Rede von Bundestagspräsident Thierse in der Feierstunde des Bundestags zur Erinnerung an den ehemaligen Bundestagspräsidenten Dr. Hermann Ehlers
(Stenographisches Protokoll)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Mitglieder der Familie
Ehlers! Meine Damen und Herren! In der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland ist Hermann Ehlers der zweite
Bundestagspräsident. Er war 46 Jahre alt, als er sein Amt
antrat. Damit war er deutlich jünger als andere prägende
politische Persönlichkeiten seiner Zeit: Theodor Heuss war
bereits 66 Jahre alt, Konrad Adenauer sogar 74. Hermann Ehlers war
bei seiner Wahl – jedenfalls außerhalb kirchlicher
Kreise – so gut wie unbekannt. Das erklärt vielleicht
auch, warum er zunächst mit nur 62 Prozent der Stimmen in sein
Amt gewählt wurde.
Das ist fast auf den Tag genau vor 54 Jahren, am 19. Oktober 1950,
gewesen. Damals verweigerten diesem unbeschriebenen politischen
Blatt sogar etliche Christ- und Freidemokraten ihre Stimme.
Allerdings wussten die Abgeordneten da noch nicht, was für ein
politisches Talent Hermann Ehlers war. Es ahnte wohl auch keiner,
zu welch zentraler Gestalt deutscher Nachkriegspolitik Hermann
Ehlers in den nur vier Jahren aufsteigen sollte, die ihm noch
verblieben. Denn Hermann Ehlers, am 1. Oktober 1904 geboren, ist -
gerade 50 Jahre alt - schon am 29. Oktober 1954 gestorben.
Hermann Ehlers war für den Deutschen Bundestag, für den
deutschen Parlamentarismus ein Glücksfall. Er war der richtige
Mann am richtigen Platz zur richtigen Zeit. Hermann Ehlers war ein
Präsident, der dem Bundestag dank seiner natürlichen
Autorität, seines Charismas und eines unermüdlichen
Einsatzes zu mehr Selbstbewusstsein und Ansehen verhalf, in einer
Zeit, als das junge Parlament noch auf der Suche nach seiner Rolle,
nach seinem Selbstverständnis war. Zwar hatte der Bundestag
als Gesetzgeber von Anfang an Entscheidungen von größter
Tragweite zu treffen, doch hatte das Parlament in den allerersten
Jahren seinen Platz in der jungen Demokratie noch nicht recht
gefunden. Das lag einerseits daran, dass es sich in einer Zeit
voller Provisorien auch selbst als provisorisch verstand,
andererseits daran, dass es nicht an eine ungebrochene
parlamentarische Tradition anknüpfen konnte. Zudem standen
viele Bürgerinnen und Bürger - mit der Demokratie nicht
mehr oder noch nicht sehr vertraut - dem Parlamentarismus und dem
Parlament durchaus distanziert gegenüber.
Das war die Situation, in der Hermann Ehlers als Nachfolger des
zurückgetretenen Erich Köhler Präsident des
Bundestages wurde. Er setzte sich vom ersten Tag an auf geradezu
kämpferische Weise für das Parlament ein. Er startete
einen regelrechten Aufklärungs- und Werbefeldzug für den
Bundestag. Er soll im ganzen Land Hunderte von Vorträgen
gehalten haben, er suchte überall das Gespräch, er
schrieb unzählige Aufsätze und Briefe. Immer ging es
dabei um das eine: über die Arbeit des Bundestages zu
informieren und die parlamentarischen Prozesse durchschaubar,
verständlich zu machen, damit aus Verstehen Vertrauen wachsen
konnte: Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und ihre
wichtigste Institution, den Bundestag.
Im Grunde ging es ihm darum, die noch demokratieunerfahrenen
Menschen für den demokratischen Staat zu gewinnen. Er ging
dabei ganz neue Wege. So öffnete Hermann Ehlers die Türen
des Bundeshauses. Er war überzeugt, dass das Parlament ein
offenes Haus sein muss, ein Haus für die Bürger. Das ist
bis heute ein Leitgedanke unseres Parlaments. Ich bin sicher, dass
er sich darüber freuen würde, dass der Bundestag in
Berlin inzwischen das meistbesuchte Parlament der Welt ist.
Hermann Ehlers war es auch, der die damals ganz neuen
Möglichkeiten des Fernsehens erkannte. Er genehmigte, was
wahrlich nicht selbstverständlich war, die
Fernsehübertragung von Plenardebatten, weil er wusste, dass
Demokratie eine größtmögliche Transparenz der
Entscheidungsprozesse braucht. Und noch etwas haben wir Hermann
Ehlers zu verdanken: Er initiierte und förderte die
internationalen parlamentarischen Beziehungen. Er lud
Parlamentarier anderer Länder nach Bonn ein. Bereits im Herbst
1951 konnte er eine Delegation des britischen Unterhauses und kurz
darauf eine des amerikanischen Kongresses
begrüßen.
Hermann Ehlers arbeitete - nach außen wie nach innen -
für eine starke Legislative, für ein Parlament, das sich
seiner Sonderstellung aufgrund der unmittelbaren Legitimität
bewusst ist. Er traf dabei zuweilen durchaus provozierende
Entscheidungen – auch gegen die erklärte Position der
Bundesregierung oder der Alliierten. So entschied er zum Beispiel,
die Bundesversammlung 1954 nach Berlin einzuberufen. Damit setzte
er ein klares Zeichen für Berlin und für die deutsche
Einheit. Aber selbstverständlich war Hermann Ehlers auch daran
gelegen, mit dieser Entscheidung das Selbstbewusstsein und die
Unabhängigkeit des Parlaments zu demonstrieren. Hermann Ehlers
setzte sich durch. Seine Entscheidung wurde eine
Präzedenzentscheidung. Auch die beiden nächsten
Bundesversammlungen 1959 und 1964 fanden - dann beinahe schon
selbstverständlich - in Berlin statt.
Meine Damen und Herren, Hermann Ehlers muss eine eindrucksvolle
Persönlichkeit von großer Ausstrahlung gewesen sein. Wer
ihn persönlich erlebt hat, rühmte seine Fähigkeit,
mit Menschen umzugehen. Wohl auch deshalb gelang es Hermann Ehlers,
in der parlamentarischen Arbeit einen Stil des respektvollen
Umgangs miteinander zu prägen - ein entscheidender Fortschritt
angesichts der Tatsache, dass noch im ersten Bundestag
Handgreiflichkeiten und Tumulte durchaus an der Tagesordnung waren.
Seit Hermann Ehlers gehören Fairness und Toleranz zu den
ungeschriebenen Regeln unserer parlamentarischen Etikette, was
allerdings nicht heißen soll, dass man nicht auch heute von
Zeit zu Zeit an sie erinnern müsste.
Hermann Ehlers' Geschick, Plenarsitzungen zu leiten, ist
legendär. Er verblüffte, wie Zeitzeugen berichten, durch
ausgezeichnete Kenntnis der Geschäftsordnung und führte
die Sitzungen auf souveräne Weise. Eine Anekdote mag das
belegen: Konrad Adenauer stand am Rednerpult des Plenums und hielt
eine Rede zur Außenpolitik, bei der er immer wieder durch
Zwischenrufe unterbrochen wurde. Als es Adenauer zu viel wurde,
drehte er sich verärgert um und forderte von Ehlers: Herr
Präsident, ich bitte, dafür zu sorgen, dass eine
Erklärung des Regierungschefs in Ruhe angehört wird.
Daraufhin Ehlers trocken: Herr Bundeskanzler, ich halte die Ordnung
nach den Regeln der Geschäftsordnung aufrecht. Zwischenrufe
sind durchaus parlamentarisch!
Diese Anekdote ist ein Beispiel dafür, wie souverän und
parteipolitisch neutral Hermann Ehlers sein Amt ausübte. Dabei
– und das ist kein Widerspruch – war Hermann Ehlers ein
durchaus politischer Präsident mit klaren
Wertüberzeugungen und ebenso klaren Standpunkten. Dass er
zugleich stellvertretender Vorsitzender der CDU war, hat er nie
versteckt. Im Gegenteil, als CDU-Politiker bezog er deutlich
Stellung und griff auch immer wieder in die Debatten ein.
Gelegentlicher Kritik daran pflegte er mit dem Hinweis zu begegnen,
dass er schließlich auch Abgeordneter sei und in seinem
Wahlkreis gegen Politiker anderer Parteien antreten müsse.
Gerade an Hermann Ehlers' Amtsverständnis und
Amtsausübung wird deutlich, dass sich unparteiische
Amtsführung und politisches Credo nicht ausschließen,
sondern - im Gegenteil - dass beides gewissermaßen mit zum
unauflösbaren Spannungsfeld dieses Amtes gehört.
Hermann Ehlers hat sich mit Verve für das Parlament
eingesetzt. Als überzeugter Parlamentarier ist er gleichwohl
nicht geboren worden. Er war ein überzeugter Konservativer,
der in einem parlaments- und parteienskeptischen - um nicht zu
sagen: parteienfeindlichen - Umfeld aufgewachsen war. Von
Demokratie und Weimarer Republik hielt der junge Hermann Ehlers
nicht viel. Allerdings stand er als überzeugter Christ auch
dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Er hielt
Christentum und Nationalsozialismus für unvereinbar und
übte als Schriftleiter der evangelischen "Jugendwacht"
deutliche Kritik. Das brachte ihn in Konflikt mit den braunen
Machthabern. Die Gestapo verhaftete ihn kurzzeitig; später
wurde er auch aus dem öffentlichen Dienst
ausgeschlossen.
Es waren die historischen Erfahrungen von NS-Diktatur und Krieg,
die seine Einstellung zur Demokratie grundlegend änderten. Sie
haben ihn zum Verfechter der Demokratie und des Parlaments werden
lassen. Hermann Ehlers war ein entschiedener Demokrat. Sein Einsatz
für die Demokratie aber kam gewiss mehr aus dem Verstand denn
aus dem Gefühl. Er war ein "Vernunftrepublikaner", der sich
auf rationale, nüchterne, pädagogische Weise für die
Demokratie und für das Parlament stark machte und vielleicht
gerade deshalb so viele überzeugte.
Der frühe und unerwartete Tod Hermann Ehlers' löste
große Bestürzung aus. Die Abgeordneten aller Fraktionen
wussten sehr genau, was sie mit ihm verloren hatten. Carlo Schmid,
selbst ein parlamentarisches Urgestein, nannte Hermann Ehlers in
einem Nachruf den "getreuen Eckart" des Parlaments.
Wie groß das Ansehen Hermann Ehlers' bei den Fraktionen des
Hauses war, war schon bei seiner Wiederwahl ein Jahr vor seinem Tod
erkennbar gewesen: Als er sich am 6. Oktober 1953 zum zweiten Mal
den Abgeordneten zur Wahl stellte, wurde er mit mehr als 93 Prozent
der Stimmen in seinem Amt bestätigt. Niemals wieder hat ein
Bundestagspräsident vom Parlament höhere Zustimmung
erhalten.
Hermann Ehlers hat dem Bundestag große Dienste erwiesen.
Vieles von dem, was er damals auf den Weg gebracht hat, wirkt bis
in die Gegenwart fort und wird auch in die Zukunft reichen.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern uns heute dankbar an
Hermann Ehlers, einen bedeutenden Demokraten und Parlamentarier,
einen herausragenden Staatsmann.
(Beifall)
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