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Abgeordnete unter der Forscherlupe
Interview mit Dr. Michael Edinger, Politologe an
der Universität Jena
Wissenschaftler der
Friedrich-Schiller-Universität Jena haben die bislang
größte Abgeordnetenbefragung in Deutschland
abgeschlossen. Über 900 Landes-, Bundes- und Europapolitiker
wurden nach ihren Karrierewegen und politischen Einstellungen
befragt. Erste Ergebnisse liegen vor, bis April soll die Auswertung
abgeschlossen sein. Wir sprachen mit dem Projektkoordinator Dr.
Michal Edinger.
Das Parlament
Vor dem Hintergrund der jüngsten
Diskussionen um den steigenden Einfluss von Lobbyistengruppen in
parlamentarischen Entscheidungsprozessen: Welches
Repräsentationsverständnis liegt der Arbeit der
Abgeordneten zugrunde?
Michael Edinger Uns hat überrascht, dass
doch jeder Zweite sagt, dass er sich in erster Linie als Vertreter
des gesamten Landes sieht, erst an zweiter Stelle der Wahlkreis
genannt wird und die Partei weniger bedeutsam ist. Auffallend ist,
dass unter den Bundestagsabgeordneten die Wahlkreisorientierung,
entgegen dem, was man annehmen würde, etwas stärker ist,
als bei den befragten Landtagsabgeordneten. Bei den kleineren
Parteien spielt die Wahlkreisorientierung eine geringere Rolle,
weil man hier keine oder kaum Chancen auf ein Direktmandat hat.
Unter den Europaabgeordneten sieht sich eine deutliche Mehrheit als
Vertreter des europäischen Volkes und kaum jemand versteht
sich primär als Vertreter Deutschlands. Wenn es aber um das
Abstimmungsverhalten bei Interessenkonflikten zwischen nationalen
Interessen und Fraktionsinteressen geht, dann räumt doch eine
ganze Reihe von Abgeordneten mitunter den nationalen Interessen
Vorrang ein.
Das Parlament
Die Frage, wessen Repräsentant man ist,
hat ja nicht nur etwas mit konkreten politischen Einstellungen zu
tun, sondern auch mit den Möglichkeiten ihrer Realisierung:
Was beeinflusst die Zufriedenheit der Abgeordneten
negativ?
Michael Edinger Es wird offenbar ein
erhebliches Spannungsfeld zwischen der Ausübung des Mandats
und der Gestaltung des Privatlebens gesehen. Außerdem wird als
belastend empfunden, dass man relativ wenig Zeit zur Verfügung
hat, um über Probleme vertiefend nachzudenken zu können.
Tatsächlich müssen Abgeordnete manchmal von einem Termin
zum nächsten eilen und dann bleiben eben wenig
Möglichkeiten, inhaltliche Fragen tiefergehend zu
reflektieren. Ein kleinerer Teil der Abgeordneten gibt auch an,
dass sie die unzureichende Akzeptanz in der Öffentlichkeit als
ein Problem empfinden.
Das Parlament
Gibt es Unterschiede zwischen ost- und
westdeutschen Politikern hinsichtlich der Arbeitszufriedenheit und
der wahrgenommenen Gestaltungsmöglichkeiten?
Michael Edinger Etwa 25 Prozent der
Westdeutschen geben an, dass sie geringere politische
Einflussmöglichkeiten haben als ursprünglich erwartet.
Bei den Ostdeutschen sind es 45 Prozent der Befragten. Das hat
sicher auch damit zu tun, dass Westdeutsche meist sehr lange
Parteikarrieren hinter sich haben, wenn sie ins Parlament kommen.
Die dabei gesammelten Erfahrungen begünstigen "realistischere"
Erwartungen bezüglich der Gestaltungsmöglichkeit eines
Abgeordneten. In der Gründungssituation des ostdeutschen
Parlamentarismus waren hingegen viele Abgeordnete Neulinge und sind
dann relativ unverhofft in die Parlamente gekommen und dann eben
möglicherweise mit sehr hohen Erwartungen. Das diese
Erwartungen teils enttäuscht wurden, erklärt vielleicht,
weshalb der Anteil zufriedener Parlamentarier im Osten niedriger
ist als im Westen.
Das Parlament
Mit den Gestaltungsmöglichkeiten im
Zusammenhang steht die Frage des Fraktions- oder Parteizwanges.
Gerade für Regierungsparteien eine schwierige
Frage.
Michael Edinger Wir haben unter anderem
gefragt, ob ein Abgeordneter mit der Fraktion stimmen sollte, auch
wenn er eigentlich anderer Meinung ist. Dem haben etwa 70 Prozent
zugestimmt. Zugleich gibt aber auch jeder Zweite an, dass er schon
einmal bei einer wichtigen Abstimmung gegen die eigene Fraktion
gestimmt hat. Sogar die Mehrheit derjenigen, die schon einmal gegen
die eigene Fraktion gestimmt hat, sagt, dass man das eigentlich
nicht tun sollte. Offenkundig gibt es da recht ambivalente
Positionen. Einen deutlichen Unterschied gibt es im
Ost-West-Vergleich: 60 Prozent im Osten haben schon mal gegen die
Fraktion gestimmt, im Westen nur 40 Prozent. Am häufigsten
findet sich das abweichende Abstimmungsverhalten bei der PDS und am
seltensten bei den Bündnisgrünen.
Das Parlament
Was haben die Befragten als Motive ihres
politischen Engagements angegeben?
Michael Edinger Die politische Orientierung
und der politische Gestaltungswille spielen natürlich eine
wichtige Rolle bei einem Parteieintritt. Interessant für uns
war aber, dass unter den Parlamentariern nur eine Minderheit
angibt, dass sie die Wahl ins Parlament als einen Einstieg in eine
langfristige politische Karriere verstanden hat. Zwei Drittel haben
ihr erstes Mandat vielmehr als eine vorübergehende
Tätigkeit in der (bezahlten) Politik verstanden. Das spricht
eher für das Parlamentsmandat als Episode. Nur ein Drittel
sagt, dass sie das bewusst gemacht haben, um längerfristig
Karriere zu machen.
Das Parlament
Gibt es auch bei den Motiven so eine
Anpassung an die Realitäten?
Michael Edinger Was sich jetzt schon
andeutet, und was wir aus den Karrieredaten und den biografischen
Daten wissen, ist, dass sich das Karriereverhalten sehr stark
angeglichen hat, gerade im Ost-West-Vergleich. Das heißt, dass
gerade ostdeutsche Abgeordnete der Gründungsphase manche
Erwartungen, die sie am Anfang gehegt haben, möglicherweise
aufgegeben mussten, um auf die Herausforderungen der
parlamentarischen Praxis adäquat zu reagieren. Man hat im
Osten, vereinfacht gesprochen, zwei Typen: Den einen, der eher
frustriert ist wegen dieses Unterschiedes. Das sind allerdings auch
häufig Leute, die, sei es freiwillig oder unfreiwillig, aus
dem Parlament ausgeschieden sind. Dann gibt es Leute, die
pragmatisch damit umgegangen sind und sich diesen Zwängen, die
mitunter existieren, angepasst haben und aus den Möglichkeiten
das Beste machen und damit auch bessere Chancen haben, im Parlament
zu bleiben.
Das Parlament
Wird Politik mehr zu einem normalen Beruf,
indem sich Karrierechancen eröffnen, oder geschieht das
Engagement aus Berufung?
Michael Edinger Wir haben Ergebnisse, die
beides bestätigen. Wir haben die Abgeordneten gefragt, ob sie
glauben, dass das Parlamentarierdasein ein richtiger Beruf ist. Da
gab es eine überwältigende Zustimmung. Mehr als zwei
Drittel stimmten dem sehr zu. Entgegen steht dem, was wir vorhin
schon sagten, dass zwei Drittel sagten, dies nicht als Einstieg in
eine dauerhafte Laufbahn verstanden zu haben. Wenn man sich die
Nebentätigkeiten anschaut, so gehen doch fast 30 Prozent der
Befragten einer solchen nach. Verbreitet ist das besonders unter
Freiberuflern, die ihren früheren Beruf auf einem geringeren
Stundenniveau weiter ausüben.
Dieses Ergebnis lässt eher zweifeln, ob
es sich bei der Politik um einen normalen Beruf handelt. Offenbar
sehen doch viele Parlamentarier die Notwenigkeit, sich abzusichern
gegen die Risiken, die das politische Geschäft mit sich
bringt. Vielleicht kann man einen Binnenunterschied machen zwischen
den Parlamentarieren. Man hat die Gruppe der Episodiker, die
sowieso nur kurz im Parlament sind und dann zurück in ihren
Ursprungsberug gehen. Und dann hat man die Gruppe der "knallharten"
Berufspolitikern, die also sozusagen von Jugendbeinen an, Politik
zu ihrer Hauptaufgabe und damit wirklich zum Beruf gemacht haben -
wobei dann möglicherweise Beruf und Berufung zusammenfallen.
Und die haben, würde ich sagen, in der Regel gute Chancen,
wenn sie einmal ins Parlament gekommen sind, dort oder in
verwandten Positionen zu bleiben.
Das Parlament
Wie reflektiert man als Forscher denn
Aussagen über die extrem hohe Arbeitsbelastung?
Michael Edinger Das sind natürlich
Selbstauskünfte, wo man schon davon ausgehen muss, dass sie
auch von sozialer Erwünschtheit gesteuert sind. Uns kam es
aber auch weniger auf das absolute Niveau an, also ob nun ein
Abgeordneter 55 oder 58 Stunden arbeitet. Interessant sind vielmehr
die Unterschiede, die sich darstellen und die erscheinen recht
plausibel. Bundestagsabgeordnete arbeiten eben mehr als
Landtagsabgeordnete, Parlamentarier in Spitzenfunktionen mehr als
solche ohne. Diese Unterschiede sind real. Dann gibt es
Unterschiede zwischen sitzungsfreien und Sitzungswochen. Das sind
also Unterschiede, die sind nicht schöngefärbt. Ich
glaube aber auch, dass da jetzt keine gigantischen
Übertreibungen vorliegen. Es ist ja auch eine anonyme
Befragung, bei der kein Abgeordneter befürchten muss, als faul
dazustehen.
Das Interview führte Claudia
Heine.
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