|
|
Volker Koop
Keine "Law and Order"-Politik
Nach den jüngsten Gewaltexzessen an
deutschen Schulen
Gewalt an Schulen? Das schien bisher eher eine
Erscheinung zu sein, die sich vor allem in den USA abspielte. Dabei
ist seit langem bekannt, dass es auch an deutschen Schulen
keineswegs immer friedlich zugeht. Schlagringe, Messer, Pistolen
haben längst Einzug in deutsche Klassenzimmer gehalten. Ins
öffentliche Bewusstsein rückt das Geschehen jedoch immer
nur dann, wenn es außergewöhnliche Formen annimmt und
"spektakulär" genug für die Massenmedien ist, so wie die
stundenlange Folterung von jungen Menschen durch Mitschüler
beispielsweise in Hildesheim oder im oberbayerischen
Walpertskirchen.
Sind Eltern, Lehrer und auch die Politik
hilflos ge-genüber einer solchen Entwicklung? Natürlich
gebe es keine einfache Erklärung für die verschiedenen
Formen von Gewalt in der Schule, sagt die CSU-Abgeordnete Marion
Seib. Das bereits bei Kindern auftretende aggressive Verhalten
verweise jedoch auf Erziehungsdefizite und Probleme der sozialen
Integration junger Menschen, die offensichtlich im Zusammenhang mit
grundlegenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen stünden.
Marion Seib: "Durch die Veränderung der Familienstrukturen hat
sich vor allem die Erziehungsfähigkeit der Familien deutlich
vermindert. Das hat zur Folge, dass Schüler mit den Problemen,
die die potenziellen Auslöser für Gewalt sind -
Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit, mangelnde Aner-kennung,
Leistungsdruck, das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden -
nicht selten allein gelassen werden. Dagegen helfen keine
ausgefeilten Sicherheitskonzepte." Die Forderung der Abgeordneten
daher: "Es bedarf einer Verstärkung der pädagogischen und
psychologischen Inhalte in der Lehrerausbildung. Außerdem
brauchen Lehrer bei besonders schwierigen und gewaltbereiten
Schülern Unterstützung durch pä-dagogische
Fachkompetenz von außen."
Auch wenn nach Bekanntwerden mehrerer
Fälle von massiver Gewalt an Schulen schnell vermeintliche
Patentlösungen durch die Medien geisterten und gefordert
wurde, Lehrerinnen und Lehrer sollten härter durchgreifen,
Verweise schneller erteilt werden können und als ultima ratio
die Videoüberwachung der Pausenhöfe eingeführt
werden, habe die "Law and Order"-Methode an der Schule keine
Zukunft; jedenfalls dann nicht, wenn man das Ziel verfolge, Kinder
zu verantwortungsbewussten, selbstständig denkenden Personen
zu erziehen. Dies ist die Überzeugung der bildungspolitischen
Sprecherin der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen,
Grietje Bettin, die weiter sagt: "Durch übereilte
Symptombekämpfung kann Gewalt an Schulen nicht beseitigt
werden. Es ist erstaunlich, wie selten in der Diskussion die Rede
davon ist, dass immerhin noch jedem fünften Kind in unserer
Gesellschaft das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung verwehrt
wird. Kann man von Kindern erwarten, dass sie ohne Hilfe in der
Lage sind, Konflikte kompetenter - sprich gewaltloser - zu
lösen als ihre Eltern?" An den Schulen und an der
Lehrerausbildung bestehe ein enormer Veränderungsbedarf.
Schulen müssten in der Lage sein, sich auf ihre
Schülerinnen und Schüler einzustellen. Sie müssten
Kindern und Jugendlichen die Vorteile von gewaltfreiem Miteinander
systematisch vermitteln. Dazu brauche es Lehrerinnen und Lehrer mit
der passenden Ausbildung, dazu brauche es Zeit und den Willen, die
Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen, sodass sie sich als
Personen erführen, deren Meinung zählen. Es seien - so
die Expertin weiter - nicht zufällig jene Schülerinnen
und Schüler, die den Leistungsanforderungen der Schule nicht
entsprächen, die am stärksten zur Gewalttätigkeit
neigten. Grietje Bettin: "Deshalb wollen wir auch das Sitzenbleiben
abschaffen. Ein Schuljahr zu wiederholen, entfaltet nachweislich
kaum positive pädagogische Wirkung, kann aber die betroffenen
Schüler enorm frustrieren und als Versager stigmatisieren.
Individuelle Förderung, nicht Auslese, ist gefordert." Die
Schulen müssten demokratischer werden. Das bedeute,
Schülerinnen und Schüler in die Konfliktmediation
einzubinden und sie gegen Gewalttätigkeit zu sensibilisieren,
wie es in vielen Programmen erfolgreich praktiziert werde. So
würden bereits zahlreiche Kinder und Jugendliche zu
"Konfliktlotsen" ausgebildet, deren Aufgabe es sei, einen Ausgleich
unter Ebenbürtigen herzustellen. Auf diese Weise werde von
Gleichaltrigen vorgelebt, dass ein gewaltloses, aber dennoch
sicheres Auftreten möglich sei.
"Das heutige System deutscher Schulen
gehört zu einem vergangenen ökonomischen und
gesellschaftlichen System. Hoch engagierte Lehrer lähmt ein
unflexibles System von Verwaltung und Besoldung." - An diese
Erkenntnis der OECD erinnert Christoph Hartmann,
bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, und daran, dass nach
offiziellen Schätzungen 100.000 Schüler täglich die
Schule schwänzen. Weitere Fakten machten deutlich, dass immer
weniger Eltern ihrer im Grundgesetz verankerten Erziehungspflicht
nachkämen oder bedingt durch berufliche Belastungen nicht mehr
nachkommen könnten. Angesichts der allseits unbefriedigenden
Situation müsse die Politik Rahmenbedingungen schaffen, die
der Lebensrealität von Kindern, Eltern und der Gesellschaft
entsprächen. Erforderlich sei ein umfassendes Konzept, das
Familien-, Wirtschafts- und Bildungspolitik umfasse und die Kinder
von Anfang an begleite. Frühkindliche Bildung und Erziehung
seien erforderlich, Kindergärten müssten zu
Bildungseinrichtungen werden und eine pädagogische Aufwertung
erfahren. Um die so erzielte Qualitätssteigerung auch in der
Schule zu sichern, müssten Schulen mehr Selbstständigkeit
erhalten, unter anderem durch das Recht der autonomen
Unterrichtsgestaltung. Christoph Hartmann: "Eltern und Schüler
können so selbst darüber entscheiden, welche Schwerpunkte
den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder
entsprechen. Dabei geht es neben einer verbesserten Bildung aber
vor allem um die gesellschaftliche Integration, das Aufzeigen von
Handlungsoptionen und die Erziehung zu wertebasiertem
Selbstvertrauen. Insbesondere bei der Gewaltprävention spielt
die Sonderpädagogik eine entscheidende Rolle. Sie muss dabei
helfen, Kindern und Jugendlichen eine Perspektive für ihre
spätere berufliche Zukunft zu geben."
Im Hinblick auf das jüngste Geschehen in
einer Hildesheimer Berufsschule stellt der Berliner CDU-Abgeordnete
Roland Gewalt die Frage: "Ein bedauerlicher Einzelfall oder
beispielhaft für eine Kultur des Wegschauens an unseren
Schulen?" Tatsache ist für ihn, dass das Thema
Gewalt-Prävention bei Jugendlichen und Heranwachsenden eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die man den
Strafverfolgungsbehörden nicht allein überlassen kann.
Wer Gewalt in der Schule verübe, werde sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit auch außerhalb des Schulgebäudes kaum
normgerecht verhalten - wie auch umgekehrt. Für den
Unions-Abgeordneten ist es deshalb wichtig, "dass zwischen Lehrern
und der Polizei eine intensivere Zusammenarbeit stattfindet. Die
Pflege ideologischer Scheuklappen kennt an dieser Stelle
nämlich nur ein Opfer: den Jugendlichen selbst. Wachsamkeit,
verstärkter Informationsaustausch und eine Koordination des
gemeinsamen Vorgehens erhöhen dagegen die Möglichkeiten,
den Beginn krimineller Karrieren bei jungen Menschen noch
rechtzeitig stoppen zu können." Auch in der Frage der
Unterbringung noch strafunmündiger Serientäter in
geschlossenen Einrichtungen verschlimmere eine falsch verstandene
Rücksichtnahme die Gesamtsituation nur. "Diese Kids, bei denen
in der Vergangenheit offensichtlich ein frühes Einschreiten
versäumt wurde, brauchen in fast allen Fällen eine
pädagogische Rund-um-die-Uhr-Betreuung, um sich überhaupt
erst wieder an Regeln und deren Befolgung zu gewöhnen. Um
Ereignisse wie in Hildesheim zukünftig verhindern zu
können, müssen sich aber zunächst alle Beteiligten
ihrer Verantwortung bewusst sein. Die Un-Kultur des Wegschauens und
des Laissez-faire muss ein Ende haben."
Zurück zur Übersicht
|