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Fit für die Zukunft
Das seit über Hundert Jahren in Deutschland bestehende Gesundheitssystem ist nicht fit für die Zukunft, meinen sowohl SPD als auch Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP. Die Krankenversicherung muss dringend reformiert werden, weil sie den Anforderungen einer immer älter werdenden Gesellschaft nicht mehr gerecht wird. Welche Reformen jedoch tatsächlich notwendig sind, darüber gibt es in den Bundestagsfraktionen verschiedene Ansichten.
Ausgangspunkt der Überlegungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist die Tatsache, dass die gesetzliche Krankenversicherung derzeit fast ausschließlich durch die Beiträge von abhängig beschäftigten Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern finanziert wird. Andere Einkunftsarten, wie zum Beispiel Miet- und Zinseinkünfte, werden nach Ansicht der beiden Parteien bevorzugt behandelt, weil darauf keine Beiträge erhoben werden. So entstehe die paradoxe Situation, dass ein Versicherter mit hohem Einkommen aus abhängiger Beschäftigung mehr Beiträge bezahle als ein Versicherter mit einem gleich hohen Einkommen, das er mehrheitlich aus Kapitaleinkommen bezieht. Bevorzugt würden auch Gutverdiener, Beamte, Politiker und Selbstständige, weil diese sich auch in der privaten Krankenversicherung versichern könnten.
Diese Struktur führt nach Einschätzung der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen das solidarische Prinzip der gesetzlichen Krankenversicherung ad absurdum. Gerade die Bezieher von höheren Einkommen beteiligten sich nicht oder nur wenig an der Finanzierung des solidarischen Gesundheitssystems. Die Tendenz sei klar: Die Kranken und Geringverdiener bleiben in der gesetzlichen Krankenversicherung, die Gesunden und Gutverdiener wechseln in private Versicherungen.
Für SPD und Bündnis 90/Die Grünen heißt die Lösung daher „Bürgerversicherung“. Grundgedanke dieses Systems ist die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung, also auch der Beamten und der Selbstständigen, und die Ausweitung der Beitragserhebung auf mehrere Einkommensarten. Nicht die Quelle der Einkommen, sondern deren Höhe soll über die Höhe der Beiträge entscheiden. Auf diese Weise will die rot-grüne Koalition die Einnahmen der Krankenversicherung erhöhen und gleichzeitig stabilisieren. Ziel ist eine nachhaltige Senkung der Lohnnebenkosten.
Konkrete Modelle für eine Bürgerversicherung gibt es bisher nur bei der SPD. Auf dem Tisch liegt ein Konzept, dass eine Arbeitsgruppe unter Führung von SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles entwickelt hat. Es sieht im Kern vor, die Trennung von privaten und gesetzlichen Krankenkassen aufzuheben und so Beamte und Selbstständige in das neue System einzubeziehen. Das soll erreicht werden, indem private wie gesetzliche Krankenkassen einen so genannten Tarif Bürgerversicherung anbieten. Er ist gekennzeichnet durch die folgenden fünf Elemente:
Die gesetzlichen Kassen sollen dem Konzept zufolge künftig nur noch den neuen Tarif Bürgerversicherung anbieten. Die privaten Kassen (PKV) dürfen neue Kunden ebenfalls nur noch zum Tarif Bürgerversicherung annehmen. Wer schon privat versichert ist, kann in den neuen Tarif wechseln, muss aber nicht. Die herkömmlichen PKV-Tarife laufen dennoch langsam aus.
Gemäß den Prinzipien der Bürgerversicherung will die Arbeitsgruppe zudem die Beiträge nicht auf Arbeitseinkommen beschränken, sondern auf Zinsen und Dividenden ausdehnen. Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung bleiben allerdings ausgenommen. Für Kapitalvermögen hat die Arbeitsgruppe zwei Varianten der Beitragserhebung vorgeschlagen. In der ersten Variante, dem Zwei-Säulen-Modell, wird auf Kapitaleinkünfte zwischen dem Sparerfreibetrag (1.370 Euro jährlich) und der Beitragsbemessungsgrenze (im Jahr 2005 liegt sie bei 3.525 Euro monatlich) der volle Beitragssatz erhoben. Bei der zweiten Variante, dem Kapitalsteuermodell, wird auf eine noch einzuführende Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte ein Zuschlag von sieben Prozent erhoben und an die Krankenkassen abgeführt. Für höhere Einkommen aus Kapitalvermögen gibt es anders als bei dem Zwei-Säulen-Modell keine Begrenzung.
Die finanzielle Entlastung der Versicherten ist in beiden Modellen fast gleich. Mit dem Zwei-Säulen-Modell ließe sich der Beitrag den Berechnungen zufolge von jetzt etwa 14,2 auf 12,3 Prozent senken, mit dem Kapitalsteuermodell auf 12,6 Prozent. Diese Berechnung geht allerdings davon aus, dass die Bürgerversicherung auf einen Schlag eingeführt wird. Da aber kein privat Krankenversicherter in die Bürgerversicherung gezwungen werden kann, dürften die Beiträge wesentlich langsamer sinken.
Bündnis 90/Die Grünen, die die Diskussion über eine Bürgerversicherung unter das Motto „Eine für alle“ gestellt haben, haben bisher noch kein durchgerechnetes Modell für eine Bürgerversicherung vorgelegt. Die von der Partei formulierten Eckpunkte sind allerdings im Wesentlichen identisch mit denen der SPD.
Es gibt aber auch Unterschiede. So wollen die Grünen auch Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung mit Beiträgen belegen, obwohl diese Einkommensart wegen der geltenden Abschreibungsregelungen kurzfristig die Bemessungsgrundlage nicht wesentlich erweitert. Es gehe jedoch grundsätzlich um mehr Gerechtigkeit, heißt es zur Begründung. Im Gegensatz zur SPD wollen die Grünen zudem die beitragsfreie Mitversicherung von Ehegatten durch ein so genanntes negatives Ehegattensplitting einschränken. Künftig soll das Einkommen der Eheleute rechnerisch auf beide Personen verteilt werden. Danach sollen beide Einkommenshälften mit Beiträgen belastet werden. Nach Ansicht der Grünen wird damit eine Benachteiligung im bisherigen System beseitigt. Denn Doppelverdiener-Ehepaare würden heute trotz gleichem Gesamteinkommen oft deutlich stärker mit Beiträgen belastet als Einverdiener-Ehepaare. Von der Neuregelung ausgenommen werden nach Vorstellungen der Grünen Paare, die Kinder erziehen oder Familienangehörige pflegen. Ziel der Grünen ist eine Absenkung des Beitragssatzes auf rund 12,5 Prozent. Anders als die SPD haben Bündnis 90/Die Grünen zusätzlich einen Höchstbetrag von 13 Prozent für die Bürgerversicherung festgelegt. Sie wollen den Gesetzgeber zum Eingreifen verpflichten, wenn der Deckel zu übersteigen droht. Was in diesem Fall konkret geschehen soll, ist allerdings noch nicht festgelegt.
CDU und CSU wollen ebenfalls von der einseitigen Bindung der Beiträge an Löhne und Gehälter wegkommen. Sie wollen die Gesundheitskosten weitgehend von den Arbeitskosten abkoppeln und vor allen Dingen Mittelstand und Durchschnittsverdiener von den Gesundheitskosten entlasten. Denn im heutigen System mit Beitragsbemessungsgrenze wird gerade diese Gruppierung über Gebühr beansprucht, während so genannte Besserverdiener, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen, wegen des Äquivalenzprinzips nicht entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Beitragszahlung herangezogen werden.
Um diese Ziele zu erreichen, will die CDU/CSU das bisherige System der einkommensabhängigen Beiträge zum Teil aufgeben. In Zukunft soll jeder Versicherte (gerechnet auf der Basis der heutigen Leistungsausgaben der Krankenkassen) durchschnittlich zirka 109 Euro als persönliche Gesundheitsprämie an seine Krankenkasse zahlen. Damit hat der Versicherte netto mehr in der Tasche. Der Höchstbetrag liegt bei sieben Prozent des Bruttoeinkommens, wobei alle Einkünfte zählen, also auch Zinsen, Dividenden oder Mieteinnahmen. So werden auch Besserverdienende entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Prämienzahlung herangezogen. Ein Versicherter mit einem Einkommen von 1.000 Euro müsste danach 70 Euro zahlen. Die Differenz zur vollen Prämie soll nach den Vorstellungen der CDU/CSU in einem automatisierten Verfahren über das Finanzamt erstattet werden. Die beitragsfreie Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehegatten wird aufgehoben. Auch die Arbeitgeber beteiligen sich nach diesem Modell weiterhin an den Gesundheitskosten. Sie zahlen einen dauerhaft festgeschriebenen Satz von 6,5 Prozent des beitragspflichtigen Bruttoeinkommens, was nach Berechnungen der CDU/CSU insgesamt einen Betrag von rund 65 Milliarden Euro ausmacht. Von diesem Geld fließen zirka 60 Euro pro Versichertem als „Arbeitgeberprämie“ an die Kassen. Insgesamt sind dafür rund 41 Milliarden Euro vorgesehen. 16 Milliarden Euro sind zur Finanzierung des Solidarausgleichs für Geringverdiener – also zur Aufstockung der persönlichen Prämie auf zirka 109 Euro – vorgesehen. Die restlichen acht Milliarden Euro will die CDU/CSU verwenden, um auch Kinder weiterhin beitragsfrei zu versichern. Da die Summe aber nicht ausreicht – die kostenlose Mitversicherung von Kindern wird etwa 15 Milliarden Euro kosten – hat die CDU/CSU zusätzlich ihr Steuerkonzept geändert. So soll der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer nicht wie ursprünglich geplant von 42 auf 36 Prozent, sondern nur auf 39 Prozent gesenkt werden. Durch diese Änderung werden die fehlenden sieben Milliarden Euro aufgebracht. Für privat Versicherte, Beamte oder Selbstständige ändert sich durch das Modell gegenüber heute nichts. Allerdings sollen auch die Kinder von privat Versicherten künftig beitragsfrei versichert sein. Über die Steuer beteiligen sich auch privat Versicherte an der Finanzierung der Kinderprämie. Denn die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an deren Finanzierung sich alle zu beteiligen haben. Die CDU/CSU verspricht sich von ihrem Konzept eine Entlastung des Durchschnittsverdieners, eine dauerhafte Stabilisierung der Lohnnebenkosten und eine Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Für die FDP sind weder Bürgerversicherung noch Gesundheitsprämie eine Alternative. Die Liberalen wollen das gesamte Krankenversicherungssystem einschließlich der Krankenkassen privatisieren. Nach dem FDP-Modell muss jeder Bürger eine Krankenversicherung abschließen, die zumindest eine Basisversorgung gewährleistet, aber auch deutlich darüber hinausgehen kann. Die Basisversorgung entspricht dabei vom Grundsatz her den heutigen GKV-Leistungen mit Ausnahme bestimmter Teile der Zahnmedizin, unter anderem des Zahnersatzes, und der über das Existenzminimum hinausgehenden Krankengeldansprüche. Die Höhe der Eigenbeteiligung soll der Versicherte im Rahmen der Tarife selbst wählen können.
Um die höheren Kosten im Alter abzudecken, werden die Versicherungen verpflichtet, Altersrückstellungen zu bilden. Die Kassen haben kein Kündigungsrecht, damit ein lebenslanger Versicherungsschutz garantiert ist. Bei der Übernahme von Leistungen will die FDP, um Transparenz zu schaffen, grundsätzlich überall vom bisherigen Sachleistungs- auf das Kostenerstattungsprinzip umstellen. Für die medizinische Leistung erhält der Patient also zunächst eine Rechnung, die er selbst bezahlen oder an die Versicherung weiterleiten kann.
Zur sozialen Abfederung will die FDP die Prämie für Kinder und alle Ausgaben für Schwangerschaft und Mutterschaft über Steuern finanzieren. Zudem erwägen die Liberalen, jeder Kasse vorzuschreiben, einen Pauschaltarif anzubieten, der zumindest den Regelleistungen entspricht. Dieser Tarif darf dann keinem Antragsteller verwehrt werden. Außerdem sind Risikoprüfungen und Risikozuschläge nicht erlaubt. Wer selbst den günstigen Pauschaltarif nicht allein zahlen kann, wird nach dem Willen der FDP die notwendige staatliche Unterstützung bekommen.
Text: Timot Szent-Ivanyi
Fotos: Picture-Alliance
Grafiken: Marc Mendelson
Erschienen am 18. April 2005