Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Eröffnung des Zentrums für interreligiöse Studien am 1. November 2004 in Bamberg
Es gilt das gesprochene Wort
"Als Alexis de Tocqueville 1831 die Vereinigten Staaten von Amerika
besuchte, erlebte er eine Überraschung. Ganz anders als im
aufgeklärten nachrevolutionären Frankreich konnte er dort
beobachten, dass die Religion in Politik und Gesellschaft eine
überaus wichtige Rolle spielte. Heute, fast 200 Jahre
später, erleben wir Ähnliches. "Die Religiosität
unterscheidet Amerika von den meisten anderen westlichen
Gesellschaften", so charakterisierte Samuel Huntington jüngst
(für das Magazin Cicero) die Situation in den USA - also in
dem nach dem Stand der technischen Entwicklung modernsten Land der
Welt. Aber nicht nur in den USA - so Huntington - sondern auch in
den meisten Ländern außerhalb der westlichen Welt steige
der Einfluss religiöser Erneuerungsbewegungen: Das 21.
Jahrhundert beginne als Zeitalter der Religionen.
Gerade in der Zuspitzung lässt sich das Erstaunen über
diesen Befund ablesen. Wir Europäer haben Jahrhunderte
gebraucht, um die allzu enge Verquickung von religiösen und
politischen Fragen zu überwinden. Und nun werden die Propheten
des Niedergangs der Religion - ob sie nun Feuerbach, Nietzsche,
Freud oder Marx hießen - Lügen gestraft.
Spätestens der 11. September 2001 hat uns die Macht
religiöser Überzeugungen wieder vor Augen geführt -
allzu oft war es eine zerstörerische Macht, die im
westlich-europäischen Raum endlich domestiziert schien.
Seitdem reißt die Debatte um einen möglichen oder
tatsächlichen "Kampf der Kulturen" nicht ab. Sie
entzündet sich immer wieder neu an den aktuellen Fragen
danach, wie wir den internationalen Terror besiegen können,
wie der Mittlere und Nahe Osten befriedet werden kann oder –
aktuell – ob die Türkei eines Tages Mitglied der
Europäischen Union werden soll. Mehr noch: Diese Debatte
reicht hinein in unsere Gesellschaft, bis ins tagtägliche
Zusammenleben der Menschen verschiedener Religionen und Kulturen.
"Von einem allmählichen Absterben der Religion kann nicht die
Rede sein", so bilanziert auch Professor Rolf Schieder mit Blick
auf die aktuellen Diskussionen um Moscheebauten in Deutschland, um
Kopftuch tragende Lehrerinnen oder um islamischen
Religionsunterricht an staatlichen Schulen.
Es ist unübersehbar: Religion ist auch wieder auf die
politische Tagesordnung zurückgekehrt. Auch innerhalb unserer
westlichen Gesellschaften gelingt es auf Dauer offenbar nicht, das
rationalistische, individualistische, säkulare
Selbstverständnis der Moderne zum alleinigen Leitbild zu
erheben. In dem Maße, in dem die christlichen Kirchen an
Einfluss verlieren, treten neue religiöse Einflüsse und
Bewegungen auf den Plan. Die Pluralisierung der religiösen und
kulturellen Landschaft ist besonders für die christlichen
Kirchen eine Herausforderung, aber auch für Staat und
Gesellschaft insgesamt. Dabei steht eines fest: Dem Zusammenleben
verschiedener Religionen und Kulturen können wir nicht mehr
ausweichen, wir haben in Deutschland längst eine kulturell
heterogene Gesellschaft. Althergebrachte Vorstellungen von der
weitgehenden Homogenität einer Kultur, wie sie der deutsche
Philosoph Herder im 18. Jahrhundert geprägt hat, sind - falls
sie jemals zutrafen - zu Beginn des 21. Jahrhunderts
überholt.
Nun ist diese Pluralität ja keineswegs ein bloß
deskriptiver, neutraler Begriff, sondern zugleich ein Wert, den man
emphatisch begrüßen oder auch vehement ablehnen kann.
Ich habe in den letzten zehn Jahren eine Beobachtung gemacht, die
allgemeine Gültigkeit zu haben scheint: Auf Gefühle von
Unsicherheit oder gar Bedrohung reagieren Menschen
unterschiedlicher kultureller Herkunft offenbar ähnlich. Sie
reagieren mit dem Rückzug auf das Vertraute und Traditionelle,
mit Abgrenzung oder Aggression gegen das Fremde, mit einem Hang zu
Dichotomien und simplifizierten Feindbildern.
Und so erweisen sich die gegenseitigen Vorurteile zwischen den
Kulturen und damit zwischen uns Menschen als überaus
hartnäckig und zäh. So wird auf der einen Seite "der
Islam" auf seine fundamentalistische Variante reduziert. Und auf
der anderen Seite gilt "der Westen" als Verkörperung einer
gottlosen Moderne, die die religiöse und kulturelle
Identität der islamischen Welt bedroht. Solcherart
wechselseitige Dämonisierung hat eine lange
kulturgeschichtliche Tradition. Sie hat verhindert, dass beide
Seiten die großen Kulturleistungen der jeweils anderen
anerkannt haben, und sie hat über weite Strecken vergessen
lassen, wie fruchtbar sich einst Orient und Okzident in
Wissenschaft und Kultur beeinflusst haben.
Es ist ein Jammer, dass wir in Deutschland zwar ein ungeheures
Wissen über den Islam in wissenschaftlichen Archiven
versammelt haben (das größte außerhalb der
islamischen Welt, hat mir ein islamischer Religionslehrer in
Marokko versichert), dass wir aber den bei uns lebenden gut 3
Millionen Muslimen immer noch größtenteils mit
Gleichgültigkeit und Unverständnis, im schlimmsten Fall
sogar mit Ablehnung und Aggression begegnen. Diese Haltung
verstellt den Blick auf das, was uns kulturell unlösbar
verbindet – die gemeinsamen Grundlagen unserer Religionen. Zu
selten wird darüber gesprochen, dass Islam, Christentum und
Judentum wesentliche Anschauungen gewissermaßen teilen: die
Gleichheit aller Menschen vor Gott, die Verpflichtung zu sozialer
Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe und eben
auch die Forderung nach Bewahrung des Friedens.
Und eine weitere Gemeinsamkeit ist zu nennen, eine Gemeinsamkeit,
die zugleich auch die eigentliche Herausforderung für den
Dialog darstellt. Das ist ihr Absolutheitsanspruch. Religiöse
Überzeugungen erheben einen Wahrheitsanspruch, der das Selbst-
und Weltverhältnis eines Einzelnen ebenso bestimmt wie seine
Vorstellungen über richtiges Handeln in ihnen. Entsprechend
ist ihnen eine stark affektive Dimension eigen, die die
Auseinandersetzungen so tiefgehend und für
Außenstehende, die an einem rationalen Diskursmodell
orientiert sind, oft so wenig zugänglich machen. Allen
interreligiösen Dialogen zum Trotz gilt aber: Für den
Wahrheitsanspruch einer Religion bleibt es ein Stachel, der
religiösen Überzeugung des Anderen dieselbe Dignität
zuzumessen wie der eigenen.
Dem Entstehen neuer Vorurteile und Feindbilder kann bei uns, in
Europa, gerade auch die Erinnerung an die eigene Geschichte
entgegenwirken. Diese Geschichte ist geprägt von Kämpfen
innerhalb des Christentums, von der Verschränkung politischer
Interessen und religiöser Macht - und der schrittweisen
Zivilisierung der Konflikte. Das Christentum hat auch nach den
blutigen europäischen Religionskriegen lange gebraucht, um die
Trennung von Kirche und Staat zu akzeptieren. Diesen Weg zu
Toleranz und Religionsfreiheit ist die katholische Kirche
endgültig erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965
gegangen. Das war ein wichtiger, mühseliger Prozess der
Mäßigung von Religion - aber die unbedingte
Voraussetzung für den inneren Frieden unserer
Gesellschaft.
Das europäische Christentum hat also überhaupt keinen
Grund, sich angesichts inner-islamischer Konflikte stolz in die
Brust zu werfen. Ich erinnere an die wechselvolle europäische
Geschichte, weil sie helfen kann, die Konflikte im Islam zu
verstehen und den Islam nicht als monolithischen Block zu
begreifen. Denn der Islam befindet sich heute ohne Zweifel in
vergleichbaren Auseinandersetzungen: Die einen wollen - aus meiner
Sicht zurück - auf eine Verabsolutierung des Religiösen
als verbindlichen Maßstab sowohl für die Gestaltung des
Lebens jedes Gläubigen als auch für die Regelung der
öffentlichen Angelegenheiten. Die anderen begreifen den Koran
als zwar heiligen, aber doch historischen und damit
interpretierbaren Text, sodass vielfältige Folgerungen daraus
für das Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft gezogen
werden können. Darunter auch die Einsicht, dass Religion
für die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten nicht
unmittelbares Gesetz sein kann.
Die Realität in den islamischen Staaten ist folglich von einer
Vielfalt, die hierzulande nur von wenigen überhaupt
wahrgenommen wird. Die Unterschiede sind greifbar, ob man in
Tunesien und Marokko, ob man in Jordanien oder Palästina, ob
man in der Türkei oder im Iran, in Saudi-Arabien oder im Jemen
ist. Vielleicht sind die Türkei und Ägypten besonders
geeignete Beispiele, weil man dort viele Strömungen zugleich
findet: Verabsolutierung der Religion, Festhalten an Traditionen,
die mit dem Islam, dem Koran nichts zu tun haben, Überwindung
solcher Traditionen, Angst vor Freiheit und Streben nach Freiheit,
Streben nach Vereinbarkeit tiefer Religiosität mit der Moderne
und fundamentalistische Ablehnung der Moderne mit religiösen
Begründungen – kurz: alle Schattierungen von
Verabsolutierung bestimmter Lesarten des Islam bis zur
Mäßigung der Religion. Ich will das gar nicht weiter
erörtern. Solche Unterschiede zu benennen und zu beschreiben
wird eine der wichtigsten Aufgaben dieses Zentrums sein.
Wie wichtig diese Aufgabe ist, das hat gerade die Diskussion um
einen möglichen EU-Beitritt der Türkei gezeigt. Ich bin
froh, dass die Idee einer Unterschriftenaktion fallen gelassen
worden ist. Denn zum einen halte ich nichts davon, auf diese Weise
fremdenfeindliche Emotionen und Unsicherheiten zu
instrumentalisieren, und ich teile auch in der Sache nicht die
verbreitete Skepsis gegenüber den Verhandlungen mit der
Türkei.
Die Türkei gehört zu den Staaten, deren Bestrebung, Islam
und moderne Demokratie miteinander zu vereinbaren, besonders weit
fortgeschritten ist. Der Einfluss Europas und insbesondere
Deutschlands auf die Türkei ist schon lange beträchtlich,
auch weil die Türkei sich ihrerseits traditionell an Europa
und weniger an ihren islamischen Nachbarstaaten orientiert. Der
Wunsch und die Aussicht, potenziell EU-Mitglied werden zu
können, hat bereits in den letzten Jahren erhebliche
Veränderungen in der Türkei bewirkt: Die europäische
Perspektive beschleunigt die demokratischen, rechtsstaatlichen und
wirtschaftlichen Reformprozesse in der Türkei erheblich. Eine
demokratische und rechtsstaatliche Türkei wäre von kaum
zu überschätzendem Einfluss auf die Stabilität der
gesamten Region. Eine demokratische Türkei wäre ein
deutliches Signal, dass islamische Prägung und eine
aufgeklärte, moderne Gesellschaft in einem Staat keinen
Widerspruch darstellen müssen.
Dabei ist es für mich unabdingbar, dass gerade auch die Rechte
der religiösen (christlichen und orthodoxen) Minderheiten in
der Türkei gewahrt werden müssen. Insoweit ist die
Erfüllung des Kriteriums der Religionsfreiheit für die
Mitgliedschaft in der EU unverzichtbar. Die Kritiker einer
Beitrittsperspektive sollten aber einmal darüber nachdenken,
warum gerade die Vertreter der religiösen Minderheiten selbst
Hoffnungen an den baldigen Beginn von Beitrittsverhandlungen
knüpfen.
Insgesamt gilt: Grundlegende Werte sind nicht verhandelbar: die
Würde des Menschen und die Menschenrechte - das Verbot von
Folter und körperlichen Strafen, die persönliche
Freiheit, die Freiheit der Rede, die Religionsfreiheit. Wer
über den Zusammenhang von Religion, Menschenrechten und
Demokratie nachdenkt, der kommt nicht umhin, sich deshalb auch
kritisch mit dem Islam auseinander zu setzen. Im eigenen Interesse
müssen wir danach fragen, wie sich der Islam zum
demokratischen Staat und zu den Menschenrechten, zu Toleranz und
Glaubensfreiheit verhält. Das gilt mit Blick auf den
Türkei-Beitritt, das gilt aber auch mit Blick auf das
Zusammenleben hier bei uns in Deutschland.
Als sich im Januar dieses Jahres der Geburtstag Lessings zum 275.
Mal jährte, war das ein willkommener Anlass, an seine
Verdienste als Aufklärer und als Streiter für
religiöse Toleranz zu erinnern. Lessings Toleranzbegriff
erschöpfte sich nicht im Erdulden und Ertragen der anderen
Religionen. Vielmehr rief Lessing dazu auf, sich mit den
kulturellen Leistungen des Judentums und des Islam auseinander zu
setzen und sie zu respektieren. Aber damit meinte er keineswegs
laissez-faire, Werterelativismus oder Überzeugungslosigkeit.
Für Lessing gehörte es unabdingbar zur herben Tugend der
Toleranz, für die eigene Identität, die eigene Kultur,
die eigenen Grundwerte einzustehen.
Das also müssen wir zusammen denken und zusammen praktizieren:
den Respekt vor der anderen Religion und den Einsatz für die
eigenen Überzeugungen! Und zwar um des demokratischen
Rechtsstaates willen, für dessen Voraussetzungen die
Gesellschaft immer neu sorgen muss, indem sie seine grundlegenden
Werte immer neu stiftet und lebendig hält. Deshalb meine ich
auch, dass ein vollkommen neutraler, ein laizistischer Staat nur
oberflächlich betrachtet von Vorteil wäre. Denn Religion
ist keine Privatsache, sie gehört aus vielen Gründen in
die Öffentlichkeit. "Sie gehört wie die Künste, die
Presse und die übrigen Gedanken zur gesellschaftlichen
Selbstbestimmung, die man nicht ungestraft unterdrückt." (so
Mark Siemons in der FAZ vom 17. März). Schon der eingangs
erwähnte Alexis de Tocqueville hat das übrigens in eine
scheinbar einfache Sentenz gebracht: "Der Despotismus kommt ohne
Glauben aus, die Freiheit nicht."
In diesem Sinne ist es auch eine Chance, dass so viele Menschen
islamischen Glaubens in Deutschland und in Europa leben. Sie leben
hier in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft unter den
Bedingungen der Religionsfreiheit, der Trennung von Staat und
Kirche, der deutlichen Unterscheidung von Politik und
Religion.
Deshalb ist es aus meiner Sicht eine wichtige Frage, ob z. B. die
türkische Religionsbehörde bereit ist, die in Deutschland
lebenden türkischen Muslime in die offene und pluralistische
Gesellschaft und damit in die Integration in Deutschland zu
entlassen.
Denn was ist, wenn eine Religionsgemeinschaft gewisse
Grundsätze der staatlichen Rechtsordnung nicht anerkennt? Wenn
eine Religionsgemeinschaft die Gleichberechtigung von Mann und Frau
nicht anerkennt, wenn sie die Trennung von Religion und Politik
zwar nicht bestreitet, nach innen hin aber daran festhält,
dass eigentlich die staatliche Ordnung den religiösen Vorgaben
folgen müsste? Die Antwort des Verfassungsrechtlers
Ernst-Wolfgang Böckenförde ist eindeutig (ich zitiere):
"Entscheidend ist nicht, was in den Köpfen vorgeht oder sich
bewegt, also die Glaubenslehre und die Gesinnung, sondern das
konkrete Verhalten. (…) Gedanken und Mentalitäten als
solche sind rechtlich zollfrei. Keine Religionsgemeinschaft ist
gehalten, sich zur Wertordnung des Grundgesetzes innerlich zu
bekennen, um ihrer Rechte teilhaft zu werden. Auch das gehört
zur Religionsfreiheit." Genau darin aber scheint mir, liegt ein
wunder Punkt in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem
Islam in Deutschland: Was verfassungsrechtlich zollfrei sein mag,
ist gesellschaftlich noch lange nicht billig. Wir können und
wir müssen verlangen, dass die Menschen, die hier leben, die
Prinzipien unserer Verfassung anerkennen und unsere Gesetze
achten.
Ich bin davon überzeugt, dass gerade die Erfahrung von
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit den Islam so ändern
könnte, dass er von sich aus unsere grundlegenden Prinzipien
und Maßstäbe akzeptieren kann. So, wie sich das
Christentum in einem mühseligen und gelegentlich auch bitteren
Prozess auf die Moderne eingelassen hat, sie sogar ein gutes
Stück weit mitgeprägt hat und dabei immer noch
Christentum ist, so könnte das vielleicht auch der
Islam.
Bisher ist für viele Muslime das Leben in unserer
säkularisierten Gesellschaft allerdings noch eine
Herausforderung. Dabei wissen die meisten den Schutz unserer
Verfassung und die Offenheit dieser Gesellschaft durchaus zu
schätzen. Doch obwohl das Grundgesetz die Freiheit der
Religion und der Ausübung des Glaubens garantiert und obwohl
die Zahl der Gebetsräume und Moscheen bei uns im Lande
ständig wächst, haben viele Muslime offenbar Angst davor,
diesen eigenen Glauben nicht mehr leben zu können. Sie
fürchten, nach und nach ihre kulturelle Identität zu
verlieren, und reagieren mit bewusster Abgrenzung oder gar
Abschottung.
Im täglichen Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen
irritieren nicht so sehr die unterschiedlichen Religionen, sondern
vor allem die unterschiedlichen Einstellungen zum Glauben. Deshalb
ist auch der Kopftuchstreit nicht nur ein rechtliches Problem,
sondern er stellt uns auch vor die Frage, was Integration für
wen bedeutet und wie weit sie gehen soll. Hierauf gibt es keine
einfachen Antworten. Nur, dass Integration konfliktfrei verlaufen
könnte, das kann man wohl sicher ausschließen.
Das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen ist nach
wie vor alles andere als selbstverständlich. Was also
können wir tun, um jenes Verständnis füreinander zu
entwickeln, ohne das es keinen Respekt und kein Vertrauen gibt?
Dabei ist es kein Widerspruch zu fragen, ob Religionsrecht nicht
künftig stärker auch als Gefahrenabwehrrecht konzipiert
werden muss? Wir alle müssen ein Interesse daran haben, dass
unser Gemeinwesen gegen den Missbrauch des Rechtsstaats mit den
Mitteln des Rechtsstaats gefeit ist. Die Religionsfreiheit darf
gerade nicht als Immunisator missbraucht werden, unter dessen
Schutz die Fundamente der Gesellschaft untergraben werden.
Deshalb stellt sich ganz unzweifelhaft die Gretchenfrage derzeit
mit der Demokratiefähigkeit (und -willigkeit!) des Islam. Dies
hängt eng mit der Anerkennung der Religionsfreiheit zusammen.
Gerade um hier Pauschalurteile (oder besser:
Pauschalverurteilungen) zu vermeiden, bedarf es des Mutes, um
Standards zu streiten, Ungleiches als ungleich zu erkennen und zu
benennen. Nur dann kann nämlich der Islam von Islamismus
geschieden werden.
Eine solche politische Streitkultur ist dringend nötig - eine
Streitkultur freilich, die den besonderen Charakter religiöser
Überzeugungen achtet und die andere Überzeugung nicht nur
vom Hörensagen kennt.
Die Konferenz Europäischer Kirchen und der Rat der
Europäischen Bischofskonferenzen haben im vergangenen Jahr ein
Arbeitspapier zur Begegnung mit Muslimen vorgelegt, in dem viele
vernünftige Schritte zu Begegnung und Dialog beschrieben
werden. Darin liest man zum Beispiel, wie notwendig es ist,
einander immer wieder friedlich zuzuhören und die
Ähnlichkeiten und Unterschiede der Religionen mit ruhigem
Verstand zur Kenntnis zu nehmen. Denn der interreligiöse
Dialog kann nur gelingen, wenn wir alles tun, um diffusen
Ängsten vor dem so genannten "Eindringen" von "fremden"
kulturellen Einflüssen entgegenzuwirken - und ihnen im Fall
fremdenfeindlicher Ideologie, von Antisemitismus und
rechtsradikaler Gewalt auch mit aller Schärfe
entgegenzutreten.
Auch in den aktuellen Debatten um das Kopftuch oder um den
Türkei-Beitritt zeigt sich, wie groß die Angst vor einer
Vermischung der Lebensstile, der Werte und Glaubensvorstellungen,
vor einem Verlust der eigenen (religiösen) Identität
immer noch ist. Doch wir wissen: Ein großer Teil dieser Angst
resultiert aus Unwissenheit. Wir brauchen deshalb vor allem eine
differenzierte Aufklärung über die fremden Kulturen,
Religionen, Sitten und Ideale - in den Schulen, in den Hochschulen,
in den Medien. Der eigene Erfahrungshorizont muss sich öffnen
für neues Wissen und neues Verstehen, ohne sich zugleich von
den eigenen Grundwerten zu verabschieden oder sich einem
Werterelativismus zu verschreiben.
Aus all diesen Überlegungen ergeben sich zahlreiche Aufgaben
für die Gesellschaft. So muss vor allem der Bildungsbereich
den sich wandelnden kulturellen Rahmenbedingungen Rechnung tragen.
Die Vermittlung interkultureller Kompetenz wird eine
Schlüsselqualifikation der Zukunft und somit auch Aufgabe
unserer Schulen und Universitäten. Sie erfordert nicht nur
tagtägliche Einübung in Toleranz, sondern auch eine
Öffnung des bislang auf die abendländische Historie
konzentrierten Geschichtsunterrichts. Noch reduzieren unsere
Lehrbücher die Berührung des christlichen Abendlandes mit
der islamischen Welt auf die Darstellung militärischer
Ereignisse. Das ist unbefriedigend. Besser wäre eine
fächerübergreifende Beschäftigung mit der
Gegenwartskultur anderer Regionen und Kontinente, mit ihrer Kunst,
Musik, ihren religiösen Traditionen.
Auch und gerade die Religionswissenschaft kann sich nicht mehr
allein um Fragen der Religionsgeschichte kümmern. Sie hat auch
nach der Rolle der Religionen in den heutigen Gesellschaften zu
fragen und nach ihrem Beitrag zur Lösung der interkulturellen
Probleme. Deshalb ist es gut und wichtig, wenn sie - wie das hier
in Bamberg geschehen soll - die Zusammenarbeit mit anderen
Disziplinen sucht, möglichst auch mit Forschern aus anderen
kulturellen Zusammenhängen.
Das Zentrum für interreligiöse Studien ist ein
Forschungsprojekt von beträchtlicher gesellschaftlicher
Relevanz, und es ist ein Beispiel dafür, dass auch in Zeiten
finanzieller Engpässe nicht ausgerechnet an
geisteswissenschaftlicher Bildung und Forschung gespart werden
darf. Denn die Rückkehr religiöser Fragen auf die
(politische) Tagesordnung hat uns vor Augen geführt, dass es
auf Dauer nicht ausreicht, wenn sich eine Gesellschaft
überwiegend den ganz säkularen, technischen,
wirtschaftlichen Fragen widmet. In der interreligiösen und
interkulturellen Bildung liegt ein wichtiger Schlüssel
für die Zukunft unserer Gesellschaft: Ob dieses Projekt
gelingt, ob es Einfluss hat und Nachahmer findet, das entscheidet
mit darüber, wie wir in Deutschland künftig mit fremden
Religionen und Kulturen umgehen: ob wir einander mit Scheuklappen
begegnen oder mit offenen Augen für die Vielfalt der Kulturen,
den immensen zivilisatorischen Reichtum und die Chance auf eine
Horizonterweiterung im gegenseitigen Austausch.
Ich bin davon überzeugt, dass die Begegnung der Kulturen
keineswegs die große Gefahr des 21. Jahrhunderts ist. Lassen
Sie mich zum Schluss einen iranischen Poeten aus dem 13.
Jahrhundert zitieren, der die Sache auf den Punkt gebracht hat:
Sadi Saadi schrieb: "Alle Menschen sind Teil des Ganzen, da sie
– in der Schöpfung - den gleichen Ursprung haben. Ihre
Gemeinschaften können demnach nicht unabhängig
voneinander existieren und sollten voneinander lernen." Dieser
Gedanke ist beinahe 800 Jahre alt! Dieses Neben- und Miteinander
birgt die Chance, im Blick auf das Fremde, das Andere zugleich auch
das Bewusstsein für das Eigene zu schärfen. Es offenbart
einen größeren kulturellen Reichtum und es befruchtet
den Intellekt - wenn man denn bereit ist, aufeinander zuzugehen und
einander zuzuhören.
Ich freue mich, dass sich die Universität Bamberg dieser
Herausforderung annimmt. Bamberg ist eine relativ kleine, aber
traditionsreiche Universität, die mit Lehrstühlen
für katholische und evangelische Theologie,
Islamwissenschaften, Orientalistik und Politikwissenschaften gute
Voraussetzungen dafür hat (und natürlich wäre es
schön, wenn es gelänge, auch Fragestellungen aus dem
Bereiche der Judaistik in das Forschungsprojekt einzubeziehen). Das
Zentrum für interreligiöse Studien will einen Beitrag
dazu leisten, die Debatte um "den Westen" und "den Islam" auf eine
sachlich fundierte Basis zu stellen. Ich wünsche Ihnen
für diese anspruchsvolle Aufgabe, für die nun beginnende
Forschungsarbeit viel Erfolg, ausreichende Förderung und vor
allem auch die gehörige gesellschaftliche Anerkennung."
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