Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse auf dem 65. Deutschen Juristentag in Bonn:
Es gilt das gesprochene Wort
"Gestatten Sie mir zu Beginn eine persönliche Bemerkung: Ich
gehöre bekanntlich zu dem Teil der deutschen Bevölkerung,
der 40 Jahre lang in einem Unrechtsstaat leben musste. Und ich
empfinde es bis heute als ein großes Glück, dass auch
wir Ostdeutsche 1990 in den Genuss der Freiheitsrechte und
rechtsstaatlicher Sicherheiten gekommen sind, wie sie das
Grundgesetz garantiert. Aber auch rückwirkend hätte ich
eine öffentliche Verfassungsdebatte mit anschließender
Volksabstimmung als konstitutiven Akt des vereinigten Deutschland
für wünschenswert gehalten.
Nun hat eine Verfassung bekanntlich einen ganz besonderen,
herausgehobenen Zweck, und sie kann daher gewiss nur bedingt als
Vorbild für andere Gesetze herangezogen werden. Doch
sicherlich geht es Ihnen als Juristen ähnlich wie mir als
Politiker und als Staatsbürger: Die Leistung der Mütter
und Väter des Grundgesetzes nötigt mir höchsten
Respekt ab. Sie haben einen Rechtstext gestaltet, der bis heute
(also immerhin 55 Jahre nach seiner Verabschiedung) in seiner
Präzision und Prägnanz ein Beispiel für gute
Gesetzgebung ist.
Dagegen häufen sich seit Jahren die Klagen über deutsche
Gesetze und deutsche Gesetzgebung. Die einen beklagen, dass unsere
Gesetze mit heißer Nadel gestrickt werden, andere sehen im
Gesetzgebungsverfahren ermüdende Hängepartien. Die einen
finden, dass der Gesetzgeber zu viel regelt, andere kritisieren,
dass er viel zu langsam reagiert. Dabei ist die Kritik an der so
genannten Regelungswut des Gesetzgebers nur zum Teil berechtigt.
Das Parlament hat in der Gesellschaft vorhandene Interessen
aufzugreifen und im Idealfall auch zusammenzuführen. Für
den Normenhunger moderner Gesellschaften ist nicht allein und nicht
in erster Linie der Gesetzgeber verantwortlich. Ich bin
beispielsweise dezidiert der Auffassung, dass wir nicht alles tun
dürfen, was wir tun können. Der wissenschaftlich-
technische Fortschritt stellt uns aber immer wieder vor die Frage,
was wir von dem, was wir können, auch dürfen - und die
Antwort muss eine Norm sein. Unser Steuerrecht ist ein Beispiel
für eine hochpolitische Frage: Durch seine Komplexität
ernährt es inzwischen einen ganzen florierenden Berufsstand
(die Steuerberater). Das wird oft kritisiert. Die immer wieder
geforderte Vereinfachung hat aber auch mindestens eine Kehrseite:
der Verzicht auf die Steuerung durch Steuerrecht. Das kann man
wollen, aber man muss wissen, was man damit tut.
Der deutsche Gesetzgeber ist auch da unschuldig, wo uns
europäisches Recht zu Regelungen zwingt, und scheinen sie noch
so abwegig. So verlautete in diesem Sommer, dass das von alpinen
Bergen geradezu erdrückte Mecklenburg-Vorpommern ein
Seilbahngesetz beschließen müsse, damit überall in
der EU gleiche Seilbahn-Standards gelten.
In Deutschland gelten zur Zeit (nach Angaben des
Bundesjustizministeriums) 2.066 Gesetze mit 46.308 Einzelnormen und
3.051 Rechtsverordnungen mit 38.776 Einzelnormen - zusammen ergibt
das die stolze Summe von 85.084 einzelnen Vorschriften! Angesichts
dieser Zahlen wird niemand leugnen, dass etwas mehr
Selbstbeschränkung des Gesetzgebers möglich und sinnvoll
wäre - ganz im Sinne des zeitlosen Diktums von Charles de
Montesquieu: "Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen,
dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen." Es ist ja auch gar
nicht so, dass es uns Politikern an Selbstkritik fehlte. So plant
die Bundesregierung, den "Gesetzes-Dschungel" ein wenig zu lichten
und über 200 Gesetze und Rechtsverordnungen zu streichen, die
teilweise aus der Zeit des Nationalsozialismus oder noch älter
sind. Andererseits erinnere ich in diesem Zusammenhang gerne an die
Deregulierung der Meisterordnung im Handwerk: Da wehrte sich ein
Zentralverband, der beinah täglich allgemein nach
Deregulierung ruft, mit aller Macht und mit Hilfe der
Opposition.
Die bloße Zahl oder Vielzahl der Gesetze ist aber nicht das
einzige Problem, mit dem wir uns auseinander zu setzen haben. Vor
allem die Qualität der Gesetze steht immer wieder in der
Kritik und ist auch auf diesem Juristentag ein zentrales Anliegen.
Um es gleich zu sagen: Ich bezweifle nicht nur, dass die
Unzufriedenheit mit der Qualität deutscher Gesetzgebung auf
"handwerkliche" Defizite zurückgeht, sondern halte es auch
für illusorisch, dieses Problem mit einer Verbesserung
juristischer Formulierungskünste lösen zu wollen. Bereits
heute sieht das Gesetzgebungsverfahren gründliche
formaljuristische Kontrollen vor.
Wenn Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer neuen
gesetzlichen Regelung bestehen, ist es jedem Bürger
freigestellt, das Bundesverfassungsgericht anzurufen - eine
Möglichkeit, von der gerade die Opposition (übrigens
gleich welcher Partei) gerne Gebrauch macht. Leider bleibt mir
nicht die Zeit, um das lebhaft umstrittene Verhältnis zwischen
Bundestag und Bundesverfassungsgericht zu erörtern, obwohl ich
dies ausgesprochen gern täte. Hier nur so viel: In einem
Rechtsstaat muss es eine Instanz der unabhängigen
Rechtsprüfung geben. Entsprechend sieht unsere Verfassung eine
klare Aufgabenteilung zwischen dem obersten Organ der Legislative
und dem obersten Organ der Judikative vor. Im Großen und
Ganzen funktioniert dieser Kontrollmechanismus auch. Allerdings
steigt die Neigung, politische Entscheidungen durch
Gerichtsentscheidungen fortzuschreiben oder zu unterlaufen. Das ist
dann der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht bis ins Detail
vorschreibt, wie eine gesetzliche Regelung auszusehen hat -
freilich ohne sich die Mühe zu machen, einen belastbaren
Gesetzestext zu entwerfen oder die finanziellen Folgen zu bedenken.
Diese Erfahrung führt gelegentlich dazu, dass der Gesetzgeber
seinerseits nicht handelt, sondern auf ein Urteil "aus Karlsruhe"
wartet. Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht im so
genannten Kopftuchstreit auf eine Entscheidung verzichtet und die
Landesparlamente dafür verantwortlich gemacht.
Das Gericht wirkt oft unberechenbar, fast beliebig in der Frage,
wann der Politik tief greifende Vorgaben gemacht oder wann ihr die
Entscheidungen weitgehend überlassen werden. So versucht die
"Juniorprofessor"-Entscheidung in einschneidender Weise vorzugeben,
welchen Spielraum der Bundesgesetzgeber im Bereich von Wissenschaft
und Bildung überhaupt noch hat. Das geschah genau in dem
Zeitraum, in dem eine hochrangige Kommission aus Bundestag und
Bundesrat einen verfassungspolitischen Konsens über die
Kompetenzen von Bund und Ländern sucht. War es unabweisbar,
dass das Gericht in dieser Situation als politischer Mitspieler
einsteigt? Im Vergleich etwa zum Obersten Gerichtshof der
Vereinigten Staaten wird jedenfalls immer wieder deutlich, dass
unserem Verfassungsgericht eine Leitlinie fehlt, an der es sein
Verhältnis zur Politik orientieren würde.
Übrigens halte ich die Entscheidung auch inhaltlich für
äußerst problematisch. Ein Rückfall in bildungs-
und wissenschaftspolitische Kleinstaaterei kann wohl nicht das
Rezept sein, um Deutschland zu einem attraktiven Standort für
Forschung und Entwicklung zu machen. Alle fordern wir
Mobilität in diesem Feld, und zwar gerade nicht aus
Deutschland hinaus, sondern in unserem Land, in Europa und in der
Welt. Wie sollen wir das erreichen mit unterschiedlichen
Abschlüssen, Zugangsbarrieren, uneinheitlichen
Qualitätsanforderungen?
Beide Seiten - Parlament und Bundesverfassungsgericht - sollten
darauf achten, dass die Grenze zwischen Judikative und Exekutive
nicht überschritten wird. Da diese Grenze zwischen Parlamenten
und Verfassungsgericht offenbar unklar ist, dürfte es erst
recht unklar sein, wie sie durch formaljuristisch-handwerkliche
Hilfestellung gefunden werden soll. "Es wird eine der wesentlichen
Aufgaben der Rechtsprechung der Zukunft sein, Zusammenhänge
zwischen der Reichweite der Gesetzesprüfung und der
Funktionsteilung zwischen verschiedenen Gewalten deutlich zu machen
und von daher Kriterien zu entwickeln, die trotz der Erweiterung
des Prüfungsfeldes verhindern, dass das
Bundesverfassungsgericht in die Rolle des Ersatzgesetzgebers
gerät." Diese Aufgabe ist von der damaligen
Verfassungsrichterin Rupp von Brünneck vor fast 30 Jahren
(1977) formuliert worden, und es ist möglicherweise kein
Zufall, dass sie von der Juristenzunft immer noch nicht gelöst
zu sein scheint. Jedenfalls hat sich das Bundesverfassungsgericht
für meinen Geschmack beim Kopftuchstreit um eine Entscheidung
unnötig gedrückt (so kann man auch das Minderheitenvotum
verstehen, das ja zweifellos auch juristisch argumentiert), aber
beispielsweise bei Entscheidungen zur Familienförderung und
zur Erbschafts- und Vermögenssteuer so detaillierte und
finanzwirksame Kriterien formuliert, dass man den Begriff des
Ersatzgesetzgebers durchaus darauf anwenden könnte.
Die Entstehung von Gesetzen ist ja im Kern ein politischer, kein
juristischer Vorgang. Man muss gerade in der Debatte um gute
Gesetzgebung daran erinnern: Ein Rechtskodex ist nicht einfach
vorhanden und statisch, sondern dynamisch und wandelbar -
abhängig von gesellschaftlichem Wandel und sich ändernden
Problem- und Bewusstseinslagen, auf die die Politik (also die
jeweilige demokratische Mehrheit) mit Gesetzen reagiert. Das ist
nichts Beunruhigendes, sondern es entspricht dem Wesen eines
demokratischen Rechtsstaates, dass politische Vorgaben zu einem
großen Teil mittels gesetzgeberischer Maßnahmen
umgesetzt werden.
Die politische Verantwortung des Gesetzgebers beginnt mit der
Frage, ob eine gesetzliche Regelung notwendig ist oder nicht:
Wollen wir ein Verbot des muslimischen Kopftuches an
öffentlichen Schulen? Brauchen wir ein Gesetz über die
Einführung einer Ausbildungsabgabe? Brauchen wir ein Gesetz
über die Offenlegung von Managergehältern? Brauchen wir
ein Gesetz zur Festlegung eines Mindestlohns? Es liegt auf der
Hand: Die Antwort erfolgt nicht nach dem einfachen Muster
?wahr“ oder "falsch", sondern sie erfolgt im politischen
Meinungsstreit und richtet sich nach gesellschaftlichen Erwartungen
und Interessen. Was und wie soll vom Staat reglementiert werden?
Wofür wird der Staat zuständig gemacht, wo lässt er
den Bürgern freie Hand? Übrigens rufen vielfach dieselben
Bürger, die gestern noch über eine Gesetzesflut geklagt
haben, schon morgen nach einer gesetzlichen Regelung - sobald sie
selber betroffen sind. Doch wer bestimmt, was sachgerecht und
angemessen ist, welche Prioritäten im Konfliktfall gelten
sollen? Wer ist am Ende also für die Gesetze verantwortlich,
wer ist dafür verantwortlich zu machen? Ganz offenkundig die
Politik, und dort vor allem das Parlament - und nicht, wie immer
wieder polemisch suggeriert wird, Räte, Kommissionen,
Konsensrunden oder Talk-Shows.
Der Deutsche Bundestag beschließt die Gesetze, so sieht es
die Verfassung vor. Nach dem Grundgesetz hat das Parlament heute
eine stärkere Stellung, als es sie jemals in Deutschland hatte
und auch, als sie die Parlamente vieler anderer demokratischer
Staaten heute haben: Das Parlament kann und muss durch die Wahl des
Bundeskanzlers die Regierung legitimieren, sie tragen und sie
gleichzeitig kontrollieren und kritisieren. Zwar kommt nur ein
kleiner Teil der Gesetzesinitiativen "aus der Mitte des
Bundestages", aber letztlich sind die Gesetzentwürfe der
Bundesregierungen gleichsam auch durch das Parlament veranlasst.
Der entscheidende Punkt aber ist: Das Parlament hat immer das
letzte Wort und trägt damit auch die letzte Verantwortung
nicht nur für Gesetze, sondern dafür, wie gut Deutschland
regiert wird.
Die immer häufiger geäußerte Sorge, der Bundestag
verliere an Bedeutung und es gebe eine Tendenz zur
"Entparlamentarisierung", halte ich für
diskussionswürdig, aber für übertrieben. Sie ist
schon allein deshalb nicht begründet, weil nur ein Bruchteil
der Gesetzesvorlagen die parlamentarische Beratung unverändert
passiert. Ganz gleich, wer ein Gesetz in den Bundestag einbringt:
Die Abgeordneten treffen die Entscheidung, und sie tun das in aller
Regel nach gründlicher Auseinandersetzung mit der Materie.
Wahr ist aber, dass Vertiefung und Erweiterung der
Europäischen Union mit einem Verlust an nationaler
Gestaltungskraft einhergehen und - wenn wir Europa wirklich wollen
- auch einhergehen müssen. Rechtsakte aus der
Europäischen Union, die in Deutschland unmittelbar
Gesetzeskraft erlangen, können in der Regel nur noch
zustimmend vom Parlament zur Kenntnis genommen werden. Aber auch
bei EU-Richtlinien, die innerstaatlich noch differenziert umgesetzt
werden können und müssen, gilt die Zielbestimmung
verbindlich und lässt den nationalen Parlamenten darüber
keine Entscheidungsfreiheit. Bei der Vorbereitung von
EU-Rechtsnormen steht das Parlament vor dem Dilemma, dass jede
Kritik an den in Brüssel von den Regierungen ausgehandelten
Kompromissen die mühsam erreichte Einigung mit den anderen
Mitgliedsstaaten insgesamt in Frage stellen könnte. So
müssen manches Mal verbraucher-, sozial- oder
wettbewerbspolitische "Kröten" geschluckt werden. Man darf vor
diesem Hintergrund allerdings keinen Gegensatz konstruieren
zwischen angeblich schlechten, aber durch die EU erzwungenen und
angeblich besseren nationalen Lösungen, denn die
Einheitlichkeit ist doch auch ein nationaler Zugewinn. Aber wenn
man über die Verbesserung der Gesetzgebung diskutieren will,
kann man sich eben längst nicht mehr nur an den nationalen
Gesetzgeber wenden, sondern muss auch das Europäische
Parlament und den Europäischen Rat und die Europäische
Bürokratie in die Betrachtung einbeziehen.
Ihre Aufmerksamkeit möchte ich auch auf den Entwurf des
europäischen Verfassungsvertrages lenken. Ich hoffe aus vielen
Gründen, dass er in allen Mitgliedstaaten ratifiziert wird.
Einer davon ist für den Präsidenten eines nationalen
Parlamentes besonders wichtig: die vorgesehene
Subsidiaritätskontrolle. Das ist eine neue und
zusätzliche Aufgabe, für die sich die Parlamente der
Mitgliedsstaaten neue Wege einfallen lassen müssen.
Wahr ist auch, dass Politik und Politiker immer stärker unter
Zeit- und Veränderungsdruck geraten. Die unvermeidliche
Langsamkeit demokratischer Prozesse kann mit dem Tempo der
Veränderungen kaum mehr mithalten. Schon heute greifen
ökonomische Prozesse viel schneller und stärker in das
Schicksal der Menschen ein als politische Entscheidungen. Die
Ungleichzeitigkeit der wirtschaftlichen, medialen und
wissenschaftlich-technischen Prozesse einerseits und der
politischen Willensbildungsprozesse andererseits ist keine
Neuigkeit, aber sie wird auffälliger, sie wird schwerwiegender
und sei es nur, weil die Wähler ungeduldiger werden. Die Folge
ist ein diffuses, aber verbreitetes Gefühl der Unzufriedenheit
mit den politischen Akteuren und den
Lösungsmöglichkeiten, die das demokratische System zu
bieten hat. Ob dieses strukturelle und eminent politische Problem
sogar die Gefahr einer Abkehr von der Demokratie birgt und wie
dieser Gefahr begegnet werden kann, auf diese Frage wünsche
ich mir Ihren Rat - aber es wird auch der Rat vieler anderer,
Soziawissenschaftler, Philosophen, an den öffentlichen
Angelegenheiten Interessierter und jedes engagierten Demokraten,
benötigt werden.
Diese Unzufriedenheit wird von Massenmedien geschürt, die
immer stärker auf Beschleunigung und Vereinfachung setzen.
Ohne öffentliche Berichterstattung über Politik kann
Demokratie in einer Massengesellschaft nicht funktionieren. Denn
Demokratie bedeutet, dass die letzte Kontrolle und das
abschließende Urteil über Politik und Politiker der
Öffentlichkeit zukommt und den Wählerinnen und
Wählern überlassen ist. Ohne die "vierte Gewalt" der
Medien ist das unmöglich.
Aber die inzwischen schon oft so genannte "Mediendemokratie" hat
auch ihre problematischen Seiten. Medien müssen ständig
etwas "enthüllen", müssen Stoff für Aufregung und
Empörung anbieten, auch wenn gerade nichts wirklich
Aufregendes, Empörendes oder unnötig geheim Gehaltenes
vorliegt. Angesichts der Rolle der Medien für die Demokratie
ist ihr Einfluss auf die Politik immens - das war schon so, als
Journalisten sich mit ihrer eigentlichen Aufgabe begnügten,
Politik zu beschreiben und zu bewerten und sie nicht auch noch mit
ihren Mitteln machen wollten, wie das bei manchen unverkennbar der
Fall ist.
Politiker, die in den Medien nicht vorkommen, sind auch in den
Köpfen nicht präsent. Wichtige politische Debatten finden
immer häufiger und dem Charakter des Mediums entsprechend
verkürzt im Fernsehen statt - und zwar lange bevor sich die
Politiker im Parlament äußern können. Über
Gesetzesvorhaben wird vielfach schon dann eine öffentliche
Meinung gebildet, wenn noch nicht mehr als eine
Absichtserklärung oder ein Referentenentwurf vorliegt. Und ein
Gesetz gilt vielen Bürgern - in Unkenntnis der
tatsächlichen Verfassungslage - als beschlossene Sache, wenn
das Kabinett dem zugestimmt hat. Wenn man sich über ein Detail
empören kann, geraten Ziele und Perspektiven aus dem
Blick.
Es wirkt sich auf die politische Kultur aus, wenn Politiker auf
solche Medienvorgaben reagieren statt die Zieldiskussion
weiterzuführen, wenn wegen einer Schlagzeile über
"Florida-Rolf" ein Gesetz geändert wird, wenn die Diskussion
über die Grundwerte politischen Handelns nicht mehr
öffentlich wird. Empörung, Wut, Enttäuschung
verstärken sich, wenn in diesem Geflecht aus dem Blick
gerät, was ein wesentlicher Sinn von Demokratie ist: Es geht
nicht um Wahrheit, sondern um demokratische Legitimation. Richard
Schröder hat das kürzlich so formuliert: "Es ist der
Vorzug des Mehrheitsprinzips, dass es gültige Entscheidungen
ermöglicht, obwohl der Dissens in der Wahrheitsfrage
fortbesteht. Abgestimmt werden muss, wenn man sich in der
Wahrheitsfrage nicht einigen kann, und nicht etwa, nachdem man sich
in der Wahrheitsfrage geeinigt hat, was ja tatsächlich selten
genug vorkommt." Daran möchte ich auch Medien immer wieder
erinnern. In der Demokratie sind Gesetze gültig, aber
bekanntlich nicht endgültig. Übrigens gerät das ja
nicht nur in manchen Medien in Vergessenheit. Auch die
Empörung über die hohe Zahl gesetzlicher Regelungen, die
unser fleißiges Arbeitsparlament beschließt, macht
vergessen, dass es oft genug keine zusätzlichen, sondern
lediglich andere Regeln als die bisherigen sind, weil eine Mehrheit
der Wähler solche anderen Regeln auch erwartet. Gültig
also, aber nicht endgültig.
Politik und Medien sind Systeme, die nicht zueinander passen, hat
ein Medienforscher sinngemäß und frei von
Schuldzuweisungen die Schwierigkeit zusammengefasst, von der hier
die Rede ist. Wesentlicher Teil guter Gesetzgebung ist die
öffentliche Kommunikation der Ziele und Instrumente eines
Gesetzes. Das hat schon Bundeskanzler Schmidt vor 30 Jahren in dem
Hinweis zusammengefasst, 70% seiner Zeit müsse er mit
Diskussionen verbringen und nur 30% blieben übrig, um etwas zu
"machen"
Unter medialem Zugzwang, oft mit Wahrheitsanspruch ausgeübt,
ist Gesetzgebung ein schwieriges Geschäft. Immer häufiger
müssen Gesetzesvorlagen in Windeseile durch den
parlamentarischen Prozess geschleust werden, immer häufiger
werden Politiker zu Getriebenen in einem Wettlauf um
öffentliche Aufmerksamkeit und Zustimmung. Zuweilen
wünschte man sich von den Politikern mehr Selbstdisziplin,
mehr Gelassenheit und mehr Sorgfalt. Doch es ist für alle
Politiker schwierig, sich dem öffentlichen Druck zu entziehen:
Sie brauchen nun einmal nicht nur die Zustimmung der eigenen Partei
oder Fraktion, sie brauchen vor allem die Zustimmung der
Öffentlichkeit.
Was passiert, wenn diese Zustimmung erst einmal ausbleibt und wenn
sich die Verantwortlichen dennoch dem Druck nicht beugen, das ist
in diesen Tagen und Wochen zu sehen. Ich halte Hartz IV keineswegs
für ein schlechtes Gesetz, und es ist ein ganz normaler
Vorgang, dass der Gesetzgeber im Laufe des Gesetzgebungsprozesses
nachjustiert und korrigiert - zumal bei einem so umfassenden
Gesetzesvorhaben. Doch ein Gesetz ist eben letztlich nur dann ein
erfolgreiches Gesetz, wenn es auch von denen verstanden und
akzeptiert wird, für die es gemacht ist. Vermittlung und
Umsetzung sind deshalb notwendiger Teil des Gesetzgebungsprozesses.
Diese Aufgabe wird erschwert nicht zuletzt durch die zunehmende
Hysterisierung der öffentlichen Kommunikation.
Diese dramatische Veränderung der Bedingungen, unter denen
Gesetzgebung heute erfolgt, halte ich für das eigentlich neue
Problem. Glauben Sie mir: Kein Politiker wünscht sich
Reaktionen wie die auf Hartz IV. Im Gegenteil: Wir Politiker haben
ein geradezu vitales Interesse daran, dass die Gesetze akzeptiert
werden - und sind in diesem Punkt ganz einig mit den
Juristen.
So schwierig die Aufgabe des Gesetzgebers geworden ist: Es gibt aus
meiner Sicht durchaus gültige Maßstäbe für
"gute" Gesetzgebung - nicht im formaljuristischen, sondern im
politischen Sinn. Diese Maßstäbe sind nicht neu, es sind
die altbewährten Prinzipien unseres demokratischen Staates:
Legitimation, Teilhabe, Subsidiarität und Transparenz.
Zum ersten Punkt, dem Legitimationsprinzip: Allein die Abgeordneten
sind unmittelbar von den Wählerinnen und Wählern
legitimiert, und die Abgeordneten tragen auch die letzte
Verantwortung für die Gestalt neuer Gesetze. Angesichts einer
politischen Kommunikation, die den Bürgerinnen und
Bürgern Übersicht und Einsicht eher erschwert als
erleichtert, ist es wichtig, dass die politischen
Verantwortlichkeiten klar getrennt und klar erkennbar sind. Der
Gesetzgebungsprozess muss daher in der Hand der Parlamentarier
bleiben und darf nicht an andere Gremien - weder an Kommissionen
noch an Gerichte abgegeben werden. Zur demokratischen
Legitimität gehören nicht zuletzt auch Sorgfalt und
Folgenabschätzung der Entscheidungen. Häufiger als
früher wird die Gültigkeit von Gesetzen befristet. Das
halte ich für sinnvoll, um neue Regelungen einer
Bewährungsprobe zu unterziehen und die parlamentarische
Entscheidung im Lichte ihrer Ergebnisse zu
überprüfen.
Zum zweiten Punkt, der demokratischen Teilhabe. Der
Gesetzgebungsprozess ist ja so mühsam und langwierig, weil er
eine möglichst breite Teilhabe gewährleisten soll. So
treffen die Abgeordneten ihre Entscheidungen ja keineswegs nur auf
der Grundlage der von den Verwaltungsfachleuten erarbeiteten
Gesetzentwürfe. Sie diskutieren und berücksichtigen in
aller Öffentlichkeit Vorschläge und Forderungen von
Organisationen, aus Unternehmen, Verbänden und Initiativen und
sie holen auch selbst den Rat von Experten ein. Das
Gesetzgebungsverfahren - drei Lesungen im Plenum, intensive
Beratung in den Ausschüssen - ermöglicht es, zahlreiche
Experten, Beteiligte, Betroffene einzubeziehen. Die Abwägung
aller Interessen und die Zusammenführung möglichst vieler
Interessen ist die Arbeit, die die Abgeordneten tagtäglich zu
leisten haben. Wie gut sie gelingt, das entscheidet darüber,
ob ein Gesetz von den Bürgern akzeptiert und befolgt
wird.
Zum dritten Punkt, dem Subsidiaritätsprinzip. Ein guter
Gesetzgeber muss nicht nur fragen, was, sondern auch auf welcher
Ebene etwas geregelt werden soll. Deutschland mit seiner starken
föderalen Tradition ist aus gutem Grund Befürworter des
Subsidiaritätsprinzips. Das gilt sowohl mit Blick auf die
Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund, Ländern und
Kommunen als auch mit Blick auf die Aufgabenteilung zwischen
Europäischer Union und nationaler Ebene: Eine Regelung muss da
erfolgen, wo sie am nächsten bei den Bürgern ist. Dieses
Prinzip fördert sachgerechte Lösungen und eine
größtmögliche Akzeptanz der Bürgerinnen und
Bürger.
Deshalb ist es gut, dass wir in Deutschland die Kommission zur
Neuordnung der bundesstaatlichen Ordnung eingesetzt haben, die die
Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern
überprüft und neue Regelungen vorschlagen soll. Deshalb
ist es auch gut, dass in der Europäischen Verfassung besser
als bisher zugeordnet werden kann, welche Ebene für welche
Regelung verantwortlich ist.
Zum vierten Punkt, der Transparenz. Die gründliche Information
der Bürgerinnen und Bürger, die Offenlegung von Sinn und
Ziel einer neuen gesetzlichen Regelung, die öffentliche
Diskussion aller Argumente sind ein unverzichtbarer Teil jedes
Gesetzgebungsprozesses. Dabei sind wir Politiker, wie gesagt, auf
die Medien angewiesen. Ich werde deshalb auch nicht müde, von
den Journalisten mehr Sachinformation und weniger
Stimmungskampagnen einzufordern. Doch auch wir, die Parlamentarier,
können zur Transparenz beitragen, indem auch wir mehr auf die
Qualität als auf die Quantität unserer Medienauftritte
achten. Im Übrigen plädiere ich seit Jahren für die
Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen. Das Fernsehen und das
Internet bieten bisher noch ungenutzte Möglichkeiten, den
Beratungs- und Entscheidungsprozess gerade auch in den
Ausschüssen einer breiteren Öffentlichkeit nahe zu
bringen und verständlich zu machen. Der Deutsche Bundestag
jedenfalls nimmt seine Informationspflicht sehr ernst.
Das Zusammenwirken der verschiedenen Verfassungsorgane und
institutionellen Ebenen und der Ausgleich zwischen
unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften ist das Wesen der
Demokratie. Transparenz und Teilhabe werden erst durch den
öffentlichen politischen Streit möglich, dadurch, dass es
reichlich Zeit für öffentliche Berichterstattung und
interne Diskussion gibt, in die alle beteiligten gesellschaftlichen
Kräfte ihre Interessen einbringen können. Sicherlich: Das
Tempo des Gesetzgebungsprozesses wird dadurch wohl kaum
beschleunigt. Aber Intensität, Umsicht, Sorgfalt, Orientierung
an Ausgleich und Verständigung sind doch mindestens ebenso
wichtig. Wir Parlamentarier werden immer in der Gefahr stehen,
entweder die Geduld der Bürger zu strapazieren oder der
Ungeduld nachzugeben und dafür die Sorgfalt in der Sache aufs
Spiel zu setzen. Deshalb will ich - gerade auch hier bei Ihnen -
für Augenmaß in der Kritik am Parlament und seiner
Arbeit werben. Denn der Kompromiss ist das Wesen der Demokratie,
und manches, was als Unvollkommenheit erscheinen mag, ist einem
Gesetzgebungsverfahren geschuldet, das den in der Verfassung
verankerten Prinzipien von Öffentlichkeit, Mitwirkung und
Minderheitenschutz verpflichtet ist.
Wir Parlamentarier stehen in besonderem Maße für die
demokratischen Prinzipien ein: für die Freiheit in einer
offenen und informierten Gesellschaft, die Kontrolle politischer
Macht, die Chance zur Teilhabe und Einmischung. Auch unter den
veränderten Rahmenbedingungen sehe ich keine Gefahr, dass
diese Prinzipien zu einem Verlust an Qualität in der
Gesetzgebung führen müssen, im Gegenteil: Ich meine, dass
wir nur unter Einhaltung dieser Prinzipien die soziale
Qualität der Gesetzgebung sichern können. Denn
Gesetzgebungskunst ist viel mehr als vollendete Normfassung, sie
ist ein komplexer politischer Prozess der Abstimmung und
Abwägung zwischen allen Beteiligten, der immer wieder neu
gestaltet und bewältigt werden muss. Schlussendlich wird immer
das Parlament der eigentliche und der einzig legitime Ort sein, an
dem die Gesellschaft mit sich selbst in friedlicher
Verständigung bleiben kann."
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