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Konrad Adam
Keiner darf verloren gehen
Bildungsreformen in Deutschland
Ausgangspunkt aller Bemühungen um eine
Neueinrichtung des Bildungswesens war und ist das beschämende
Abschneiden deutscher Schüler beim Program for International
Students Assessment, PISA genannt, im Herbst des Jahres 2001. Die
Wirkung dieser Botschaft wird als Schock bezeichnet, zu Unrecht
allerdings, da der Schock ja ein harter und unerbittlicher
Lehrmeister ist. Wer eine schockartige Erfahrung macht, der muss,
bei Strafe eines zweiten Schocks, der dann noch härter
zuschlägt als der erste, sein Leben ändern. Doch davon,
von der Bereitschaft und Entschlossenheit, die Schule besser zu
gestalten, kann in Deutschland bis heute keine Rede sein.
In den gut zwei Jahren, die seit
Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse vergangen sind, ist alle paar
Wochen eine neue Expertise, ein neues Gutachten, ein neuer
Generalplan zur Modernisierung des deutschen Bildungswesens
veröffentlicht worden. Was da an Rezepturen angeboten wurde,
war aber alles andere als neu. Die Reformpädagogen mögen
von ihren Illusionen nicht lassen und empfehlen, die Schule von
morgen nach den Plänen von gestern zu errichten.
Seitdem die Pädagogik sich als
Wissenschaft versteht, seit ihrer empirischen Wende vor etwa 50
Jahren also, glaubt sie es den anderen Wissenschaften nachtun und
alle Tage etwas Neuem in Umlauf bringen zu müssen. Als
Fortschritt angepriesen wird dann das eine Mal die Integrierte
Gesamtschule, das andere Mal die Ganztagsschule, zunächst der
wissenschaftsorientierte und dann der kindgemäße
Unterricht, vorgestern die Stundentafel, gestern der
Lernzielkatalog und heute die Bildungsstandards für alle.
Diese Neuerungssucht, die zwar den Wandel, aber keinen Fortschritt
garantiert, stiftet eine Unruhe, die der Schule auch dann schadet,
wenn sich unter dem ständig wechselnden Angebot
tatsächlich so etwas wie das Ei des Kolumbus befinden sollte.
Bisher war das freilich noch nie der Fall, und es ist ziemlich
unwahrscheinlich, dass es jemals so weit kommt. Über gute und
schlechte Erziehung lässt sich nämlich nicht viel Neues
sagen, seit zweieinhalb Jahrtausenden nicht. Über den
Sokrates, der durch bloßes Fragen aus einem Analphabeten die
richtige Antwort auf das Problem hervorlockt, wie sich der
Flächeninhalts des Quadrates verdoppeln lässt, ist kein
Reformpädagoge hinausgekommen.
Den Teufelkreislauf durchbrechen
Eines der niederschmetternden Ergebnisse der
PISA-Studie war die Erkenntnis, dass nirgends sonst der Schulerfolg
so eng mit der sozialen Herkunft verbunden ist wie in Deutschland.
Völlig zu Recht konzentrieren sich die Überlegungen und
Bemühungen darauf, den Teufelskreis aus Benachteiligung und
Rückstand, aus Rückstand und Unwissenheit, aus
Unwissenheit und Misserfolg, aus Misserfolg und Rückstand, aus
Rückstand und Benachteiligung zu durchbrechen. Bevor die
Bildungsexperten aber nun wieder einmal die Ärmel hochkrempeln
und sich an die Arbeit machen, sollten sie doch einen Blick
zurück werfen, auf die Arbeit ihrer Vorgänger, und sich
daran erinnern, dass sie beileibe nicht die ersten sind, die den
Zusammenhang zwischen Herkunft und Schulerfolg aufbrechen wollten.
Das haben die engagierten Schulreformer seit eh und je gewollt. Das
Ziel, dem sie sich verschrieben hatten, hieß
Chancengleichheit, und die war definitionsgemäß dann
erreicht, wenn der Schulerfolg statistisch unabhängig war von
allen Einflüssen der Konfession, der Herkunft, des Geschlechts
und des Wohnorts. Symbolfigur des chancengeminderten Schulkindes
war das katholische Arbeitermädchen vom Lande, in dem alle
vier Handicaps zusammenkamen.
Schon vor einem halben Jahrhundert waren sich
die Reformer darin einig, dass statt der überkommenen,
angeborenen oder anerzogenen Merkmale im Bildungswesen nur noch ein
einziges zählen sollte, die Leistung. In der
reformorientierten Schriften der 50er- und 60er-Jahre des vorigen
Jahrhunderts lässt sich das auf vielen tausend Seiten
nachlesen. Warum ist daraus nichts geworden? Was haben die Reformer
falsch gemacht? Woran sind sie mit ihrem lobenswerten Vorsatz
gescheitert? Die Antwort ist klar: Am eigenen Widerspruch. Sie
waren nämlich so inkonsequent, dasselbe Kriterium, das alle
anderen ersetzen und als einziges übrig bleiben sollte, die
Leistung eben, zu diskreditieren. Den meisten unter ihnen galt
Leistung als ein bürgerliches oder spätbürgerliches
Vorurteil, das den Begriff "Druck" assoziierte, der seinerseits mit
"Verweigerung", mit Leistungsverweigerung beantwortet werden
musste. Die traurigen Opfer dieser Verwahrlosungspädagogik
haben wir als Angehörige der Null-Bock-Generation kennen
gelernt. Sie fanden und sie finden sich auf allen Stufen des
deutschen Bildungswesens, besonders zahlreich allerdings auf dessen
unteren Etagen, als Ungelernte, Hauptschüler ohne Abschluss
oder Mitläufer im Berufsgrundbildungsjahr. Gelernt haben sie
nur eins: Dass Leistung keine Freude macht und nicht viel bringt.
Mit dieser Einstellung haben die gelernten Leistungsverweigerer
genau die Art von Zukunft vor sich, die sie durch ihren Schulbesuch
vermeiden wollten. Sie sind die Absteiger, die Arbeitslosen und die
Randständigen von morgen.
Aus dieser Vorgeschichte folgt zunächst
einmal die Empfehlung, mit dem Leistungsgedanken wieder ernst zu
machen. Also Abschied zu nehmen von der Schonraumpädagogik,
wie sie von den Reformern jahrelang propagiert und praktiziert
worden ist. Das klingt härter als es ist, denn Leistung
bedeutet ja nicht nur Druck, sie macht auch Freude; diese
elementare Wahrheit in Erinnerung zu rufen und sich nach ihr zu
richten, wäre die erste von allen weiteren "Reformen". Alle
Menschen streben von Natur aus nach Wissen, heißt der
berühmte Anfang eines nicht minder berühmten Buchs, der
Metaphysik des Aristoteles. Von Natur aus: Damit ist alles schon
gesagt. Die Kinder bringen alles mit, der Erzieher muss sie nur
lassen, also alles vermeiden, was die angeborene Neugier und das
natürliche Wissenwollen verschütten könnte.
Erziehung, heißt es bei Lessing, gibt dem Menschen nichts, was
er nicht schon besäße; sie gibt ihm das, was er schon
besitzt, nur schneller und leichter.
Das wird verhindert, wenn der Stoff, wie er
im Pädagogenjargon immer noch heißt, im allzu harten
Panzer von Pflicht und Zwang daher kommt. An deutschen Schulen ist
zu oft vom Müssen und zu selten vom Dürfen die Rede.
Beispiele dafür werden jedem von uns aus seiner eigenen
Schulzeit in großer Zahl vor Augen stehen.
Zweitens heißt es mit der Erkenntnis
ernst zu machen, dass in der Erziehung alles Entscheidende
früh passiert, sehr früh sogar. Eltern haben das immer
schon gewusst, während sich die Pädagogen mit der
Einsicht in ihre Grenzen aus professionellem Ehrgeiz schwer tun.
Wenn sie die Kinder in die Hand bekommen, üblicherweise also
mit Beginn der Schulpflicht, im Alter von etwa sechs Jahren, sind
die Würfel längst gefallen, in vielen Fällen sogar
unwiderruflich. Die moderne Hirnforschung hat eindrucksvolle Belege
dafür zusammengetragen, wie früh und wie gründlich
ein Kind durch das geprägt wird, was es in den ersten Wochen
und Monaten erlebt beziehungsweise eben nicht erlebt. Beides ist
wichtig und hat Folgen, der dargebotene genauso wie der
vorenthaltene Reiz. Konsequenzen daraus sollten nicht nur die
Politiker ziehen, indem sie mehr tun für Bildung und Betreuung
im frühen Kindesalter, sondern auch und vor allem die Eltern.
Sie sind es ja, denen das Grundgesetz die Pflege und die Erziehung
ihrer Kinder als Recht und "zuförderst ihnen obliegende
Pflicht" zugesprochen hat; ihnen und nicht dem Staat. Die
natürlichen Sprachlehrer der Kinder sind nun einmal ihre
Eltern, zu allererst die Mütter. Sozialpädagogen und
Kindergärtnerinnen können und sollen sie ergänzen;
ersetzen können sie die Eltern aber nicht.
Schulorganisatorisch folgt aus alledem
ziemlich wenig, weniger zumindest, als die Bildungsplaner wahrhaben
wollen. Die erste und wichtigste Konsequenz ist rein negativer Art:
sie verlangt, alles zu vermeiden, was die natürliche Vielfalt
der Begabungen und die genauso natürliche Varianz der
individuellen Erziehungsstile verarmen lassen könnte. Was
gegen die Einheitsschule in welcher Ausprägung auch immer
spricht, ist nicht die eine oder andere Besonderheit, sondern der
simple Anspruch, den sie im Namen trägt. Die eine Schule
für alle Kinder gibt es eben nicht, und wenn, dann leistet sie
nicht das, was man von einer guten Schule erwarten darf. Der Staat
soll nicht als Monopolist, sondern als einer unter vielen
auftreten. Neben den öffentlichen muss es private, neben den
Halbtags- muss es Ganztagsschulen, neben den Waldorf- muss es
Schulen in kirchlicher Trägerschaft geben. Wer alle Schulen
gleich machen und sie nach einem einzigen Muster
flächendeckend, wie die verdächtige Metapher heißt,
über das Land verstreuen will, wird sie nur alle gleich
schlecht machen.
Diese erste verlangt nach einer weiteren
Konsequenz. Ein vielfältig gegliedertes Schulwesen wird von
den Eltern nur dann akzeptiert werden, wenn es Sack-gassen
vermeidet. Positiv formuliert, läuft das auf eine Wiederholung
der alten Forderung nach Durchlässigkeit hinaus. Das deutsche,
horizontal und vertikal differenzierte Schulwesen leidet daran,
dass es durchlässig vor allem in eine Richtung ist, nach unten
nämlich. Wer im Gymnasium nicht mitkommt, wechselt auf die
Realschule, von dort vielleicht auf die Hauptschule und, wenn es
das Unglück will, am Ende auf die Sonderschule. Und jeder
dieser Wechsel dürfte mit einem Verlust an Zuwendung, an
Förderung, an Einsatz und an Hoffnung verbunden sein. Das ist
unverantwortlich gegenüber dem Einzelnen und teuer für
den Staat.
"Keiner darf verloren gehen", diese im
Ausland geläufige Forderung muss auch in Deutschland heimisch
werden, für alle Begabungen und alle Berufungen, für alle
Neigungen und alle Talente. Sie zu entdecken, zu fördern und
zu vertiefen, ist die vornehmste Aufgabe der Lehrer und Erzieher
und, wo sie gelingt, ihr schönster Lohn. Wem das
Aufspüren und Entwickeln von Talenten keine Freude macht,
taugt nicht zum Pädagogen. Denn für das Lehren gilt
dasselbe wie für das Lernen: Die Sache muss Spaß machen.
Dann ergibt sich alles Weitere von selbst.
Konrad Adam ist Redakteur der Tageszeitung
"Die Welt" in Berlin.
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