Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > Blickpunkt Bundestag > Blickpunkt Bundestag - Jahresübersicht 2000 > Deutscher Bundestag - Blickpunkt 04/2000 >
April 04/2000
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

interview

Blickpunkt Bundestag startet neue Serie: Junge Journalisten fragen junge Abgeordnete

"Freiheit gewonnen und Freiheit verloren"

Birte Betzendahl: Carsten, du hast selbst über dich gesagt, dass du dich am Anfang als Abgeordneter in der Partei "hinten anstellen" musstest. Wo siehst du dich jetzt in deiner Partei?

Birte Betzendahl (20) im Gespräch mit Carsten Schneider (24).
Birte Betzendahl (20) im Gespräch mit Carsten Schneider (24).

Carsten Schneider: In der Fraktion. So ganz hinten stellt man sich ja nicht an, jeder hat ein bestimmtes Selbstbewusstsein. Alle Abgeordneten sind gleich – manche sind halt ein bisschen gleicher, und wer länger dabei ist, steht schneller im Mittelpunkt. Deswegen ist es für neue, nicht nur für junge, Abgeordnete sowieso schwer, sich in der Fraktion erst einmal zurechtzufinden. Wie die Rituale so ablaufen, wie Entscheidungen getroffen werden, wer das Sagen hat und wer Entscheidungen maßgeblich beeinflusst.

Wie findet man das heraus?

Das kriegt man im Laufe der Zeit mit. Zum Beispiel in einer Fraktionssitzung: Eine bestimmte Person spricht, und plötzlich merkt man, wie sich die Meinungsbildung drehen kann.

Was die politischen Entscheidungsprozesse anbetrifft, sind wir natürlich noch ein bisschen außen vor. Das läuft sehr stark in der Regierung, in der kaum einer von den jungen Abgeordneten ist und zum anderen in Abstimmung mit der Fraktionsspitze, wo ebenfalls keiner von den jüngeren Abgeordneten sitzt. Von daher ist es noch etwas schwierig.

Du bist im Haushaltsausschuss. Der hat ja den Ruf, dass dort viele erfahrene Leute sitzen. Wie bist du da hineingekommen – allein aus Interesse?

Durch Zufall. Normalerweise kommt man da erst nach zwei oder drei Legislaturperioden rein. Bei mir war es so, dass ich als einziger Thüringer etwas mit Finanzen machen wollte, ich wollte in den Finanzausschuss. Der Platz dort war besetzt, aber im Haushaltsausschuss war einer für Thüringen frei. Und da kein anderer Abgeordneter den Platz wollte, kam ich also in den Haushaltsausschuss.

Und im Haushaltsausschuss selbst, beziehungsweise in der Fraktion, wie ist das da mit den älteren Abgeordneten – bekommt man als junger Mensch genügend Respekt, wird man akzeptiert?

Ja, das war am Anfang schwierig. Gerade im Haushaltsausschuss waren meine Kollegen sehr, sehr skeptisch. Auch heute wird noch alles sehr genau beäugt, was ich so sage und mache. Das wird mit einem anderen Maß gemessen, als das bei normalen Abgeordneten der Fall ist. In der Fraktion ist das ähnlich. Man kann sich da letztendlich nur durchsetzen und Vertrauen gewinnen, wenn man seine Arbeit ordentlich macht. Und die anderen dann das Gefühl haben, dass das kein Spinner ist, sondern dass der sich wirklich um seine Angelegenheiten kümmert. Man muss eine klare Position beziehen, also auch mal nein sagen. Wenn man ordentliche Politik macht und morgens noch in den Spiegel gucken kann, dann ist das, glaube ich, auch für die Akzeptanz innerhalb der Fraktion das Beste.

Hat das lange gedauert, bis du deinen eigenen Standpunkt gefestigt hast und diesen den anderen Abgeordneten gegenüber vertreten konntest?

Ja klar, das hat schon so ein halbes Jahr gedauert ...

... bis du dich auch richtig eingelebt hattest.

Man muss erst mal kapieren, was für Möglichkeiten man hat. Wo ist welches Ministerium, welche Rechte habe ich als Abgeordneter, wie lautet die Geschäftsordnung? Die Büros müssen eingerichtet, Mitarbeiter eingestellt und das Wahlkreisbüro muss aufgebaut werden – wir hatten damals noch drei Wahlkämpfe hintereinander. Das war schon alles ziemlich stressig zu Anfang. Man musste an tausend Dinge denken.

Du hattest vorher keine Erfahrungen mit dem Parlament, du warst Bankkaufmann.

Ich hatte überhaupt keine parlamentarische Erfahrung.

Wie bist du überhaupt Abgeordneter geworden? Wie kommt man als 22-Jähriger dazu?

Ich bin 1995 in die SPD eingetreten. Dann hat die SPD 1997 einen Kandidaten für Erfurt gesucht. Zwei haben sich beworben, und wir von den Jusos waren der Meinung, dass das nicht die besten seien.

Fiel dir die Entscheidung schwer, dich als Kandidat aufstellen zu lassen und in die Politik zu gehen?

Ja, das fiel mir sehr schwer.

Und warum hast du es dann doch gemacht?

Es war einfach eine riesige Herausforderung.

Du hast in einem Interview mal von Abenteuerlust gesprochen.

Ja, ja, genau das.

Und wie ist es mit den anderen jungen Abgeordneten, denjenigen unter 30? So viele sind es ja nicht. Gibt es da fraktionsübergreifend Kontakte?

Es sind mehr geworden, gerade in unserer Partei. Da gibt es keine Berührungsängste. Wir trinken ab und zu mal ein Bier zusammen.

Wie muss man sich denn so ein Gespräch unter jungen Abgeordneten bei einem kühlen Bier vorstellen? Redet ihr da nur über Politik oder zum Beispiel auch über die neue Oasis-CD?

Über Fußball! Manchmal auch ein bisschen über Politik. Das ist erstaunlich – wenn ich normale Gespräche mit Bürgern oder Freunden führe, dann fragen die mich nach der Politik, und das ist dann das Thema. Aber wenn ich mit Politikern hier in Berlin zusammen rede, dann geht es fast nie um Politisches.

Wenn du mit deinen Freunden über Politik redest, vermisst du dann manchmal das andere, jugendliche Leben?

Ein bisschen.

Was hast du aufgegeben dafür, dass du jetzt Politiker bist?

Ich habe Freiheit verloren und Freiheit gewonnen. Ich habe Freiheit verloren in punkto Zeit, Freizeit. Ich habe Freiheit gewonnen in punkto persönlicher Freiheit. Ich bin finanziell nicht mehr eingeschränkt, ich kann meinen Zeitplan freier einteilen. Er ist zwar immer voll, aber ich habe zumindest die Möglichkeit. Ich muss nicht morgens um 8.00 Uhr hier sein. Wenn ich keinen Termin habe, kann ich auch mal um 10.00 Uhr kommen. Das prägt sehr stark.

Du hast deine Entscheidung aber nie bereut, auch nicht im Hinblick auf die verlorene Freiheit.

Nein, ich würde mich ja sonst nur ärgern, dass ich es nicht gemacht hätte. Natürlich wünscht man sich manchmal, dass man mehr Zeit mit seinen Freunden verbringen könnte, aber das ist nicht so schlimm. Ich habe ja mit der Politik auch angefangen, weil mir das andere zu langweilig geworden ist. Die Zeit, die ich jetzt in Erfurt habe, die nutze ich intensiver. Ich verlottere sie nicht so sehr, sondern versuche, alles sehr bewusst zu erleben.

Warum bist du in die Politik gegangen?

Nachdem ich mich anderthalb Jahre auf das Abitur konzentriert und nichts anderes gemacht habe, fing ich die Banklehre an, und die war langweilig.

Und dann hast du dir überlegt, Politiker zu werden?

Ja, sukzessive. Die Ausbildung war langweilig, ich wollte mich politisch engagieren, die 94er Wahl fand ich absolut unbefriedigend, ich fand auch den Wahlkampf der SPD furchtbar und dachte mir: "Denen muss man helfen!".

Würdest du es jungen Leuten empfehlen, so früh in die Politik zu gehen? Du warst 22 ...

Ich würde es nicht jedem empfehlen.

Wer muss man sein oder welche Fähigkeiten muss man haben, um so jung Politiker werden zu können?

Selbstvertrauen. Wir kochen hier auch alle nur mit Wasser. Das sind ganz normale Leute. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind ein Querschnitt der deutschen Bevölkerung. Also, man braucht Selbstbewusstsein, man sollte kommunikationsfähig und gesellschaftlich interessiert sein und die Fähigkeit haben, sich in verschiedenste Sachverhalte einarbeiten zu können. Und natürlich soziale Kompetenz. Man muss immer abwägen, welche Auswirkungen Entscheidungen auf die Bevölkerung haben.

Und was glaubst du, ist die Ursache dafür, wenn sich Jugendliche wenig engagieren und so wenig motiviert sind?

Wir haben ein sehr egoistisches, ichbezogenes Bild in den Medien vorgelebt bekommen. Starker Individualismus, was ja nicht unbedingt falsch ist. Aber ohne dass es überhaupt noch einen Wert darstellt, ohne dass es noch eine Ehrung gibt für gesellschaftliches Engagement, kann es keinen Anreiz dafür geben. Das ist eine Sache von Geben und Nehmen. Meines Erachtens muss die Politik, vor allem auch Bundespräsident Rau, ein klares Wort sagen, ähnlich wie Kennedy: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst."




Carsten Schneider
Carsten Schneider

Carsten Schneider, im Januar 1976 in Erfurt geboren, ist seit Oktober 1998 Mitglied des Bundestages. Der Sozialdemokrat ist der jüngste Abgeordnete, der je direkt in den Bundestag gewählt wurde. Nach dem Abitur 1994, einer Ausbildung zum Bankkaufmann und Zivildienst in der Jugendherberge seiner Heimatstadt arbeitete er bei der Stadtsparkasse Erfurt. In die SPD trat er 1995 ein.
Carsten Schneider ist u.a. Vorsitzender des SSV Erfurt-Nord.





Birte Betzendahl
Birte Betzendahl

Birte Betzendahl wurde im April 1980 in Bielefeld geboren. Ihre Abitur bestand sie im Sommer 1999; sie engagierte sich als Schülersprecherin ihres Gymnasiums und in der Redaktion der Schülerzeitung. Nach einem Praktikum bei der Tageszeitung "Westfalen Blatt" war sie dort als freie Mitarbeiterin tätig. Seit dem Wintersemester 1999/2000 studiert Birte Betzendahl an der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0004/0004072
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion