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Dieter Kiehl
Es gibt kein Erfolgskonzept
Hanns-Seidel-Stiftung: Es werden immer weniger
Kinder geboren
Politiker neigen dazu, einen Bogen zu machen um
das vielleicht vertrackteste Problem, das sich unserer Gesellschaft
stellt: Was ist zu tun, um die fatal nach unten zeigende
demografische Entwicklung zu stoppen, zumindest abzubremsen und die
Folgen zu mindern? Der dramatische Geburtenschwund wird seinen
Höhepunkt zwar erst in einigen Jahrzehnten erreichen; wer
jedoch dagegen halten möchte, müsste spätestens
jetzt damit beginnen. Ein Problem dabei ist, dass alle solchen
Überlegungen zwei zeitliche Dimensionen berücksichtigen
müssen: Was ist jetzt zu tun, um die befürchtete
Entwicklung zu steuern, und was später, um mit der dann
geschaffenen Entwicklung einer überalterten Gesellschaft
umzugehen?
Das jüngste Expertengespräch der
Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns
Seidel-Stiftung war unter dem Titel "Ansätze pronatalistischer
Familienpolitik" vor allem dem ersten Teil der Frage gewidmet, wie
- trotz der negativen Prognosen - familienpolitische Maßnahmen
und Initiativen doch noch den fatalen demografischen Wandel
beeinflussen könnten und wie weit dabei die Erfahrungen
anderer betroffener Nationen hilfreich sein könnten; vor allem
einige nordische Länder, die mit rund 1,7 Kindern pro Frau,
bei der Bekämpfung des Geburtenrückgangs erfolgreicher
sind als Deutschland, wo eine Frau statistisch gesehen rund 1,4
Kinder bekommt. Noch schlechter schneiden die
südeuropäischen Länder ab. In Italien gebert jede
Frau statistisch 1,2 Kinder. Können die nordischen Länder
deshalb als Vorbilder gelten? Professor Walter Bien, Leiter der
Sozialberichterstattung beim Deutschen Jugendinstitut in
München, rät nicht nur zur Vorsicht, wenn es darum geht,
Prognosen aus statistischen Erhebungen abzuleiten. Seiner Meinung
nach gibt es auch kein einzig richtiges Modell für eine Erfolg
garantierende pronatalistische Politik; im übrigen solle man,
ehe man über Interventionen nachdenkt, zu erforschen
versuchen, was zur niedrigen Geburtenrate geführt hat, und
sich darüber klar werden, was das Ziel und die Konsequenzen
einer solchen Intervention sind.
Wer sich mit den Problemen des
demographischen Wandels als Politiker beschäftigt, muss nach
Ansicht des Politikwissenschaftlers Professor Tilman Mayer von der
Universität Bonn erst einmal wissen, ob er überhaupt eine
Beeinflussung des demographischen Wandels durch Politik will oder
nicht - der Bericht der Enquetekommission vermittle der Politik das
"eindeutige Signal", dass sie die demographische Entwick-lung kaum
beeinflussen könne, und dieses Signal werde von den Politikern
auch verstanden: Sie verhalten sich reserviert oder machen einen
Bogen um die Thematik.
Dass der Geburtenschwund die ganze westliche
Welt erfasse, sei wohl wahr, strittig aber sei die Intensität
des Phänomens - muss das Nachlassen der Fertilität so
massiv ausfallen wie in Italien oder Deutschland, so massiv, dass
er die Erneuerungsfähigkeit der Gesellschaft über
Jahrzehnte in Frage stellt -, oder ist auch ein weniger radikaler
Verlauf vorstellbar?
Definitive Veränderungen der
Fertilität belegen, konstatiert Mayer, dass es
Einflussmöglichkeiten gibt in pro- wie in antinatalistischer
Richtung. Antinatalistische Eingriffe wie Geburtenbegrenzung und
Alphabetisierung hätten in den letzten Jahrzehnten in der
Dritten Welt deutliche Spuren hinterlassen und zu einem erheblichen
Geburtenrückgang geführt.
Individuelle Entscheidung
Die Konzepte zur Steuerung des demografischen
Wandels seien seit langem auch in der Ersten und Zweiten Welt
wirksam; unterschiedlich seien lediglich die kulturellen
Ausgangskontexte. "Antinatalismus beschreibt den gesellschaftlichen
Ist-Zustand in der westlichen Welt - bezogen auf die
Individualität der Person bedeutet das, dass jeder Gedanke an
ein Kind Entscheidung verlange: eine pronatalistische für oder
eine antinatalistische gegen das Kind. "Wir gehen von einer
Individualisierung des generativen Verhaltens aus: Moderne
Bürgerinnen entscheiden auch in dieser Frage autonom, und das
ist als Grundlage jeder demografisch akzentuierten Politik zu
akzeptieren und von den politischen Akteuren ernst
zunehmen."
Auch pronatalistische Maßnahmen
können, wie etwa die Beispiele Frankreichs oder der
früheren DDR zeigen, Wirkung erzielen. Pronatalistische
Familienpolitik müsse darauf abzielen, sagt er, das
Geburtengefälle deutlich abzuschwächen. Niemand behaupte,
dass ein Erhaltungsniveau erreichbar sei, doch zwischen einer
abstürzenden und einer abfallenden Entwicklung bestehe ein
gewaltiger Unterschied.
Wie kann man den demografischen Prozess im
pronatalistischen Sinne steuern, zumindest zu steuern versuchen?
Zunächst komme es auf eine "vernünftige Mischung"
demografischer Maßnahmen an, zu der auch gesteuerte
Zuwanderung gehöre; sie könne freilich nicht das Ziel
haben, die Defizite zu kompensieren - ein unerreichbares Ziel -,
wohl aber die Entwicklung "ein Stück weit" auffangen. Ein
komplexes, weder Alte noch Junge, weder Eltern noch Kinderlose
diskriminierendes familienpolitisches Angebot müsse die
Familien-Komponente herausstellen, die Gesellschaft wieder
dafür sensibilisieren, dass Nachwuchs ihre Zukunft sichert.
Was also ist zu tun, damit der Trend zumindest gebremst
wird?
Da stellt sich die Frage, ob die Erfahrungen
der übrigen Europäer den Deutschen von Nutzen sein
können. Professor Wolfgang Walter von der Universität
Rostock gibt da zu bedenken, dass sich bei allen Unterschieden in
den aktuellen Fertilitätsraten der einzelnen Länder und
in den Verläufen der jeweiligen Kurven sich die langfristigen
Trends ähneln. In allen Ländern sinkt die Zahl der
Erstheiraten, und der Altersdurchschnitt bei Erstheiraten steigt.
Immer mehr Menschen bleiben dauerhaft ledig, immer mehr Kinder
werden unehelich geboren, und der Anstieg der Kinderlosigkeit ist
in den meisten Ländern markant. Die Geburtenentwicklung habe
sich in ganz Westeuropa auf niedrigem Niveau eingependelt, wobei
der Begriff niedrig nicht für alle die gleich Bedeutung hat.
Am unteren Ende der Kurve liegen die südeuropäischen, am
oberen die nordeuropäischen Länder.
Die sozialstaatlichen Strukturen sind
unterschiedlich, reichen vom deutschen "Bismarck'schen Modell" bis
zum skandinavischen Wohlfahrtsstaat, doch welche Form sozialer
Absicherung die Fertilität am ehesten fördert, ist
pauschal kaum zu definieren. Walter erwähnt das Beispiel
Irlands, das hinsichtlich seiner demografischen Entwicklung mit 1,9
Kindern pro Frau einen europäischen Spitzenplatz inne hat,
hinsichtlich der sozialen Absicherung und familienpolitischer
Angebote aber im letzten Wagen sitzt - für Walter ein
unlösbares Paradoxon.
Stimmt die These, dass die Geburtenrate umso
niedriger ist, je mehr Frauen erwerbstätig sind? Die
gegenläufige These besagt, dass eine hohe Geburtenrate auch
bei hoher Frauenerwerbstätigkeit wie etwa in Frankreich (1,75)
möglich sei, wenn, wie dort der Fall, die Vereinbarkeit von
Familie und Broterwerb sichergestellt ist. "Es gibt Gesellschaften,
die den Menschen mehr Risiken zumuten, sie nicht in ein
Sicherheitsnetz einwickeln; da könnte es dann sein, dass
weniger Kinder geboren werden, denn Kinder sind immer eine
Investition auf die Zukunft. Es könnte aber auch sein, dass in
einem solchen System, das mehr eine Basissicherung bietet, die
Menschen auch mehr Geld zur Verfügung haben, weil sie nicht
mehr soviel in ein umlagenfinanziertes System stecken müssen
und viel risikobereiter sind."
Natürlich, meint Wagner seien die
Systeme nicht einfach übertragbar. Aber man könne, wenn
unser gesamtes Sozialleistungssystem sich verändert, doch an
eine stärkere Umstellung vom System Bismarck auf ein System
der Basis-Sicherung denken; das sei ein Trend, der sich in den
nächsten Jahrzehnten auswirken werde und nicht nur negative
Effekte habe, sondern auch Anreize bieten sollte - Anreize für
eine Veränderung jener Mentalität, die eben über
lange Frist dazu führt, dass die Geburtenrate zu niedrig
ist.
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