Udo Scheer
"Wenn's nach mir ginge, sähe ich meinen Sohn
lieber im Gefängnis"
Pierre Booms Erinnerungen an seinen Vater
Günter Guillaume
Es war der größte Spionagefall der Bundesrepublik
Deutschland. Nach der Entschlüsselung von Funksprüchen
der DDR-Aufklärung schnappte am 24. April 1974 die Falle zu
für den persönlichen Kanzlerreferenten Günter
Guillaume und seine Frau Christel. Zwei Wochen später
begründete Bundeskanzler Willy Brandt seinen Rücktritt
mit der Spionageaffäre und äußerte "tiefe
menschliche Enttäuschung". So überraschend sein Schritt
für die Öffentlichkeit kam, so bekannt war intern seine
Amtsmüdigkeit. Die eingeleiteten Reformen der Renten- und
Sozialversicherung hatten zur Wirtschaftskrise und einer
Inflationsrate von 6,9 Prozent geführt. Nicht nur Herbert
Wehner bescheinigte ihm Führungsschwäche.
Über all das erfährt der Leser in Pierre Booms
Erinnerungen an seinen "fremden Vater" so wenig wie über die
eigentliche Spionagetätigkeit seiner Eltern. Die Brisanz der
durch Günter Guillaume beschafften Dokumente und ihre
Bedeutung - etwa für die Verhandlungsposition der DDR-Seite im
Vorfeld des Grundlagenvertrages - bleibt ebenso ausgeblendet wie
die Arbeitsteilung des "Kundschafterpaares", bei dem Christel
Guillaume zunehmend zuständig war für Treffs mit
Instrukteuren und Kurieren.
Dennoch ist es ein lesenswerter Erinnerungsbericht, den der
Fotograf Pierre Boom nach gemeinsamen Recherchen und
Gesprächen mit dem Publizisten Gerhard Haase-Hindenberg
vorlegt. Im Zentrum des Buches steht die Suche des Sohnes nach der
wahren Identität seines Vaters. Zunächst glaubt er der
Mutter, als die angesichts der Verhaftung von einer Verwechslung
spricht. Er erlebt den Vater in ihren Disputen als "rechten
Sozialdemokraten"; in der SPD galt er als "Kommunistenfresser". Um
so unverständlicher erschien ihm dessen Selbstenttarnung
während der Festnahme: "Ich bin Bürger der DDR und ihr
Offizier. Respektieren Sie das!"
Die Vater-Sohn-Gespräche während der U-Haft und nach
Günter Guillaumes Verurteilung zu 13 Jahren Haft geraten
angesichts der Bewachung zum Smalltalk; sie sparen das Thema
Spionage ebenso aus wie die einsetzende Fürsorge von
DDR-Stellen für den 17-jährigen Pierre Guillaume. Er
idealisiert das Vaterbild in dem Maße, in dem sich seine zu
acht Jahren verurteilte Mutter als Opfer und missbraucht
stilisiert.
Es ist der Münchner Anwalt Dr. Pötschke, der im
Auftrag der Staatssicherheit die Rolle des Ersatzvaters einnimmt
und der ihn subtil auf die Übersiedlung vorbereitet: Nur so
könne die Familie nach dem Agentenaustausch zusammen sein. Er
darf in die DDR reisen, bekommt unter Rundumbetreuung des MfS die
Schokoladenseite des Landes vorgeführt. Erst Jahre später
begreift er die Dimension des Stasi-Coups. Er wurde zum Faustpfand
gegen möglichen Geheimnisverrat oder eigenmächtige
Entscheidungen seiner Eltern.
Gleich einem Zaungast liefert er Impressionen des realen
Sozialismus mit seinen "hässlichen Waren" in Kaufhäusern,
"graugesichtigen" Warteschlangen vor Restaurants, uniformierten
Blauhemden beim Fahnenappell und dem nachzubetenden
Staatsbürgerkundestoff. Zugleich genießt er die
Privilegien der Herrschenden. Seine Stasi-Betreuer verschaffen ihm
eine Neubauwohnung und trotz geschmissenen Abiturs ein Volontariat
bei "Neues Deutschland", eine Fachschulausbildung und seiner
Neigung gemäß eine Anstellung als Fotograf bei der "Neuen
Berliner Illustrierten".
Der Name Guillaume verschafft ihm Eintritt in den inneren Zirkel
der Macht. Das Buch berichtet vom konspirativen Empfang seiner
Eltern beim HVA-Chef Markus Wolf, von Pierre Guillaumes Hochzeit
mit der Tochter eines Obersts des MfS als "gesellschaftlichem
Großereignis", bei dem sie sich als Komparsen wiederfinden.
Diskussionen mit seinem Vater in dessen Villa am Bötzsee oder
bei Feiern im Kreis hochrangiger Stasi-Leute und
SED-Funktionäre öffnen ihm zunehmend die Augen über
deren Realitätsverlust. Der Vater passt sich einmal mehr
perfekt an, schlüpft in die Identität des
Vorzeigekundschafters und dogmatischen Hardliners. Es sind vor
allem die subjektiv-kritischen Einblicke in das Selbst- und
Menschenbild diktatorischer Machteliten, die das Buch interessant
machen.
1988, nach 13 Jahren, entledigen sich Pierre Guillaume und seine
Familie der zunehmend als erniedrigend empfundenen Fürsorge
und Einmischung der Staatsicherheit durch einen Ausreiseantrag und
Namenswechsel. Ihr Kampf gegen die Umklammerung des Apparats
gerät dabei zu einem bemerkenswerten Stück
Zivilcourage.
Pierre Boom/Gerhard Haase-Hindenberg
Der fremde Vater.
Der Sohn des Kanzlerspions erinnert sich.
Aufbau-Verlag, Berlin 2004; 415 S., 22,50 Euro
Udo Scheer arbeitet als Schriftsteller und Publizist in
Leipzig.
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