Bundestagspräsident Thierse: "Tage der Arabischen Welt" eröffnen Chance zu einem Perspektivenwechsel
Es gilt das gesprochene Wort
Nach Auffassung von Bundestagspräsident Wolfgang
eröffnen die heute im Deutschen Bundestag beginnenden "Tage
der Arabischen Welt" die Chance zu einem Perspektivenwechsel.
Dieser Perspektivenwechsel sei geradezu überfällig in
einer Welt voller alter und neuer Feindbilder, sagte Thierse heute
bei der Begrüßung zu der dreitägigen Veranstaltung
mit mehreren hundert Teilnehmern aus Deutschland, Europa und der
Arabischen Welt im Paul-Löbe-Haus. Die "Tage der Arabischen
Welt" sollen ein Forum des Dialogs und der Begegnung werden. In
seiner Rede führte Bundestagspräsident Thierse unter
anderem aus:
"Im Namen der Mitglieder des Deutschen Bundestages
begrüße ich Sie herzlich zu den "Tagen der Arabischen
Welt" in Berlin. Diese Konferenz verdankt sich einer Initiative von
drei Parlamentariergruppen und soll die Vielfalt der Beziehungen
Deutschlands und Europas zu den Ländern der arabischen Welt
beleuchten.
Die "Tage der Arabischen Welt" eröffnen die Chance zu einem
Perspektivenwechsel. Dieser Perspektivenwechsel ist geradezu
überfällig in einer Welt voller alter und neuer
Feindbilder. Der vermeintliche Kampf der Kulturen und Religionen,
die reale Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, die
täglichen Schreckensmeldungen aus dem Irak, der Konflikt
zwischen Israel und den Palästinensern - all diese
Entwicklungen sind auf bloß regionaler Ebene kaum zu
lösen. Hier sind der Einfallsreichtum und das Engagement der
Weltgemeinschaft gefordert, hier stehen unsere Länder
gemeinsam in der Verantwortung.
Der eingeforderte Perspektivenwechsel soll von diesen Problemen
keineswegs ablenken, ganz im Gegenteil: Er soll die Länder der
arabischen Region, die Menschen dort, die politisch Handelnden in
ein differenzierteres Licht rücken. Er soll aber auch unsere
eigene Wahrnehmung der arabischen Welt, ihrer Kulturen, ihrer
Gesellschaften, ihrer religiösen Traditionen kritisch
hinterfragen. Wir Europäer haben gute Gründe dies zu tun,
denn unsere Vorstellungen von dieser für viele von uns noch
immer fremden Welt sind nicht frei von Unkenntnis, Vorurteilen,
falschen Verallgemeinerungen, obwohl die arabischen Staaten unsere
unmittelbaren Nachbarn sind.
Der Begegnung, dem Zusammenleben verschiedener Kulturen und
Religionen können und wollen wir nicht ausweichen. Die Staaten
der Europäischen Union sind längst multi-religiös,
multi-ethnisch. Mehr als drei Millionen Muslime leben allein in
Deutschland, in der Europäischen Union sind es
schätzungsweise 13 Millionen. Wir haben also längst eine
kulturell heterogene Gesellschaft - mit all ihren Chancen und
Problemen.
Auch für viele Muslime stellt das Leben in unserer
säkularisierten Gesellschaft noch immer eine enorme
Herausforderung dar. Dabei wissen die meisten den Schutz unserer
Verfassung und die Offenheit dieser Gesellschaft durchaus zu
schätzen. Doch obwohl das Grundgesetz die Freiheit der
Religion und der Ausübung des Glaubens garantiert und obwohl
die Zahl der Gebetsräume und Moscheen bei uns im Lande
ständig wächst, fürchten einige Muslime um ihre
kulturelle Identität und reagieren mit bewusster Abgrenzung
oder gar Abschottung.
Die unmittelbare Nachbarschaft der verschiedenen Religionen in den
westlichen Gesellschaften funktioniert nicht immer reibungslos,
insbesondere dann nicht, wenn Fundamentalisten das Sagen haben.
Doch deren Konflikte mit der liberalen Gesellschaft sind keineswegs
kultureller Natur. Sie rühren vielmehr an unser Staats- und
Rechtsverständnis und stellen den Kern unserer Grundrechte und
Freiheiten in Frage - die Religionsfreiheit, die Glaubensfreiheit,
die Gewissensfreiheit. Auf diese Freiheiten zu verzichten, dazu ist
die Mehrheitsgesellschaft aus guten Gründen nicht bereit. Und
der Rechtsstaat steht in der Pflicht, diese Grundsätze zu
verteidigen - die deutliche Trennung von Staat und Kirche, die
klare Unterscheidung von Politik und Religion, die Freiheit des
Glaubens. Die europäische Erfahrung besagt, dass friedliches
Zusammenleben nur möglich ist, wenn man bei der Regelung
öffentlicher, politischer Angelegenheiten auf die Entscheidung
über die letzten Wahrheiten der Religion verzichtet. Erst wenn
das gewährleistet ist, können Angehörige
verschiedener Religionen auf Dauer zusammenleben und ohne
Diskriminierung ihren Glauben frei leben, also im Alltag
praktizieren und an Jüngere vermitteln. Auch und gerade
Minderheiten können darauf vertrauen, dass der liberale
Rechtsstaat sie schützt.
Ich wünsche mir allerdings, dass der interkulturelle Dialog
nicht nur ein Dialog zwischen Politikern ist. Wir brauchen ebenso
einen organischen Dialog der Religionen, der als theologischer
Disput geführt wird. Auch deshalb plädiere ich
dafür, dass es künftig an unseren Universitäten
Lehrstühle für islamische Theologie gibt, so wie wir
andere theologische Lehrstühle haben.
Ich wünsche mir aber auch, dass sich die Muslime in
Deutschland eine klarere Organisationsstruktur auf Länder- und
Bundesebene geben und sich auf eine gemeinsame Interessenvertretung
einigen. Die Politik braucht Hauptansprechpartner, die sich auf das
Institutionengefüge der demokratischen Gesellschaft einlassen
- zum Beispiel in Fragen des islamischen Religionsunterrichts oder
bei der offenen Auseinandersetzung mit fundamentalistischen
Bestrebungen. Sollte das nicht möglich sein?
Ich bin froh und dankbar, dass Sie nach Berlin gekommen sind, um
über diese und viele andere Fragen zu diskutieren. Ich hoffe,
Sie fühlen sich wohl in unserer lebendigen, weltoffenen Stadt
und hier im Deutschen Bundestag, dem Zentrum unserer Demokratie.
Das Konferenzprogramm für die nächsten Tage ist sehr
umfangreich, aber einen bequemen Weg, die Beziehungen zwischen
Europa und der arabischsprachigen Welt auszubauen, zu verbessern,
gibt es nicht. Ich wünsche uns allen, dass die "Tage der
Arabischen Welt" neue Wege in eine gemeinsame friedliche Zukunft
aufzeigen und das Verständnis füreinander wachsen
lassen."
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