt, verglichen. Die meisten
Staaten haben gar keines; die anderen haben entweder ein vollkommen
staatliches, meistens aus Steuern finanziertes System, oder ein
vollkommen privatwirtschaftlich organisiertes System oder, wie in
Deutschland, ein beitragsfinanziertes, gesetzlich gesteuertes
Gesundheitssystem. Alle drei Grundtypen haben spezifische Probleme:
die staatlichen sind sämtlich unfähig, eine rasche
Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Es gibt enorme
Wartezeiten, selbst auf Operationen bei lebensbedrohlichen und
äußerst schmerzhaften Erkrankungen. Die
privatwirtschaftlichen Systeme schließen entweder eine sehr
große Zahl von Menschen aus dem System aus – hier in
den USA hat jeder siebte überhaupt keinen und viele haben
keinen ausreichenden Versicherungsschutz gegen Krankheit. Das
bedeutet, der Schutz reicht nicht aus, selbst gut Verdienende
stehen nach einer längeren Erkrankung vor dem
ökonomischen Ruin. Beim deutschen System sind die
medizinischen Leistungen hoch, es gibt keine Wartezeiten und die
Arztwahl ist völlig frei. Die Beiträge wirken aber wie
eine zweite Steuer auf Arbeitseinkommen. Sie sind aus
volkswirtschaftlichen Gründen nicht unbegrenzt steigerbar.
Allen Systemen gemeinsam ist, dass die moderne Medizin und
Pharmakologie angesichts ständig verbesserter Leistungen und
ständig erweiterten medizinischen Wissens, ständig teurer
wird. Wenn die Beiträge aus dem genannten Grund da nicht
Schritt halten, gibt es ein Problem; dieses Problem haben wir in
Deutschland und sind gerade dabei, es zu lösen. Gemeinsam
haben Regierung und Opposition erfolgreich Voraussetzungen
dafür geschaffen, dass die Beiträge jetzt bereits sinken.
Dadurch wird Arbeit in Deutschland billiger. Darüber, ob und
wie auch andere Einkommen als nur die aus abhängiger
Beschäftigung zur Finanzierung des Gesundheitswesens
herangezogen werden können, wird es innenpolitischen Streit
geben, den wohl die Wähler entscheiden müssen. Am
Prinzip, dass die Gesunden für die Kranken zahlen müssen,
damit auf Krankheit nicht Armut folgt, halten wir dabei fest.
Politisch stehen also alle Aspekte des Sozialstaates auf dem
Prüfstand - die vorsorgliche, vorbeugende Wirtschaftspolitik,
die dafür sorgen soll, dass durch Wachstum Beschäftigung
entsteht; die Sicherung und das Niveau der Renten, die
Arbeitsmarktpolitik und das Ausmaß von materieller Sicherheit
im Falle der Arbeitslosigkeit sowie der Leistungsumfang und die
Kosten des Gesundheitswesens. Die politischen Folgen sind, dass
alle Säulen des Systems gleichzeitig umgebaut werden, viele
alte Gewohnheiten und Gewissheiten in Frage gestellt sind und: -
entsprechend schlechte Laune.
Die äußert sich in Demonstrationen vor allem in
Ostdeutschland, wo Ängste und Unsicherheiten besonders
groß sind. Die Proteste richten sich vor allem gegen die neue
Arbeitsmarktpolitik. Sie sind zwar nicht so heftig, wie viele
Medien in Deutschland suggerieren, aber Umfragewerte und
Wahlergebnisse sind für die Regierungspartei SPD schlecht. Der
Kern der Reform ist die Zusammenlegung bisher getrennter,
steuerfinanzierter Lohnersatzleistungen für Menschen, die
nicht arbeiten können und für solche, die nur keine
Arbeit finden. Parallel wird die öffentliche Dienstleistung
für diese Menschen erheblich verändert: während
bisher ein Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit 800
Arbeitslose zu betreuen hatte und im wesentlichen nur die
Lohnersatzleistung auszahlen konnte, werden in Zukunft nur noch 75
Arbeitslose zu betreuen sein mit dem Ziel, sie wirklich in Jobs zu
vermitteln und mit einer Reihe neuer Instrumente auch
zusätzliche Jobs zu schaffen. Befürchtet wird, dass die
Lohnersatzleistungen viel niedriger ausfallen werden als bisher -
das kann in einer Minderheit von Fällen auch so sein - und
dass Vermittlungserfolge ausbleiben könnten. Dagegen spricht,
dass schon jetzt, die Reform ist noch nicht in Kraft, die
Vermittlungserfolge steigen.
Auch diese Reform wird übrigens die Arbeitskosten in
Deutschland weiter senken.
Aber von Ferne sieht das Bild offenbar etwas besser aus: Das
"Time-Magazine" kommt in seiner Europa Ausgabe Ende Juli zu dem
Schluss:
"Niemand sagt einen boom voraus, aber Deutschland ist dabei, seine
Probleme abzuschütteln und sich wieder in die Position eines
europäischen Wirtschaftsmotors zu bringen." Schon im
vergangenen Februar war es "Newsweek", das in einem "ranking" den
Exportweltmeister Deutschland wegen der laufenden Reformen und der
unverändert hohen Potentiale zum zweit wichtigsten, ja "most
powerful" Land der Welt nach den USA erklärte. Das finde ich
übertrieben. Aber immerhin haben selbst einige wichtige
deutsche Medien, die normalerweise sklavisch dem Gesetz folgen,
dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten seien, damit
begonnen, Geschichten über das Gelingen zu
veröffentlichen. Das Handelsblatt, eine wirtschaftsnahe und
auf Wirtschaftsnachrichten spezialisierte traditionsreiche
Tageszeitung veröffentlichte eine Serie über "stille
Stars": Regionen, die selbst von der deutschen Öffentlichkeit
unbemerkt im Schatten der Wirtschaftszentren enorme
Wachstumserfolge aufweisen.
Wir werden im kommenden Jahr, da bin ich sicher, deutlich weniger
Arbeitslose haben. Deutschland benötigte in der Vergangenheit
ein Wachstum von mindestens 2%, bevor neue Arbeitsplätze
entstehen. Experten sagen voraus, dass mit den Reformen diese
Beschäftigungsschwelle auf 1,5% gesenkt werde - und dass wir
ausreichend Wachstum erarbeiten werden, um diese Marge zu
übertreffen.
Dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sinken
werden, habe ich schon gesagt, außerdem werden die
Steuerzahler (nach 15 Mrd. ¤ in diesem Jahr) zum 1. Januar
erneut um 7 Mrd. ¤ entlastet werden. Vor sechs Jahren war
Deutschland eines der für die Steuerzahler teuersten
europäischen Länder, jetzt gehören wir zum
preiswerten Mittelfeld. Derzeit werden auch in wichtigen Betrieben
sowie im Öffentlichen Dienst wieder längere Arbeitszeiten
mit den Gewerkschaften vereinbart (was diesen nicht gefällt),
und die wichtigsten deutschen Unternehmen erhöhen ihre
Gewinnerwartungen für das laufende Jahr.
Das wird sich alles zusammen positiv auf die Stimmung und das
wirtschaftliche Wachstum und hoffentlich auf Investitionen
auswirken, so dass wir allen Grund haben, wieder optimistisch in
die Zukunft zu schauen.
Vor sechs Jahren hatten wir im internationalen Vergleich zu wenige
Studenten; es hieß, Deutschland sei ein Schlusslicht bei der
Anmeldung von Patenten und das Interesse junger Menschen aus aller
Welt, in Deutschland zu studieren, hatte deutlich nachgelassen.
Trotz eines international sehr teuren Euro bleiben wir aber
Exportweltmeister, sind Europameister bei den Patentanmeldungen;
haben inzwischen mit weit über 30 % den höchsten je
gemessenen Anteil an Studierenden eines Jahrgangs und auch junge
Menschen aus aller Welt interessieren sich wieder für einen
Studienplatz in Deutschland.
Das letztere hat sicher auch damit zu tun, dass wir für die
Staatsbürgerschaft, die Einwanderung und die Integration von
Einwanderern inzwischen moderne klarere Regeln gefunden
haben.
Sie werden fragen: Was machen die Deutschen denn nun mit den
Mitteln, die sie einsparen oder demnächst zusätzlich
einnehmen werden? Das kann ich Ihnen mit zwei Worten sagen:
Bildungsinvestitionen und Schuldenabbau.
In dem schon einmal erwähnten ranking der Zeitschrift
"newsweek", gab es zahlreiche Disziplinen, in denen gemessen wurde.
In einer kam Deutschland überhaupt nicht vor:
Bodenschätze. Deutschland lebt in der Tat ausschließlich
vom Erfindergeist, vom Fleiß, vom Organisationstalent, von
kaufmännischer Zuverlässigkeit, vom guten Management und
vom sozialen Frieden im Land. Kurz gesagt: von der Bildung, den
geistigen Fähigkeiten. Internationale Vergleichsstudien haben
uns für die gegenwärtige Schülergeneration keine
besonders guten Zeugnisse ausgestellt. Wir werden uns da sehr
schnell verbessern müssen.
Aber damit sie jetzt nicht meinen, es sei tatsächlich schon
alles geklärt in Deutschland: Bildung ist bei uns eine
Ländersache. Obwohl wir uns derzeit auch damit
beschäftigen, die Aufgaben zwischen dem Bundesstaat und den
Ländern neu zu verteilen und zu definieren, (eine
Reformbemühung, über die bald Politologen und
Staatsrechtler ihre Doktorarbeiten schreiben können) wird es
natürlich Abstimmungsprobleme geben. Meine Idealvorstellung
ist, dass wir uns mit den Ländern auf die Standards einigen,
die beim Abschluss der 10. Klasse und beim Abitur erreicht sein
müssen und wir es sehr viel mehr als je den Schulen
überlassen, wie sie diese Standards erreichen. Etwas mehr
Freiheit und Wettbewerb auch für die Lehrer und die Schulen
kann nicht schaden. Von der Bundesebene müssen dazu Rahmen
gesetzt werden, Anstöße gegeben werden und, wie wir es
am Beispiel der Einrichtung von Ganztagsschulen schon praktizieren:
Geld zu Verfügung gestellt werden, dass manchen Ländern
fehlt, um Ganztagsschulen einrichten zu können.
Nach der deutschen Einheit ist die Bundesrepublik in eine
Schuldenfalle geraten. Es hieße wohl, Eulen nach Athen zu
tragen, wenn ich hier in Washington über die Problematik reden
wollte, die von zu hohen Staatsschulden ausgeht. Abgesehen davon
sind wir prinzipiell der Meinung, dass wir heute nicht konsumieren
dürfen, was die nachfolgenden Generationen noch gar nicht
erarbeitet haben. Deswegen werden wir so schnell wie möglich
die Neuverschuldung des Gesamtstaates auf unter drei Prozent des
BSP zurückführen, wie es ja auch innerhalb der EU per
Staatsvertrag vorgeschrieben ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diejenigen unter Ihnen, die
die deutsche Innenpolitik genauer verfolgen, werden wissen, dass
die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit im Deutschen
Bundestag ein sehr hohes Risiko eingegangen sind, das höchste,
dass eine Regierung eingehen kann, nämlich bei nächster
Gelegenheit abgewählt zu werden. Aber vielleicht haben Sie
hier auch vernommen, dass sich dieses Risiko auszahlen wird, ja,
auszuzahlen beginnt. Alle Indikatoren weisen seit diesem Sommer
aufwärts, Deutschland ist auf einem guten Weg. Selbst die
Stimmung der als verzagt geltenden Deutschen beginnt sich zu
bessern. Wir haben zwar noch einige Aufgaben zu lösen, aber
wir wissen auch zu unterscheiden: nicht jede Aufgabe, die
gelöst werden muss, ist gleich eine Herausforderung*), die wie
schwere Schicksalsschläge angenommen und bestanden werden
müsste.
Deutschland ist auf einem guten Weg, und davon wollte ich Ihnen
berichten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
*)= im amerikanischen Sprachgebrauch hat es sich eingebürgert,
jede noch so unbedeutende Anforderung als "challenge" =
Herausforderung zu bezeichnen.
Darauf spielt diese Formulierung an.
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