Enrico Syring
Die Folgen von grenzenlosem Hass und
Nationalismus
Geißeln des 20. Jahrhunderts:
Völkermord und ethnische Säuberungen
Gewalt, Krieg und Massenmord bleibt ein Thema - auch im 21.
Jahrhundert. Nur haben sich die vorrangigen Konfliktlinien von der
zwischenstaatlichen Ebene noch deutlicher in die Staaten selbst
hinein verlagert. Auch der an der Stanford-University lehrende
Historiker Norman M. Naimark sieht keinen Grund für
Optimismus: Wenn die internationale Gemeinschaft in Zukunft nicht
sehr viel schneller und entschlossener als bisher handele, werden
sich die haarsträubenden Schrecken der "ethnischen
Säuberungen" mit Sicherheit wiederholen.
Deren vergleichende Geschichte in Europa während des 20.
Jahrhunderts ist das Thema seines Buches. Ausgangspunkt ist dabei
die Unterscheidung zwischen "ethnischer Säuberung" und
Völkermord: Der letztgenannte sei als vorsätzliche,
ausnahmslose Ermordung einer ganzen ethnischen, religiösen
oder nationalen Gruppe oder eines ganzen Volkes zu verstehen. Ziel
einer "ethnischen Säuberung" sei es hingegen, "die ?fremde'
Nationalität, ethnische oder religiöse Gruppe loszuwerden
und das Territorium zu übernehmen, das sie früher
bewohnte".
Naimark gibt zu, dass die Grenzen in der Realität oft
fließend sind: auch "ethnische Säuberungen" haben
häufig, zumindest phasenweise, das Erscheinungsbild und die
Wirkung eines Völkermordes. Dennoch sei es wichtig, den
entscheidenden Unterschied, den erklärten Vorsatz der ebenso
ausnahme- wie restlosen Ermordung, deutlich herauszustreichen.
Die Ursachen der Völkermorde und der ethnischen
Säuberungen sieht Naimark in den zu Ende des 19. Jahrhundert
an Stoßkraft gewinnenden Ideen des integralen Nationalismus,
deren Vermischung mit dem Imperialismus, dem Zwang des modernen
Staates, "politische Maßnahmen durchzusetzen und Probleme
end-gültig zu lösen" sowie der technischen
Fähigkeiten dazu. Zudem habe die Erfahrung des Ersten
Weltkrieges das "industrielle Töten" im Bewusstsein der
Zeitgenossen geradezu zur "perfektionierten Routine" werden
lassen.
Entlang seiner definitorischen Unterscheidung zwischen
Völkermord und "ethnischer Säuberung" untersucht Naimark
das Schicksal der Armenier und der anatolischen Griechen, die
Judenverfolgung im Dritten Reich, die sowjetischen Deportationen
der Tschetschenen-Inguschen und der Krimtartaren, die Vertreibung
der Deutschen aus Polen und aus der Tschechoslowakei und
schließlich die Kriege im ehemaligen Jugoslawien auf
Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Auch wenn Naimark betont, es gebe "eine klare und
offensichtliche Verbindung zwischen dem Aufstieg der Nazis zur
Macht und ihrer Beherrschung des Kontinents und andererseits dem
Aufstieg Stalins und des Stalinismus in der Sowjetunion", sticht
der Massenmord an den europäischen Juden während des
Zweiten Weltkrieges für ihn doch klar heraus. Entscheidend
hierfür sei letztlich die Intensität der von Anfang an
klar ihre eliminatorische Zielsetzung verfechtenden
nationalsozialistischen Rassenideologie. Sie sei das gleichsam
Spezificum hinter dem Holocaust.
Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien wiederum seien
ursächlich viel enger mit der deutschen Besatzungspolitik
während des Zweiten Weltkrieges und dem sowjetischen Einfluss
nach 1945 in dieser Region verbunden, als mit einem von den Medien
oft kolportierten angeblich "jahrhundertealten"
unauslöschlichen Hass zwischen den verschiedenen Ethnien.
Dafür gebe es keinerlei Anhaltspunkte.
Besonders anregend sind die von Naimark zum Schluss formulierten
typologischen Gemeinsamkeiten der von ihm durchleuchteten
ethnischen Säuberungen. Sie sind stets durch Gewalt
gekennzeichnet, finden oft in Kriegszeiten, zumal in
Übergangszeiten vom Krieg zum Frieden hin statt, sind in ihren
Zielsetzungen total, versuchen die Geschichte vollständig
umzuschreiben, richten sich auch gegen das Eigentum der von ihnen
Betroffenen und sind oft von einer besonders barbarischen
Grausamkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht
geprägt.
Alles in allem hat Naimark ein ebenso erschütterndes wie
erhellendes Buch vorgelegt, das eindringlich vor allzu großer
Selbstgewissheit und allzu großem Zukunftsoptimismus
warnt.
Norman M. Naimark
Flammender Haß. Ethnische Säuberung im 20.
Jahrhundert.
Aus dem Amerikanischen von Martin Richter.
Verlag C. H. Beck, München 2004; 300 S., 26,90 Euro
Enrico Syring ist Zeithistoriker und frei arbeitender Publizist;
er lebt in Climbach bei Gießen.
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