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Josef-Thomas Göller
200 Jahre Chaos und kein Ende in Sicht auf der
Perle der Antillen
Haiti bietet Lehren im
Nord-Süd-Konflikt
Wenn die traumhafte Tropen-Sonne blutrot am
westlichen Horizont ins violette Meer taucht und sich die warme
Nacht über die Antillen senkt, ist es stets eine "Nacht der
langen Messer", und die Nachfolger der "Tonton Macoutes"
verüben mit ihren Macheten im Blutrausch Morde am eigenen Volk
- auf Geheiß des Diktators, welchen Namen er auch immer
trägt. Dies ist seit mehr als 200 Jahren die bittere
Realität im Karibikstaat Haiti - eigentlich ein einziges
Naturparadies mit traumhaften Stränden und bizzaren
Bergen.
Die 7,5 Millionen Einwohner, davon fast die
Hälfte unter 14 Jahren, zählen seit eh und je zum
Armenhaus der westlichen Hemisphäre. Wer kann, verlässt
seit auf waghalsigen Flößen diesen Alptraum, treibt
über den Golf von Mexico nach Florida, dem "gelobten Land", wo
neben den Hispano-Flüchtlingen von der Nachbarinsel Kuba ganze
Orte das haitianische Creol-Französisch sprechen.
Das ist der eigentliche Grund der
Intervention Washingtons am 29. Februar. Es ging Präsident
George W. Bush mit seiner Blitzaktion darum, ein Massenabschlachten
in den Straßen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince zu
verhindern, damit nicht eine unkontrollierbare
Flüchtlingswelle, vom Fernsehen dramatisiert, im Wahlkampf auf
die USA zuschwimmt.
Abgesegnet vom UN-Sicherheitsrat, landeten
die USA in Haiti rund 2.000 Marines, unterstützt von der
französischen Fremdenlegion und kanadischen Einheiten, um
einem drohenden Chaos vorzubeugen. Der bisherige Präsident
Jean Bertrand Aristide und seine Familie wurden hastig mit einer
amerikanischen Militärmaschine evakuiert und in die
Zentralafrikanische Republik geflogen, wenige Stunden, bevor die
gegen ihn meuternden Banden - in der Presse fälschlich
"Rebellen" genannt - seinen Palast stürmen und ihn umbringen
konnten.
Der seit Jahren zunehmend realitätsfern
gewordene "Präsident" Aristide spricht heute von einer
"Entführung", einem "amerikanischen Komplott". Was er
verschweigt, ist, dass die USA nicht unilateral das arme Haiti
"überfallen" haben, sondern auf Weisung der UNO und mit
Unterstützung Frankreichs und Kanadas dem absehbaren
Blutrausch in Haiti vorbeugten. Mehr nicht. Die insgesamt 2.500
Mann starke trinationale Friedenssicherung kann wahrlich nicht als
"Okkupations-Armee" hingestellt werden. Das war schon eher 1994 der
Fall, als der damalige Präsident Bill Clinton eben genau
diesem Aristide mit 20.000 Marines wieder zur Macht verholfen hatte
und zwei Jahre lang zur sogenannten "nation building" dort
stationierte. Der Ex-Marxist und Ex-Priester Aristide war 1990 in
der einzigen je halbwegs demokratisch anmutenden Wahl des Landes
zum Präsidenten gewählt worden. Ein Jahr später
putschte sein Sicherheitschef gegen ihn, und Aristide floh ins
USA-Exil. Vor allem schwarze Bürgerrechtler innerhalb der
Demokraten drängten Clinton damals zum Handeln.
Es war nicht die erste Invasion der USA in
Haiti, aber, wie schon in der Vergangenheit, im Ergebnis genauso
erfolglos. Haiti liegt im westlichen Drittel der einstigen Insel
Hispaniola, die von Christoph Columbus auf seiner ersten Fahrt im
Jahr 1492 entdeckt wurde. 1697 trat Spanien Haiti an Frankreich ab.
Die französischen Kolonialherren nannten ihren neuen Besitz
"Perle der Antillen" und holten rund eine halbe Million Sklaven aus
Afrika. 1791 begann der Sklavenführer François Dominique
Toussaint L'Ouverture den Unabhängigkeitskampf gegen
Frankreich. Der größte Sklavenaufstand der Geschichte
besiegte nicht nur die Franzosen, sondern auch ein britisches Heer,
das versuchte, aus der Niederlage Frankreichs Kapital zu schlagen.
L'Ouverture, der an Demokratie und Gleichheit aller Menschen
glaubte, wurde von den Franzosen bei Friedensverhandlungen in eine
Falle gelockt und ging in einem Verließ der französischen
Alpen zugrunde. Seinem Mitstreiter Jean-Jaques Dessalines gelang es
1804, Haiti endlich in die Unabhängigkeit zu führen,
jedoch teilte er L'Ouvertures demokratische Ideen nicht und
erklärte sich zum General-Gouverneur auf Lebenszeit. Zwei
Jahre später war diese zu Ende. Ein Rivale hatte ihn ermordet.
Dieses Muster - Diktator und Attentate - setzt sich bis zur
Gegenwart fort. Es gab seither 33 haitianische
Diktatoren.
Es wären mehr, hätten die USA
dieses blutige Treiben nicht von 1915 bis 1934 unterbrochen.
Präsident Woodrow Wilson sandte 1915 die Marines nach Haiti,
nachdem sieben Jahre hintereinander gegen sieben haitianische
"Präsidenten" geputscht worden war. Die Amerikaner bauten rund
2.000 Kilometer Straßen, 210 Brücken, neun
Flugplätze, verlegten Telefonleitungen, zogen
Abwässerkanäle, bauten moderne Krankenhäuser und
Schulen und rückten 1934 wieder ab, in der Hoffnung, alle
Grundlagen für einen stabilen Staat gelegt zu haben.
François Duvalier mit dem Beinamen "Papa Doc" riss sich jedoch
das Land unter den Nagel, gefolgt von seinem Sohn "Baby Doc", der
1986 unter Druck Reagans außer Landes floh und so den Weg
freigab für Wahlen. Papa und Baby Doc regierten das Land mit
dem Terror ihrer Todesschwadronen, den Tonton Macoutes, auf
Creolisch "Schreckgespenster".
Genau mit dieser Methode, durch angeheuerte
Mörderbanden, verschaffte sich Jean Bertrand Aristide nach der
Wiedereinsetzung durch die USA im Jahr 1994 Respekt im eigenen Land
und trieb es erneut in die Anarchie. Eine im Jahr 2000
durchgeführte Scheinwahl mit einer Wahlbeteiligung von
fünf Prozent wurde selbst von der sonst großzügigen
Organisation Amerikanischer Staaten als Betrug
gebrandmarkt.
Doch als er einen unbequem gewordenen
Anführer einer seiner Todesschwadronen ermorden ließ,
wandten sie sich gegen den Chef, nannten sich selbst "Rebellen" und
marschierten auf die Hauptstadt.
Nach Aristides Flucht - oder wie er jetzt im
Exil behauptet "Entführung" - ernannte sich der Bandenchef Guy
Philippe zum Regierungschef. Doch zwei Stunden später beendete
ein Oberst der Marines diesen Spuk. Diesmal bringen die Amerikaner
keine Pioniere zum Brückenbau und Ärzte für
Krankenhäuser. Das Geld für Übersee-Einsätze
ist in Washington knapp geworden. Auch fragt sich die
Bush-Regierung, in welches Loch sie vergeblich Geld schmeißen
soll - genauso wie Frankreich und Kanada, von denen die Haitianer
keinen Cent erwarten können.
Nur - auf diese Weise schmoren inzwischen
schon all zu lange sämtliche Konflikte in der Region: In
Kolumbien herrscht der längste Bürgerkrieg der Welt, seit
1957. Mindestens 1.000 so genannte amerikanische
Militärberater versuchen seit Bill Clintons "Krieg gegen
Drogen" 1993, die kolumbianischen Drogenkartelle zu zerschlagen.
Der Autokrat Hugo Chavez in Venezuela zündelt am Öl-Hahn
seines Landes und stänkert gegen die USA. Der letzte Kommunist
Lateinamerikas, Fidel Castro, produziert - trotz oder wegen des
sturen Boykotts der USA - seit mehr als 40 Jahren Tausende von
Flüchtlingen jährlich, die Miami in ein Ersatz-Kuba
verwandelt haben. Auch in den Andenstaaten brodelt es: In Bolivien
stürzten kürzlich Indianer ihren Präsidenten. Dort
ist der Anbau von Coca offiziell erlaubt. Peru bleibt nach
Fujimoris Sturz im Jahr 2000 ebenfalls anfällig für
Drogenanbau und -handel. Ecuador ist bankrott und hat den US-Dollar
als Landeswährung übernommen. Der Gigant Brasilien sieht
sich außerstande, die durch extreme Armut hervorgerufene
Anarchie in den Großstädten zu bekämpfen, geschweige
denn unzugängliche Grenzgebiete zu kontrollieren. Frank J.
Gaffney, Präsident des Zentrums für Sicherheitspolitik in
Washington, wies kürzlich darauf hin, dass sich im Dreieck
Brasilien, Paraguay und Argentinien islamische Terroristen mittels
Bestechungsgelder Verstecke und Trainingslager erkaufen.
Alle weltwirtschaftlichen Strukturen der
Neuzeit - insbesondere die Pseudo-Kredithilfen der Weltbank und des
Internationalen Währungsfonds - haben Lateinamerika und die
Karibik in eine dramatische Schuldenkrise gestürzt. Schon
Anfang der 70er-Jahre sprach der uruguayische Journalist Eduardo
Galeano von den "offenen Adern Lateinamerikas". Das jüngste
Beispiel Haiti sollte für Washington und Europa ein Weckruf
sein: dass "nation building" nicht mit der Entsendung von ein paar
Kompanien Fallschirmjäger und ein paar Millonen Dollar
Startgeld funktioniert. Weder in Lateinamerika, noch in Afrika oder
Asien.
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