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Oliver Heilwagen
"Polen klopft nicht mehr an Europas Tür
an"
Podiumsdiskussion an der Europäischen
Akademie Berlin: "Was bringen die Neuen ein?"
Die Europäische Union steht vor dem folgenreichsten
Ereignis ihres 46-jährigen Bestehens: Am 1. Mai werden ihr
zehn mittel- und osteuropäische Staaten beitreten. Der
ursprünglich westeuropäische Verbund wandelt sich
endgültig zu einer den gesamten Kontinent überspannenden
Institution. Der Charakter der EU dürfte sich ebenfalls
grundlegend ändern. Von den kleinen Inselstaaten Malta und
Zypern abgesehen, eint die Beitrittskandidaten, dass sie bis zum
Zusammenbruch des Ostblocks vor eineinhalb Jahrzehnten zum
sozialistischen Lager zählten. Im Binnenmarkt werden sich
riesige Unterschiede auftun. Die Bevölkerung der Altmitglieder
reagiert mit Sorge, hat Angst davor, dass Arbeitsplätze gen
Osten abwandern. Eine breite öffentliche Debatte über
Chancen und Gefahren dieser Erweiterungsrunde findet jedoch nicht
statt. Doch die eher verhaltene Stimmung der Altmitglieder
rührt auch daher, dass die Aufnahme der Neuzugänge in die
EU-Familie mit einem handfesten Familienkrach begann. Der
Brüsseler Gipfel im Dezember 2003, auf dem eine gemeinsame
EU-Verfassung verabschiedet werden sollte, scheiterte am Veto
Spaniens und Polens. Beide lehnten das Prinzip der "doppelten
Mehrheit" ab, nach dem der EU-Ministerrat künftig
Beschlüsse fassen sollte. Sie beharrten stattdessen auf der
Fortgeltung des Vertrags von Nizza, der ihnen einen höheren
Stimmenanteil einräumt.
Diese atmosphärischen Spannungen waren auch bei einer
Podiumsdiskussion deutlich zu spüren, zu der die
Europäische Akademie Berlin Vertreter der drei
bevölkerungsstärksten Beitrittsländer Polen,
Tschechien und Ungarn eingeladen hatte. Moderator Alfred Eichhorn
vom Inforadio Berlin-Brandenburg hatte es schwer, gemäß
dem Motto "Die EU-Erweiterung wird konkret - Was bringen die
?Neuen' ein?" den Gästen zu entlocken, wie ihre Länder
die EU bereichern könnten. Janusz Reiter, Leiter des Zentrums
für Internationale Beziehungen in Warschau und früher
Polens Botschafter in Deutschland, verlangte dagegen von den
Altmitgliedern, sich zu verändern: "Der Westen muss einsehen,
dass er kein Monopol auf die Definition des Europäischen hat.
Die Altmitglieder müssen den Eindruck vermeiden, dass sie sich
für das Original halten und die Neuzugänge für die
Kopie."
Selbstbewusstsein in Warschau
In diesen Worten wurde das gewachsene Selbstbewusstsein eines
40-Millionen-Volkes erkennbar, das ein Jahrzehnt kräftigen
Wirtschaftsaufschwungs und durchgreifender innerer Reformen hinter
sich hat. Zudem wurde Warschau für seine Unterstützung
der USA im Irak-Krieg von Washington mit dem Kommando über die
multinationale Streitmacht in der südirakischen
Sicherheitszone belohnt. Polen werde nicht mehr als Bittsteller
auftreten, kündigte Reiter an: "Wir brauchen eine neue
Rollenverteilung in der EU. Deutschland ist nicht mehr Polens
Anwalt, Polen klopft nicht mehr an Europas Tür an."
Deutschland und Frankreich warf er vor, wegen eigener
Reformunfähigkeit von Motoren der europäischen Einigung
zu deren Bremsern geworden zu sein.
Unbehagen über Arroganz und Ignoranz der EU-Altmitglieder
klang auch in den Beiträgen der übrigen Teilnehmer an.
"Die Phase, in der Osteuropa als exotisch wahrgenommen wurde, ist
vorbei. Wir müssen zu Europa selbstverständlich
dazugehören", mahnte Zsuzsa Breier, Kulturattaché der
Ungarischen Botschaft. Sie beklagte, dass das Interesse des Westens
an dieser Region nach dem Fall der Mauer rasch abgeflaut sei.
Ihre Heimat werde nur durch "schmale Kanäle" wahrgenommen
und tauche allenfalls bei Skandalen oder mit Kurzmeldungen in
hiesigen Medien auf. Für dieses Aufmerksamkeitsdefizit machte
sie unterschiedliche Wertmaßstäbe verantwortlich:
Während die EU vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft sei,
begriffen sich die Neumitglieder in erster Linie als
Kulturnationen. Mit der von ihr organisierten Veranstaltungsreihe
hofft Breier, die Deutschen mit dem kulturellen Reichtum der
Beitrittsländer vertrauter zu machen.
Ähnlich argumentierte der künstlerische Leiter des
Festivals "Prag-Berlin", der Tscheche Dusan Robert Parisek: "Die
neuen EU-Mitglieder haben Bedenken, bevormundet zu werden." Trotz
ihrer Aufholjagd in den 90er-Jahren könnten sie bei der
Wirtschaftskraft noch nicht mit den Altmitgliedern mithalten. Doch
verfügten sie über "einen entscheidenden Teil der
europäischen Kultur. Was Tschechien anbieten kann, sind
immaterielle Werte. Das ist gut für die Entwicklung einer
europäischen Kollektivseele." Diese Betonung spiritueller
Gemeinsamkeiten mag Alteuropäer irritieren, die ihre Union nur
noch als Dauerstreit über Fördermittel und
Binnenmarktregeln erleben.
Damit knüpfte der Tscheche jedoch an die Debatte über
die Eigenart "Mitteleuropas" an: Dieser Begriff erlebte in den
80er-Jahren eine Renaissance und half damals, den Systemwechsel vom
Kommunismus zum Kapitalismus intellektuell vorzubereiten und seine
Folgen zu verarbeiten. Und er könnte identitätsstiftend
für eine EU wirken, die über ständigen Geldsorgen
ihren Daseinszweck aus den Augen zu verlieren droht. Daher hob
Parisek hervor, sein Land liege in der "Mitte Europas" und nicht im
Osten.
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