Wolfram Wette
Später will es keiner gewesen sein
Dokumente über den Vernichtungskrieg im
Osten
Der Vernichtungskrieg im Osten 1941-1944 fand statt. Seine
konkrete Gestalt lässt sich durch die offiziellen
Wehrmachtsakten nur unzureichend erschließen.
Glücklicherweise verfügen wir aber über andere
Zeugnisse. Mit Hilfe eines wahren Quellenschatzes, nämlich von
aussagekräftigen - und wohl auch
verallgemeinerungsfähigen - Tagebüchern und
Feldpostbriefen von neun Wehrmachtsoldaten, die den Ostkrieg
miterlebten, zeichnet Hannes Heer ein bedrückendes Bild vom
Krieg in Russland.
Auf der Spur dieser primären Erlebnisdokumente begeben wir
uns hinein in das Inferno des Vernichtungskrieges, in dem die
militärische Auseinandersetzung, die Verbrechen an Juden,
Kriegsgefangenen und russischen Zivilisten eine unentwirrbare
Fusion eingegangen waren. Besagte Landserberichte machen einmal
mehr deutlich, wie in dieser "Hölle" überkommene
Moralvorstellungen zusammenbrachen und gleichsam eine "neue Welt"
der Vernichtung entstand.
Erahnbar wird, wie die Schockerlebnisse des Krieges, die
tägliche Angst vor den Soldaten der Roten Armee, der
Ereignisdruck, der Schrecken und die Verzweiflung der deutschen
Soldaten in eine Energie des Hasses transformiert wurden. Am Ende
dieser Verheerungen der Seelen standen Gewöhnung, Abstumpfung
und eine auf das eigene Überleben reduzierte Moral.
Heer erklärt die solchermaßen entstandene
"Mordbereitschaft" allerdings nicht nur als eine Reaktion auf das
sich radikalisierende Kriegsgeschehen, sondern ebenso mit der
vorherigen Sozialisation der Soldaten im NS-Staat sowie mit den
Einflüssen der rassistischen Befehlsgebung und der deutschen
Kriegspropaganda.
Schon beim Begehen der Verbrechen musste den Tätern klar
sein, dass diese Art der Kriegsführung sich vor der
zivilisierten Weltöffentlichkeit nicht würde sehen lassen
können, ja nicht einmal vor der eigenen Bevölkerung. Das
Bemühen, die Spuren der Verbrechen zu verwischen und damit die
Täter verschwinden zu lassen, ist so alt wie die Tat selbst.
Wo die Wehrmacht selbst als Chronist auftrat, sprach sie sich frei
und verwies auf die SS. Die ehemaligen Mannschaftssoldaten
verstummten nach 1945.
Hannes Heer analysiert die Kriegsberichte eines Mannes, der die
Fähigkeit gehabt hätte, die Wirklichkeit des Krieges im
Osten sprachlich angemessen zu erfassen, nämlich des
reaktivierten Hauptmanns Ernst Jünger. Für das Privileg,
1942/43 eine Reise an die Kaukasusfront unternehmen zu dürfen,
revanchierte sich der Schriftsteller in der Weise, dass er
über "dämonische Gewalt" orakelte und davon absah,
Konkretes über Mordstätten und Täter zu berichten.
Während die Schriftsteller Heinrich Böll und Erich Maria
Remarque nach dem Kriege zunächst keine Verlage für ihre
wehrmachtkritischen Darstellungen fanden, reüssierten Autoren
wie Peter Bamm und Ernst Jünger, bei denen Verbrechen der
Wehrmacht nicht vorkamen.
Die Strategien des Vergessens sollten nicht wirkungslos bleiben.
Sie beeinflussten auch die nachfolgenden Generationen, erst Mitte
der 90er-jahre wurde das jahrzehntelange Schweigen aufgebrochen.
Inzwischen ist allerdings bereits wieder eine rückläufige
Tendenz zu beobachten. Heer sieht bei seinem polnischen
Kontrahenten Bogdan Musial Bestrebungen, in Anknüpfung an die
Thesen von Ernst Nolte eine Mitschuld der Juden an ihrer Ermordung
zu behaupten.
Auf eine stärkere Betonung der deutschen Opferrolle - bei
gleichzeitiger Relativierung der deutschen Täterschaft in
Krieg und Holocaust - zielen teilweise auch die Diskussionen
über das Leiden der Vertriebenen sowie über den
Bombenkrieg gegen deutsche Städte ab. Klarer als andere
Beobachter hat Heer erkannt, worum es dem Autor Jörg Friedrich
in diesem Zusammenhang geht: Indem er die Kriegführung der
Briten und Amerikaner mit entliehenen Begriffen wie
Massenvernichtung, Massaker und Einsatzgruppe charakterisiert,
redet er einer Gleichsetzung von Holocaust und Bombenkrieg das
Wort.
Hannes Heer, der als Leiter der Ausstellung über den
Vernichtungskrieg der Wehrmacht 1941-1944 eine
historisch-politische Aufklärungsarbeit von bleibender
Bedeutung geleistet hat, setzt sich verständlicher Weise noch
einmal mit dem publizistischen Trommelfeuer auseinander, das sich
gegen sie richtete. Nach seiner Ansicht ist das ruhigere
Fahrwasser, in welchem die zweite Wehrmachtausstellung fährt,
mit einem teilweisen Verschwinden der Täter erkauft worden.
Die Dokumentation der Mordtaten auch der vielen "kleinen
Männer" in SS-, Polizei- und Wehrmachtsuniform durch
eindringliche und als provozierend wahrgenommene Landserfotos sei
zurückgefahren worden zu Lasten der Wehrmachtgeneralität,
an deren maßgeblicher Verantwortung allerdings auch die neue
Ausstellung keinen Zweifel lässt.
Hannes Heer
Vom Verschwinden der Täter.
Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei.
Aufbau-Verlag, Berlin 2004;
395 S., 22,90 Euro
Professor Wolfram Wette lehrt Neuere Geschichte an der
Universität Freiburg im Breisgau
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