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Sabine Kebir
Fakten anstelle von Ideologie
Wie die DDR mit dem westdeutschen Medienwesen
konkurrieren wollte
Fast nichts ist bekannt über Versuche,
parteiunabhängige Medien in der DDR zu installieren. Erst
kürzlich erschien ein Buch über die von Bertolt Brecht
gegenüber den Behörden durchgesetzte "Stunde der Akademie
der Künste" im Rundfunk der DDR, die 1955/56 autonom
produziert und unzensiert gesendet wurde. Nach dem Mauerbau kam es
sogar zu einem Versuch "von oben". Er stand im Zusammenhang mit der
Schaffung eines Neuen ökonomischen Systems der Planung und
Leitung (NÖSPL), durch das die Führung mehr
Eigenverantwortlichkeit der Betriebe und letztlich auch mehr
Souveränität gegenüber der Sowjetunion erreichen
wollte.
Sowohl Ulbricht als auch dem Chefideologen
Albert Norden war klar, dass die dazu notwendige aktive
Unterstützung der Menschen nur durch ein weniger
gegängeltes, glaubwürdigeres mediales System erfolgen
konnte. Die Vorstellungen liefen darauf hinaus, dass empirische und
wissenschaftliche Erkenntnisse einen höheren Rang
gegenüber der vorgefassten Ideologie erhalten sollten, die die
Medien quasi lückenlos dominierte.
Direkt vom Politbüro wurden im Bereich
Presse zwei Pilotprojekte in Auftrag gegeben: 1963 die
Transformation der "Neuen Berliner Illustrierten" (NBI) in eine Art
ostdeutschen "Stern" und 1964 die Entwicklung eines neuen
Nachrichtenmagazins namens "Profil", das dem westdeutschen
"Spiegel" Konkurrenz machen sollte.
Auf solche Aufgaben waren die Redaktionen und
Journalisten nicht vorbereitet. Mit der Entwicklung der beiden
Projekte wurde Hans Otten beauftragt, Chefredakteur der NBI, der
hoffte, seinen Träumen eines sich demokratisierenden
Sozialismus näher zu kommen. Ihm beigesellt war der Schweizer
Journalist Jean Villain, der schon etliche Jahre internationale
Themen für die "Weltbühne" bearbeitet hatte. Villain sah
die Gelegenheit, in der DDR eine Reportageliteratur in der
Tradition Egon Erwin Kischs zu entwickeln, die in der Lage sein
müsste, reale Fakten einschließlich Widersprüchen
spannungsvoll aufzugreifen.
Villain wurde mit der Aufgabe betraut, mit
einem Reporterkurs Personal für das Vorhaben heranzubilden. Es
meldeten sich junge Leute, die sich bald einen Namen machen
sollten, darunter bis heute bekannte wie Anne Dessau, Klaus
Schlesinger und Landolf Scherzer. Schon während des
zweijährigen Kurses druckte die NBI mehr als ein Dutzend genau
recherchierte Reportagen der Teilnehmer.
Doch obwohl die beiden Projekte von
allerhöchster Stelle bestellt worden waren, wurde sofort Sand
ins Getriebe geworfen. Der "private" Brief eines - Otten
völlig unbekannten - sowjetischen "Freundes" der NBI, der ihm
im Sommer 1963 über offizielle Instanzen, aber informell
zugespielt wurde, mutet wie eine Hollywood-Phantasie über
Ränke im Sowjetreich an. Ein Konstantin Golinjak, Jahrgang
1922, kritisierte, dass die NBI "charmante junge Mädchen,
Blumen und Tiere in Farbdruck auf dem Umschlag" präsentiere,
anstatt sich auf den Kampf gegen den Faschismus zu konzentrieren,
der, versteckt hinter dem westdeutschen "Wirtschaftswunder", erneut
"seine blutigen Krallen nach den Menschen" ausstrecke.
Wenig später traf auch eine Kritik aus
der "Agitationskommission beim Politbüro" ein, in der es
hieß, dass die NBI neuerdings anstatt enthusiastisch, zu wenig
und vor allem zu "trocken" über das Wirtschaftsgeschehen der
DDR informiere. "Textjournalisten" und "Bildberichterstatter"
hätten in der DDR keine andere Aufgabe als "das Wort und die
Politik der Partei" zu verfechten.
Trotz der Warnschüsse wurden die
Projekte offziell nicht abgebrochen. Sie überlebten auch den
Sturz Chrustschows und die Machtübernahme Breschnews, die das
"Tauwetter" des Sozialismus beendete. Die 1.800 Exemplare der
Pilotnummer von "Profil" (68 Seiten), die an ausgewählte
Funktionsträger zur Begutachtung verschickt wurden, blieben
jedoch ohne Antwortkommentar ihrer Auftraggeber.
Während diese sich bereits vor ihren
neuen Moskauer Herren duckten, mussten die Aktivisten sehen, wie
sie mit der kafkaesken Situation permanenten Mobbings
untergeordneter Parteiinstanzen fertig wurden. Unter denen, die
sich am meisten engagiert hatten, kam es zu Krankheit und Tod. Es
erwischte Otten selbst und Villains Lebensgefährtin Mette
Lüning, die maßgeblich an der Organisation des
Reporterkurses beteiligt gewesen war. Die Geschichte dieses bislang
im Dunkeln gebliebenen Kapitels der DDR-Geschichte wurde von
Villain anhand eigenen Archivmaterials in Form einer
äußerst spannenden Reportage verfasst. Außer
Werbematerial konnte er allerdings von der Nullnummer "Profil"
nichts präsentieren. Die 1.800 Exemplare sind spurlos
verschwunden.
Jean Villain
"Bitte nicht stürzen!"
MV Taschenbuch, Rostock, 2004; 124 S., 8,70
Euro
Ingrid Pietrzynski
Der Rundfunk ist die Stimme der
Republik.
Bertolt Brecht und der Rundfunk der DDR 1949
- 1956.
trafoverlag, Berlin 2003; 339 S., 35,80
Euro
Sabine Kebir ist unseren Lesern längst
sowohl aus ausgewiesene Orientexpertin als auch Kennerin der
DDR-Kultur bekannt.
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