Rede des Bundestagspräsidenten in Leipzig, 9.Oktober 2004
Anrede
Was ist passiert vor 15 Jahren - in dieser Stadt und mit uns, den
DDR-Bürgern damals?
Der Herbst 1989 war eine politische Auseinandersetzung in aller
Öffentlichkeit - obwohl in der Diktatur Öffentlichkeit
gar nicht vorgesehen war. Jeder weiß etwas darüber,
viele (auch wenn sie nicht dabei waren oder nicht dabei sein
konnten) haben sich die "Wende" zu eigen gemacht - und das ist gut
so! Trotzdem berührt die Erinnerung auch nach 15 Jahren noch
immer etwas sehr Persönliches, ja fast Intimes. Die
Gefühle haben sich noch nicht gesetzt, die eigene, innere
Bewegung, Angst, Mut, der zweifelnde Appell "wenn nicht jetzt -
wann dann?!", Entschlossenheit und schließlich das Glück
des Gelingens gehen im Ritual des Gedenkens nicht auf. Der 9.
Oktober 1989 war auch ein Tag, an dem alle diese Gefühle
dessen, was ich immer noch eine Revolution nenne, gleichzeitig
waren, an nur einem einzigen Tag.
Am 7.Oktober 1989 war ich in Berlin und es lag schon in der Luft,
was man befürchten musste: Es würde ernst werden,
spätestens nach diesem Tag. Die Polizei und die überall
präsenten Stasi-Kräfte in Zivil gingen gegen jede
Ansammlung von Personen vor. Sie verhafteten auf der Straße,
wessen sie habhaft wurden. Der Rest, eingekesselt in der
Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg, konnte darauf warten,
abtransportiert und weggesperrt zu werden. Es waren am Schluss
1.000 Verhaftete. Wie würde es weitergehen? Die Feier des 40.
Jahrestages der DDR-Gründung war zu Ende. Sobald die
Gäste die Stadt verlassen haben, würden die
SED-Staatsorgane handeln, denn es blieb ihnen gar nichts anderes
übrig. Das Blutbad vom Tien-An-Men-Platz in Peking war uns
gegenwärtig. Das war die Angst. Was würde passieren am
Montag, dem 9. Oktober in Leipzig. Hier waren am 25. September
5000, am 2. Oktober schon 20 000 auf der Straße gewesen. Das
bedeutete: Wenn sie da nicht eingreifen, dann haben wir gewonnen!
Und es kamen 70 000! Und es fiel kein Schuss! Das war der Tag der
Entscheidung. Was wir alle durch Leipzig gewonnen haben, war nicht
weniger als der Sieg über die Angst, die halbe Macht der
Diktatur. Ein Transparent, das damals hier in Leipzig vorangetragen
wurde, formulierte es: "Jetzt oder nie, Freiheit und Demokratie".
So habe ich es empfunden und noch heute bewegt mich der Gedanke
daran tief.
Nachträglich werden die Ereignisse des Herbstes von 1989 in
der DDR vom Datum des Mauerfalls am 9. November überragt.
Herbst 1989 und Mauerfall wurden nach und nach ein und dasselbe.
Durch millionenfache glückliche Erlebnisse des Wiedersehens in
Ost und West getragen, von unvergesslichen Bildern verstärkt
und durch die Politik bestätigt, die seitdem die deutsche
Vereinigung zur wichtigen Aufgabe unseres Landes machte, konnte es
eigentlich gar nicht anders sein. Hier treffen sich Ost- und
West-Erinnerungen an 1989, von hier geht die Botschaft für
alles Weitere aus, das uns beschäftigt. Die Einheit erlebe ich
heute immer noch als ein großes, auch persönliches
Glück: die Freiheit der öffentlichen Rede, der Meinung,
die Freiheit von Gängelei und Bespitzelung durch die
Obrigkeit. Und darf man es nicht ein historisches Glück
nennen, dass wir Deutschen wieder- und neuvereinigt in einem Land
leben, zu dessen Grenzen alle unsere Nachbarn Ja gesagt haben, in
Frieden mit unseren Nachbarn, also gewissermaßen umzingelt
von Freunden - wann hat es das je in der deutschen Geschichte
gegeben?!
Dieses Glück sollten wir nicht übersehen oder
verdrängen, auch angesichts und trotz der prosaischen, ja
schmerzlichen Alltagsprobleme, mit denen wir uns seither
herumplagen, die die Stimmung so vieler Menschen
niederdrücken.
Was macht in diesem Zusammenhang den 9. Oktober für die
Menschen, für das Land, für die Demokratie zu einem Datum
von bleibender herausragender Bedeutung? Es war der Sieg über
die Angst und das war das entscheidende Moment auf dem Weg zum Ende
der Diktatur und zur deutschen Einheit. Dem 9. Oktober in Leipzig
folgten überall im Land Montagsdemonstrationen nach Leipziger
Vorbild. Die Kirchen gaben Raum zur Sammlung und
Selbstorganisation. Diese Konstellation, eine Mischung aus
friedlichem Gestus und protestantischem Ernst, und eine
buchstäblich entwaffnende Disziplin, dämmte die Angst vor
Gewalt auf beiden Seiten, sie öffnete die Tore zu den
Straßen und Plätzen.
Überall wo das geschah, bildeten sich örtliche
Initiativen, Komitees, Bündnisse, die meist bis zu den freien
Wahlen im März 1990 den erkämpften öffentlichen Raum
behaupteten. Jeder dieser Anfänge war ein weiterer Durchbruch,
der die Gewissheit stärkte, dass die Demokratie sich
durchsetzen würde. Und jeder dieser Anfänge war ein Damm,
der dafür sorgte, dass die Geschichte nicht mehr umgekehrt
werden konnte. Die Menschen fanden auf der Straße, Schulter
an Schulter den Mut zum aufrechten Gang und die Zuversicht, dass
man gemeinsam etwas ändern könne.
Es war ein Aufbruch der politischen Hoffnung, oft ein Fest der
Kreativität und Fantasie. Leipzig, am 9. Oktober 1989, war der
Wendepunkt. Sollte man das nicht feiern, weit über diese Stadt
hinaus? Im ganzen Land! Aber es braucht nicht nur guten Willen. Ich
meine, es braucht auch die Zeit, die eine Geschichte vom Gelingen
dieses Aufbruchs schreibt, mit der sich alle identifizieren
können. Eine Geschichte der gemeinsamen Überwindung von
Zaghaftigkeit und Feigheit, von Resignation und Verzweiflung, eine
Geschichte von hoffnungsvoller Politisierung und entschlossener
Friedfertigkeit.
Anrede
In den letzten Wochen hatte die Erinnerung an die Demonstrationen
von damals erneut politische Zündkraft, nicht zuletzt wieder
hier in Leipzig. Die Erinnerung an die damals gewonnene Kraft und
Sprachfähigkeit hatte nach 15 Jahren im vereinten Deutschland
plötzlich wieder Aktualität. Das hat viele verstört
und manche Kontroverse ausgelöst, auch solche darüber, ob
die Geschichte der Montagsdemonstrationen nicht missbraucht werde,
ob die Würde der Ereignisse von damals, als es wahrlich ums
Ganze ging, nicht verletzt werde.
Ich meine, die Messlatte 1989 hängt hoch genug, um
Verwechslungen von damals mit heute zu vermeiden. Aber die
Demokratie, ihre Mittel und Verfahren, hat niemand für sich
und für immer gepachtet, es gibt kein Patentrecht auf Inhalte
und kein Monopol, wer sich darauf berufen darf. Es ist im Grunde
sogar das Beste, was einer historischen Leistung passieren kann:
wenn sie über den Kreis derer, die dabei waren, zum Vorbild
und Maßstab wird, wenn ihr Beispiel Hoffnung macht, wenn sie
immer wieder herausfordert, auch im Für und Wider. Ich meine
im Übrigen, dass es gerade auf diese Seite der Demokratie
ankommt, die Freiheit des Andersdenkenden zu respektieren. Dies ist
ein Wert für sich, an dem bewährt sich und wächst
freiheitliche Gesinnung.
Ich bin kritisiert worden, weil ich die neuen
Montagsdemonstrationen verteidigt habe - obwohl ich den politischen
Forderungen der Demonstranten im einzelnen nicht folgen konnte.
Aber man überzeugt niemanden, wenn man ihn beschimpft, weil er
ein Grundrecht in Anspruch nimmt, für das vor 15 Jahren hier
in Leipzig demonstriert wurde. Ja, es ist ein hohes Gut, politische
Freiheit zu genießen - und zwar als ein Recht, das allen
zukommt, auch dem politischen Gegner.
Aber vor dem Hintergrund der Geschichte der Montagsdemonstrationen
ist es eine Sache der Selbstachtung, denjenigen, die auf Verdummung
und Demagogie setzen, entgegenzutreten. Es hilft nichts: Man muss
den Mund aufmachen, Stellung nehmen und darf den Konflikt mit den
Verächtern der Demokratie nicht scheuen. Es sind letztlich die
Demokraten, die für die Demokratie verantwortlich sind.
Es gibt eine Menge zu fragen und zu lernen aus den 15 Jahren und
dabei vor allem, dass das Eintreten für die Demokratie nie zu
Ende ist, denn die Demokratie ist verletzlich, kostbar und
gefährdet zugleich, sie ist die einzige Staatsform, die immer
wieder neu gelernt werden muss.
Wie kommt es, dass unter denjenigen, die 1989 erst 3, 4 oder 5
Jahre alt waren, den heutigen Erstwählern in Sachsen,
ausdrückliche Feinde der Demokratie die zweitstärkste
Partei bei der Landtagswahl werden konnten? In Sachsen wählten
20 Prozent der jungen Männer zwischen 18 und 22 Jahren NPD, im
Saarland nicht allzu viel weniger, 13 Prozent. Woher kommt es, dass
junge Leute sozusagen aus dem Stand, ohne eigene politische
Enttäuschungserfahrung diejenigen wählen, die
ausdrücklich die Demokratie erst benutzen und dann abschaffen
wollen? Auch Erstwählern dürfte das nicht verborgen
geblieben sein. Dann aber ist jede Stimme für diese Partei
nicht lediglich Protest, sondern schon ein Ausdruck von
Feindschaft, eine Form von Absage an die Demokratie. Gewiss mag es
dafür viele Erklärungen geben. Aber meines Erachtens gibt
es überhaupt keinen Grund für Verständnis, gibt es
hier keinen Spielraum für Akzeptanz.
Niemand darf sich zur Erklärung auf die Proteste gegen "Hartz
IV" hinausreden. Schon 1991 hat ein Asylbewerberheim in Rostock
gebrannt, in den folgenden Jahren gab es in Wurzen, Guben,
Magdeburg und anderswo ausländerfeindliche rassistische
Schandtaten. An Warnungen hat es danach im Osten aber auch im
Westen der Bundesrepublik nicht gemangelt. Aber haben nicht wir,
haben nicht Sie, haben nicht die Montagsdemonstranten von 1989 eine
besondere Verantwortung, für die Demokratie einzustehen, die
sie selbst vor 15 Jahren erstritten haben!
Deshalb muss es Sorgen bereiten, wie sich in unserem Land, vom
Saarland über NRW und Brandenburg bis nach Sachsen, fast die
Hälfte der Bürger für Wahlenthaltung entschieden.
Das mag meinetwegen angehen, wenn es um nichts geht und alles
bleiben kann, wie es war. So ist es aber nicht. Und deshalb wird es
gefährlich, wenn dies ein Freifahrtschein für Extremisten
wird.
Was aber sollen wir tun? Sollen wir die Freiheit, die
Demonstrationsfreiheit, die Organisationsfreiheit oder die
Meinungsfreiheit wieder einschränken? Nein. Das ist nicht der
Weg und das führt zu nichts.
Die Kirchen haben damals hier im Osten auch die Verantwortung
übernommen, der spontanen, oft der eigenen Ziele noch
unsicheren Protestbewegung Halt zu geben und sie haben verhindert,
dass die Wut in ohnmächtige Gewalt und Konfrontation
mündete. Vor der Demonstration stand das Friedensgebet. Die
Kirchen haben Raum und Zeit für gemeinsame Willensbildung
gegeben und eingeübt, wie man faire Entscheidungen fällt
und repräsentative Gremien bildet. Das ist neben der
eigentlich geistlich-spirituellen Unterstützung eine Hilfe
gewesen, die damals kaum andere leisten konnten. Dass wir die
Kirchen heute immer noch brauchen, dafür steht die
Nikolaikirche beispielhaft, ja fast symbolisch. Ich sage das mit
großem Respekt, mit tiefer Dankbarkeit und zugleich mit dem
Bedauern darüber, dass andere Vertretungen der
Bürgergesellschaft noch nicht an diese Stelle getreten sind.
Dass es so ist, ist auch ein Hinweis darauf, wie lange es dauert,
bis solche Kompetenzen wachsen, in der Gesellschaft ausgebildet und
angenommen werden. Aber so lange können wir nicht warten.
Haben wir, alle, die der SED-Diktatur um der Freiheit willen
widerstanden haben, nicht heute die Aufgabe, den neuen alten
Feinden der Freiheit entgegen zu treten und ebenso alter Ideologie
und neuem Hass: mit Mut, mit Phantasie, mit demokratischem
Engagement und übrigens auch mit kluger Jugendarbeit in Land
und Kommune? So gesehen gehört der 9. Oktober 1989 noch lange
nicht ins Museum; was damals ernst gemeint war, muss auch heute
ernst gemeint sein: für die Freiheit, wenn auch jetzt gegen
andere Gegner – aber mit größeren
Erfolgsaussichten. Diktatoren besiegt man nämlich viel
leichter bevor sie an die Macht kommen als danach, wie wir hier in
Leipzig wissen.
Anrede
1990 sagte der in England lebende berühmte Soziologe Ralf
Dahrendorf für den politischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder
folgenden Zeitbedarf voraus: Für die Einführung
politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse
veranschlagte er sechs Monate, für den Übergang zur
Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer
Zivilgesellschaft sechzig Jahre.
Nach dieser Prognose liegen wir durchaus im Zeitplan, einen langen
Atem vorausgesetzt. Ostdeutschland hatte Dahrendorf allerdings
nicht im Blick. Für uns galt eine privilegierte
Sondersituation. Wir wurden sechs Monate nach den freien Wahlen
politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den
ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die
Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechtsordnung.
Dazu kam ein Höchstmaß an Stabilität. Die
öffentlichen Aufgaben waren finanziell und die Menschen sozial
abgesichert - jedenfalls kein Vergleich mit der Lage der Mehrheit
in den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas.
Trotzdem ist die Enttäuschung in den letzten Jahren stetig
gewachsen. Das hat gewiss zuerst wirtschaftliche Gründe. Nach
sechs Jahren hatten wir zwar eine Marktwirtschaft errichtet, aber
wir standen noch keineswegs auf eigenen Füßen, die
Wirtschaft produzierte noch kein selbsttragendes Wachstum. Sie tut
es noch immer nicht. Das bestimmt seither die Debatte und verdirbt
die Laune. Zum Aufbau Ost hatte jeder was zu sagen; inzwischen
zucken viele die Schultern. Die Wirtschaft mag der Kern des
Problems sein, aber ist sie auch die Lösung?
Ja und nein: es sind ökonomische Tatbestände, Daten, die
den materiellen Unterschied der Lebensverhältnisse zwischen
Ost und West in Deutschland markieren: die Wachstumsschere, die
unterschiedlichen Einkommen und Arbeitszeiten, die mehr als doppelt
so hohe Arbeitslosigkeit wie in Westdeutschland: überall haben
wir "Nachholbedarf", hecheln hinterher, wie der Hund hinter der
Wurst, die ihm so vor die Nase gebunden wurde, dass er sie nie
erreicht.
Davon, von diesem Hinterherlaufen, davon, dass sich die
Abstände nicht spürbar verringern, kommt viel eher
schlechte Laune, als von der rein ökonomischen Tatsache, dass
es da Abstände gibt. Denn eigentlich müssten wir in
Ostdeutschland, nach allem, was wir gemacht und durchgemacht haben,
mehr als genug Selbstvertrauen haben, diese Abstände mit
Geduld und Zähigkeit abzuschmelzen. Denn das ist klar: am
Ziel, der - wie das Grundgesetz sagt - Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse gilt es beharrlich festzuhalten. Nicht als
Trost sondern als Aufforderung zu mehr Realismus habe ich
empfohlen, öfter bei unseren ehemaligen Leidensgenossen
östlich unserer Grenzen nachzuschauen: deren ökonomische
Daten, deren Lebensstandard sind viel schlechter als hier bei
uns.
Daran kann man sehen, wie schwierig und langwierig die Aufgabe der
Transformation ist. Manche behaupten aber, dort sei trotz der noch
schlechteren ökonomischen Lage die Stimmung besser, und sie
fragen, wieso das so ist.
Die Antwort muss da anfangen, wo die Frage nach der Stimmung mit
dem Unterton des Vorwurfs gestellt wird. Meine Laune wird
jedenfalls nicht besser, wenn mir meine auch noch gut
begründbare Kritik und Unzufriedenheit zum Vorwurf gemacht
wird. Die Antwort findet sich auch dort, wo im Jahre 2004
plötzlich von Wettbewerbsföderalismus die Rede ist,
obwohl 50 Jahre lang ein solidarischer Föderalismus
praktiziert wurde, bei dem die ökonomisch schwächeren
Bundesländer von den stärkeren Ländern
Ausgleichsleistungen erhalten. Wo liegen denn heute die
schwächeren Länder, die den
"Wettbewerbsföderalismus" ausbaden müssten? 30 Jahre lang
wurde z. B. Bayern von Nordrhein-Westfalen und anderen
unterstützt, bis es selbst zu einem Geberland im
Länderfinanzausgleich wurde. Ob es Zufall ist, dass die
Solidarität in Frage gestellt wird, wo andere noch lange auf
die Solidarität der reicheren Länder angewiesen sein
werden?
Der Bundespräsident hat vorigen Sonntag, am Tag der Deutschen
Einheit in Erfurt gesagt, auch der Finanzstaatssekretär Horst
Köhler habe sich Anfang der 90er Jahre getäuscht, als er,
wie viele im Westen, glaubte, schon sehr bald würden
blühende Landschaften in Ostdeutschland entstehen. Wenigstens
einer, der sich für manche Illusion mitverantwortlich
fühlt und es heute eingesteht. Es trägt bei zur
schlechten Stimmung, dass die Bereitschaft sehr selten ist,
Verantwortung dafür zu übernehmen und ehrlich
einzugestehen, dass man sich selbst getäuscht hat. Käme
es häufiger vor, würden vielleicht sogar neue Kräfte
frei gesetzt. (Im übrigen: Manches blüht ja bei uns
wirklich!)
Wenn wir uns aber, was offensichtlich ist, bei den wirtschaftlichen
Zielvorstellungen verschätzt oder überhoben haben, was
müssen wir dann ändern - das Ziel oder die Mittel?
Bleiben wir beim Ziel des Aufbaus - und das sollten wir unbedingt,
dann müssen wir die Mittel überprüfen, denn einfach
nur mehr von demselben wird es nicht tun.
Beginnen wir noch einmal mit den heute sogenannten Illusionen und
was davon bleibt: Von der Vorstellung einer Wiederholung des
westdeutschen Wirtschaftswunders auf ostdeutschem Boden - wie
gehabt innerhalb eines Jahrzehnts - haben wir uns längst
verabschiedet. Am zehnten Jahrestag der deutschen Vereinigung wurde
von der "Hälfte des Weges" gesprochen. Seit 2001 rechnet man
mit dem Solidarpakt II für die Aufhebung der
"teilungsbedingten Unterschiede" bis zum Jahr 2019 - das sind 30
Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989. Es ist eine
"Generationen-Aufgabe" geworden. Das bedeutet, heute, im Jahr 2004
wären wir wirklich in der Mitte des Weges.
Das hat Folgen, die längst gewusst, aber in der
Öffentlichkeit immer noch geleugnet oder verdrängt
werden. Das Zeitschema bedeutet nämlich, dass die
Älteren, 1989 über 40jährigen, mit
"teilungsbedingten Unterschieden" Zeit ihres Lebens zu tun haben
werden. Die Jüngeren, die hier bleiben, werden die
"teilungsbedingten Unterschiede" mit abarbeiten. Erst die ab jetzt
Geborenen würden in ihrem aktiven Leben nichts mehr von den
Unterschieden merken, keine ungleichwertigen Verhältnisse mehr
kennen.
Anrede
Bevor Sie das als Drohung auffassen, frage ich aber noch einmal
nach dem Ziel: was sind denn gleichwertige Lebensverhältnisse?
Es gab und gibt erhebliche Unterschiede der Lebensverhältnisse
beispielsweise innerhalb Bayerns. Es gab und gibt deutliche
Unterschiede der Lebensverhältnisse zwischen München und
dem Bayerischen Wald, Stuttgart und dem Emsland, Südhessen und
Nordhessen - Nicht nur was Mundart, Landschaft und Esskultur
betrifft, sondern auch was Arbeit, Einkommen und Arbeitslosigkeit
betrifft. Es gab und gibt auch in gewissem Umfang Abwanderungen aus
den ärmeren dieser Städte und Regionen in die reicheren,
vom Land in die Städte, aber niemand hätte je die
Ungleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ausgerufen. Es hat
auch niemand auf Schleswig-Holstein oder auf das Allgäu mit
dem Hinweis gezeigt, dort gebe es ein Millionen- oder gar
Milliardengrab und die Leute dort sollten sich gefälligst
etwas mehr anstrengen. Es hat auch niemand Nordrhein-Westfalen
vorgeworfen, dass sich dort seit Jahrzehnten ein notwendiger, aber
eben mühsamer, teurer und erst nach und nach erfolgreicher
Strukturwandel abspielt.
Zweierlei will ich antworten auf die Frage nach den gleichwertigen
Lebensverhältnissen: sie sind erreicht, wenn zwischen Ost und
West Unterschiede bestehen wie sie im Westen vertraut sind, der
Osten also so bunt und vielgestaltig wie der Westen Deutschlands
ist und wenn den Ostdeutschen ihre Strukturprobleme und
Transformationsschwierigkeiten genauso wenig zum Vorwurf gemacht
werden, wie dem nördlichen Ruhrgebiet, Bremen und dem
Saarland. Die real existierende Ungleichwertigkeit hat eben nicht
nur eine materielle sondern auch eine mentale Seite: In
ärgerlichen Zeiten werden in getrennten Jahrzehnten
entstandene Fremdheiten deutlicher, werden alte Vorurteile
blankgeputzt. Wehren wir uns dagegen, aber überbewerten wir
das bitte auch nicht!
Anrede,
Egon Bahr hatte vor nun schon etwa 40 Jahren die westdeutsche
Öffentlichkeit mit einem Paradoxon hellhörig gemacht. Mit
Bezug auf die DDR und die Teilung der Welt in zwei Blöcke
hatte er empfohlen, dass man die Verhältnisse, die es zu
ändern gelte, erst einmal anerkennen müsse. Wir wissen:
das hat funktioniert.
Auf unsere Situation übertragen heißt das: Die
Anerkennung bestimmter ungleicher Bedingungen ist nicht deren
Akzeptanz, sondern ist die Voraussetzung für eine realistische
Strategie zu ihrer Überwindung. So einfache und nahe liegende
Fragen wie danach, was uns hier hilft, was wir realistischerweise
vorrangig benötigen und was erst später gebraucht werden
wird, sind zwar eigentlich selbstverständlich, waren aber im
deutschen Vereinigungsprozess nicht immer gefragt und
geschätzt.
Sonst wären wir vielleicht schon damals auf die Idee gekommen,
dass die Ordnung, in die Ostdeutschland hinein transformiert werden
sollte - wir Ostdeutsche wollten mit großer Mehrheit dort
hinein transformiert werden oder besser: uns selbst dort hinein
transformieren -, selbst in höchstem Maße
reformbedürftig war. Aber stattdessen haben wir die Chance
verpasst, gemeinsam eine Art von Neuanfang zu wagen. Jetzt sind die
Reformen umso schwieriger, umso schmerzlicher und sie müssen
unter einem unerhörten, scheinbar äußerlichen Zwang
vollzogen werden.
Ehe ich darauf zu sprechen komme, was uns der bisherige Prozess
eigentlich lehren kann, will ich erläutern, woher diese
Blockade des Selbstverständlichen wohl rührt. Ich
möchte dabei an einen Beitrag des Philosophen Jürgen
Habermas von 1991 in der "Zeit" erinnern. Er wunderte sich damals
darüber, dass in der Vorstellungswelt der Vereinigung die
"Zukunft in der Vergangenheitsform wahrgenommen worden" sei. Alles
erinnere an die Konstellationen der fünfziger Jahre: Die
"Bilder von damals ... nehmen ... Phantasie in Beschlag, deren
Beweglichkeit für die Bewältigung von Zukunftsproblemen
doch nötig wäre."
Seine Erklärung war: Die Leitbilder dieses politischen
Großversuchs würden der Vergangenheit entliehen, weil
die Neuartigkeit des Systemwechsels eine "wortmagische
Bezähmung der Angst vor unbekannten Risiken" hervorrufe. Wie
bei den Anfängen der Fliegerei, als man erst einmal von
"Luftschifffahrt" sprach, habe man nun den "beschwörenden
Rückgriff auf das Modell der Währungsreform von 1948...
und die Werbespots von Ludwig Erhard für den
Volkskammer-Wahlkampf" erlebt. Für den im Osten in Angriff
genommenen gesellschaftlichen Umbau fungiere "Vergangenheit als
Zukunft".
Das soll heißen: Das westdeutsche Modell war die Orientierung
für die ostdeutsche Zukunft. Das Ziel war das Ankommen der
Ostdeutschen in der westdeutschen Gegenwart. Die Mittel waren
folglich im Westen bekannt. Sie mussten nur beschleunigt oder
verstärkt angewandt werden, um 40 Jahre Nachholbedarf in -
sagen wir einmal 10 Jahren - zu bewältigen. "Nachholende
Modernisierung" hieß der dafür geschaffene Begriff.
Zukunft und Osten zusammen zu denken, lag nicht auf der Hand. Der
Soziologe Heinz Bude behauptete noch im zehnten Jahr der deutschen
Vereinigung: "1989 symbolisiert nicht den Vorboten von etwas Neuem,
sondern die Vollendung von etwas Bekanntem."
Inzwischen ist die "Vollendung von etwas Bekanntem" mehr als nur in
Zweifel gezogen - der Westen, dessen Teil wir Ostdeutschen sein
wollten und längst sind, muss sich selbst Wandel und Reformen
unterziehen. Es liegt also auf der Hand, dass die Prämissen
des Vereinigungsprozesses nicht wirklich gestimmt haben. Das ist
der tiefere Grund dafür, dass auf solchen Prämissen
geschürte Erwartungen heute als Illusionen bezeichnet werden
müssen.
Die Reformunwilligkeit des Westens damals war geradezu
überwältigend. Die Montagsdemonstrationen des Jahres 2004
haben den Vorwurf der Reformunwilligkeit jetzt auf Ostdeutschland
gezogen. Nun seien es auf einmal die Ostdeutschen, die sich der
Reformnotwendigkeit verweigern. So wie ich die gegenwärtigen
Montagsdemonstrationen als Demokrat verteidigt habe, so
widerspreche ich nachdrücklich der Gleichsetzung der
Ostdeutschen mit den Montagsdemonstranten. Denn es gibt in
Ostdeutschland ein Potenzial an Reformerfahrungen, an
Flexibilität und Einfallsreichtum, vielleicht aus der Not
geborenen Einsichten, dass uns der Blick zurück nicht
vorwärts bringen kann. Manche stellen sich längst die
Frage, ob unter den Bedingungen der neuen Arbeitsteilung in einer
globalisierten Weltwirtschaft eine nachholende ostdeutsche
Wirtschaftsentwicklung überhaupt noch sinnvoll und realistisch
ist, wenn sie es denn je war. Ansatzweise setzen wir inzwischen
nicht auf die Wiederherstellung alter Industrien, sondern auf
solche Möglichkeiten, die sich aus den tatsächlichen
Ressourcen der Regionen, ihrer Ökonomie, Ökologie und den
Erfahrungen, Kenntnissen und Traditionen ergeben. Die (viel zu
wenigen) Forschungseinrichtungen, die wir in Ostdeutschland haben,
entwickeln sich immer mehr zum Ausgangspunkt positiver
wirtschaftlicher Entwicklung. Manche Regionen setzen auf die
Landwirtschaft, weil man das dort seit Generationen beherrscht -
und haben damit Erfolg.
Wir müssen in solche Richtungen weiter suchen und
fragen:
Wie lassen sich neue Strukturen wissensbasierter Industrie und
Dienstleistungen mit konkreten lokalen oder regionalen Bedingungen
in Ostdeutschland verbinden? Wie kann man eine regionale
Arbeitsmarktsituation mit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit bei
gleichzeitig zunehmendem Fachkräftemangel und einer
arbeitsgesellschaftlich nicht trainierten nachwachsenden Generation
gesellschaftlich bewältigen? Welche Rolle können Kultur
und Bildung haben, um Regionen zu stützen oder gar nachhaltig
zu entwickeln? Wir haben solchen Fragen zu wenig Aufmerksamkeit
geschenkt und uns anfangs beispielsweise auf die Bauwirtschaft als
Wachstumsmotor gestützt. Von da haben wir vorerst wenig zu
erwarten. Das ist zunächst ein wesentlicher Teil unserer
wirtschaftlichen Probleme. Aber wir wissen doch als geübte
Dialektiker, dass in jeder Krise der Keim zu ihrer Lösung
steckt. Im übrigen sollten wir den ermutigenden Umstand nicht
übersehen, dass in allen anderen Zweigen der gewerblichen
Wirtschaft das Wachstum in Ostdeutschland seit der Vereinigung -
mit Unterbrechungen - höher ist als in Westdeutschland. Das
zeigt, dass wir Grund zu Selbstbewusstsein haben, dass etwas
geleistet wird in Ostdeutschland.
Ostdeutschland ist nicht das "Jammertal" und das "Milliardengrab",
wie der "Spiegel" und andere Zeitungen schlagzeilenträchtig
schreiben. Gewiss, wir müssen über den vernünftigen
Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln streiten. Dabei
sollte man sich aber von Zahlen, wie sie der "Spiegel" immer wieder
zitiert, nicht irritieren lassen. Die Meldung, zwischen 1991 und
2003 habe Westdeutschland insgesamt 1,25 Billionen Euro für
den Aufbau Ost aufbringen müssen, ist eine Irreführung.
Hier werden entweder
- die ostdeutschen Beiträge (Steuern, Abgaben) zum Haushalt
unterschlagen, oder
- Leistungen, die allen Ländern bei der Wahrnehmung
gesamtstaatlicher Ausgaben zugute kommen, mit einbezogen.
Trotzdem stammt die Kaufkraft in den neuen Ländern zu einem
großen Teil aus den Umlagen der sozialen Sicherungssysteme.
Dazu tragen wir Ostdeutschen ebenso wie zu den Steuern und zum
Solidarbeitrag zwar selber bei, wir erarbeiten reelle Löhne
und ernähren uns damit durchaus selbst, hängen aber nicht
zuletzt am Tropf der sozialen Systeme und unsere öffentlichen
Haushalte wären ohne Länderfinanzausgleich und
Solidarpakt nicht handlungsfähig. Belastungen, die aus dieser
Fehlentwicklung resultieren, sind vor allem im Westen nicht gerecht
verteilt, solange sie mehr von den Pflichtversicherten als von
allen Steuerzahlern aufgebracht werden müssen.
Anrede
Dankbarkeit ist also gewiss gelegentlich angebracht. Die
umfangreichen Investitionen in die öffentliche
Verkehrsinfrastruktur, in die Bausubstanz unter großer
staatlicher Beihilfe, in die öffentliche Bildungs-,
Wissenschafts- und Forschungslandschaft sind ein Pfund, um das uns
weiter im Osten Europas viele beneiden. Ich will trotzdem keine
Versprechen in die Welt setzen, deren Erfüllung ungewiss ist.
Wir haben eine gesicherte finanzielle Perspektive für die
nächsten 15 Jahre mit dem Solidarpakt II, der am 1. Januar in
Kraft tritt. Und wir haben die Aussicht, daraus etwas
Tragfähiges zu machen: Jede Entwicklungsstrategie für die
Region zwischen Werra und Oder, die von den geleisteten
Investitionen in Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsstandorte
ausgeht, knüpft an die bisherigen Anstrengungen an. Das bringt
Ostdeutschland weiter. Wer aber auf alte Industrien, auf
Niedriglohngebiete (und wie die falschen Ratschläge alle
lauten) setzt, wird den Schlusslichtern eines Zuges nachsehen
müssen, der längst weiter nach Osten gefahrenen
ist.
Es wird weiterhin Durststrecken und Verlierer der Entwicklung
geben. Da habe ich keine Illusionen. Wir werden auch nicht
über Nacht den Zug meist junger Leuten stoppen können,
die "in den Westen machen" (wie es ehemals hieß), weil sie
hier vorerst keine Chance für sich sehen. Aber wir haben eine
Chance, dass manche wieder kommen, wenn wir die Mittel, die wir
selbst erarbeiten und die Mittel, die uns zu Verfügung stehen,
vernünftig einsetzen. Also kein Abbau von Zuwendungen, keine
weitere Senkung der Lohneinkommen, kein Abbau öffentlicher
Einrichtungen, kein blindes Befolgen der Ideologie, weniger Staat
nur führe zu mehr Erfolg.
Wir brauchen einen längeren Atem, gewiss, und wir brauchen
eine neue Philosophie, die sich selbstbewusst vom Nachholen
verabschiedet und den kommenden Entwicklungen vorausgreift, eine
Kombination von ökonomischem, ökologischem und sozialem
Fortschritten, die sich gegenseitig begünstigen, durch
Wissenschaft und Forschung gestützt werden, und hier von uns
selbst entwickelt werden. Dazu haben wir Voraussetzungen, um die
uns andere beneiden.
Der 9. Oktober 1989 in Leipzig ist gut ausgegangen. Ich habe
eingangs an die Spannung erinnert: wenn dieser Montag friedlich
ausgehen würde, hätten wir gewonnen. Am Morgen jenes
Tages hat niemand gewusst, was geschehen wird.
Ich möchte, dass wir uns dieser Erfahrung erinnern, aber nicht
nostalgisch, sondern wegen der Kraft, die aus dieser Erinnerung
kommen kann.
Denn wir haben nicht alte Verhältnisse zu verteidigen, sondern
uns neuen Aufgaben zu stellen, auch schwierigen, bitteren
Veränderungsnotwendigkeiten - ohne nur nach oben oder allein
nach Westen schauen zu dürfen. Lassen Sie mich das Reizwort
aussprechen: "Hartz IV". Die unvermeidliche, aus meiner Sicht
keineswegs ungerechte, aber die Ansprüche an die
Solidargemeinschaft sicher auch verringernde Reform der
Arbeitsmarktpolitik bringt noch einmal zusätzliches Geld nach
Ostdeutschland. Wie wäre es, wenn Kommunen, Verbände,
Gewerkschaften - und Montagsdemonstranten gemeinsam – an
runden Tischen also - überlegten, wie dieses zusätzliche
Geld für Arbeitsmarktpolitik tatsächlich in neue,
öffentlich geförderte Arbeitsplätze flösse, die
nicht nur Strohfeuer der Beschäftigung sind, sondern sinnvolle
Aufgaben erledigen.
Hier und heute geht es nicht um Vergangenheitsbewältigung -
obwohl wir ja auch Erinnerungen pflegen dürfen. Hier geht es
um ein Kapital, das erkämpft wurde - nach Jahrzehnten der
Diktatur, einer bedrückenden Vergangenheit, die noch immer
Nachteile bereit hält - ein Kapital, das wir aus der
Konkursmasse der DDR mitgebracht haben: Mut, Risikobereitschaft,
den Geist des Aufbruchs und der demokratischen Selbstorganisation -
und um ein Kapital, das wir in den Jahren seither durchaus
zusammengetragen haben: enorme Reformerfahrung und
Reformbereitschaft. Westdeutschland steht zwar keine
vollständige Transformation in etwas ganz anderes bevor, aber
von unserer Transformationserfahrung können Reformunwillige in
West und Ost durchaus lernen.
Lange Zeit schien das nur wenig wert. Vielmehr funktionierte nach
der Einheit diese Rollenzuweisung: Ostdeutsche hatten aktive
Vergangenheitsaufarbeitung zu leisten und passiv die
"Übernahme" aller Regeln der westdeutschen Gesellschaft
hinzunehmen, so reformbedürftig sie auch immer waren. Als ob
in dem Moment, als die Ostdeutschen die DDR hinter sich gelassen
hatten, Vergangenheit das (und nicht nur ein) Thema sein
müsste und die Verantwortung für die Zukunft schon
geregelt wäre. Kein Wunder, dass Aufbruchstimmung so
verfliegt.
Ich sage das ohne Vorwurf und ohne Schuldzuweisung; wir hatten und
haben selbst gute Gründe, die Vergangenheit der Diktatur zu
bearbeiten und aufzuklären - um der Zukunft willen; es gab und
gibt auch Dispositionen aus dieser Vergangenheit, durch die man
sich gern einer "angenehmen" Form von Unzuständigkeit hingeben
konnte, und die das manchmal ja durchaus widerständige Meckern
des DDR-Bewohners in einen Trost für den freiwilligen Verzicht
auf Zukunftsgestaltung verwandelten.
Der "Chance wie der Herausforderung enthoben, zur Gestaltung der
eigenen Zukunft einen eigenen, auch moralisch anspruchsvollen
Beitrag zu leisten", so schrieb der Soziologe Claus Offe, habe uns
ein schwerwiegendes Problem "politischer Entmündigung als auch
moralischer Unterforderung" hinterlassen.
Das ist es, was wir endgültig hinter uns lassen sollten. Die
gleichwertigen Lebensverhältnisse werden uns nicht von oben
oder aus dem Westen gebracht, wir müssen sie selber auf die
Beine stellen - mit den solidarischen Hilfen, die wir dazu
brauchen. Aber mehr als solidarische Hilfen können wir nicht
erwarten.
Jemand (Wolf Lepenies) hat den Herbst 1989 einmal eine
"unerhörte Begebenheit" genannt und gemeint, dass das
Außerordentliche, das Umstürzende und die Zeiten
Verändernde dieses Ereignisses nicht wirklich wahrgenommen
worden sei. Man habe gratuliert und gratuliert immer wieder und
geht zur Tagesordnung über. Eine Weile ging das ganz gut. Wir
merken aber, dass das zu Ende geht, dass wir erneut ein Bewusstsein
dafür brauchen, dass es auf neue, unwälzende
Veränderungen ankommt, dass die Dinge auf der Kippe stehen.
Mein damaliges Bild war nicht der dramatische Ausdruck einer
Resignation, im Gegenteil eine Aufforderung zu springen! Heute
gehört dazu wahrlich weniger Mut als vor 15 Jahren, aber
wahrscheinlich mehr nüchterne Einsicht, sich vor
Veränderungsnotwendigkeiten nicht mehr drücken zu
können - um der Zukunft willen -, dabei aber Chancen und
Risiken, Gewinne und Einbußen so fair und gerecht wie nur
irgend möglich zu verteilen. War es nicht das Gefühl
vieler Menschen im Herbst '89: Wenn ich jetzt nicht mittue, dieses
Land verändere, dann werde ich mich ein Leben lang vor mir
selbst und vor allem vor meinen Kindern schämen. Ein starkes
Motiv nicht nur damals, denke ich.
Damals ging es um die kleine, versteinerte DDR. Heute geht es um
das größere gemeinsame Land. Und wieder brauchen wir
entschlossene Friedfertigkeit und friedfertige
Entschlossenheit.
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