Wolfgang Hanneforth
Den Bausteinen menschlichen Lebens auf der
Spur
Ein erhellendes Buch der Nobelpreisträgerin
Nüsslein-Volhard
Eigentlich ein Wunder", so Nobelpreisträgerin Christine
Nüsslein-Volhard im Vorwort zu ihrem soeben erschienenen Band
über das Werden des Lebens: Tiere entstehen aus einer
befruchteten Eizelle, die noch so gar keine Ähnlichkeit mit
der Gestalt des sich aus diesem Ei entwickelnden Lebewesens hat.
Wie aber entsteht diese - neue - Ordnung?
Molekulargenetische Methoden, das Analysieren von Genen und der
von ihnen codierten Proteine, hätten der Entwicklungsbiologie
in den vergangenen 50 Jahren enorme Fortschritte beschert. Dabei
erkenne man heute bei aller Vielfalt viel Gemeinsames, das sich
dank weitgehender Übereinstimmung der molekularen Parameter
von Genen und ihrer Produkte vergleichsweise einfach erklären
lasse.
Das Buch sei vor allem für Leser mit Interesse an Biologie,
für Chemiker, Physiker und Mediziner gedacht, aber durchaus
auch für Lehrer, Studierende und Schüler mit
möglicherweise lückenhaften biologischen
Grundkenntnissen. Es solle keinesfalls ein Lehrbuch oder gar
Nachschlagewerk ersetzen (dennoch: zu begrüßen ist in
diesem Zusammenhang das allerdings knappe Glossar im Anhang). Die
Autorin erhofft sich aber auch Leser unter Philosophen, Juristen
und Politikern, die sich in politischen Debatten Fragen zu Genen
und Embryonen stellen müssen.
Der Text beginnt mit einem Kapitel über die
Evolutionstheorie und die Vererbungsgesetze. Es folgen in den
Kapiteln "Zellen und Chromosomen" sowie "Gene und Proteine" die
Grundlagen der Zell- und Molekularbiologie.
Der Hauptteil des Buches aber ist der Frage gewidmet, wie Gene
die Entwicklung steuern und wie Gestalt entsteht. Diese Fragen
werden vor allem und besonders ausführlich an
Forschungsergebnissen mit der Fruchtfliege Drosophila abgehandelt,
für die die Autorin mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet
wurde.
Drosophila ist den meisten Leserinnen und Lesern sicherlich noch
als "Objekt" der klassischen Genetik vertraut. Die umfangreichen
Vorarbeiten auf genetischem Gebiet aber prädestinieren die
Fruchtfliege auch für die Erforschung gengesteuerter
entwicklungsbiologischer Prozesse.
Anschauliche Darstellung
Beeindruckend ist die Fähigkeit der Autorin, komplexe
Sachverhalte verständlich und mit Unterstützung
zahlreicher Abbildungen anschaulich darzustellen: Wie im sich
entwickelnden Embryo Konzentrationsabhängigkeit und
Schwellenwerte bei Genaktivierungen, die Induktion von
Polaritäten und Segmentierungen, Überlagerungen und
Kombinationen hemmender oder aktivierender Faktoren ineinander
greifen.
Die Kapitel "Wirbeltiere" und "Mensch" belegen einerseits die
großen Unterschiede in deren Entwicklung im Vergleich zu der
der Arthropoden, aber auch innerhalb der verschiedenen
Wirbeltierklassen. Andererseits überraschen homologe
Strukturen, die auf gemeinsame Vorfahren in der Evolution
hindeuten: Gene, die beim Frosch entdeckt wurden, können auch
beim Huhn oder der Maus (und vermutlich auch beim Menschen)
entsprechende Funktionen erfüllen. Sogar bei Drosophila
entdeckte und in ihrer Funktion bekannte Entwicklungsgene haben
homologe bei Wirbeltieren!
So sind Untersuchungen an Modellorganismen gleichzeitig die
wichtigste Quelle für das Verständnis auch der Funktion
menschlicher Gene, da einschlägige Experimente aus der
Tiergenetik wie zum Beispiel gezielte Kreuzungen und das Induzieren
von Mutationen beim Menschen ausgeschlossen sind.
Nach der Behandlung der Entstehung und Evolution von Tier und
Mensch widmet sich die Autorin im Schlusskapitel einigen auch
für Medizin, Wirtschaft und Politik "Aktuellen Themen" wie der
Embryonen- und Stammzellforschung, der
Präimplantationsdiagnostik (PID) und dem Klonen. Die
Präimplantationsdiagnostik sei in Deutschland für
allenfalls 200 Paare jährlich indiziert. Hier aber könnte
eine Frühdiagnose vor der Implantation eine spätere -
erlaubte - Abtreibung erbkranker Föten vermeiden helfen. Das
Problem einer Weiterung von PID auf die Erzeugung von "Menschen
nach Maß" stellt sich nach Ansicht der Autorin nicht:
natürliche Grenzen, wie etwa der sehr komplexe Zusammenhang
zwischen Gen und Eigenschaft, setze hier möglichen Visionen
Schranken.
Das Klonen von Menschen werde von Forschern weltweit auch aus
ethischen Gründen abgelehnt und sei in vielen Ländern
ausdrücklich verboten. Im Blick auf embryonale Stammzellen
hält sie es demgegenüber für geboten, dass auch
Deutsche sich an der Erforschung möglicher Therapien
beteiligen, die - sollten sie im Ausland entwickelt werden -
deutschen Patienten ja nicht vorenthalten werden dürften. Der
Kompromiss, Forschung nur an bereits vor dem 1. Januar 2002 im
Ausland etablierten Stammzelllinien zu gestatten, sei
unvernünftig. Hier beklagt die Autorin - nicht zum ersten Mal
und nicht nur im vorliegenden Buch - das große Misstrauen der
Politik den Forschern gegenüber.
Aber: sind mögliche alternative Ansätze, etwa die
Erforschung des Potenzials somatischer Stammzelllinien,
ausgeschöpft und ausgelotet? Ist Misstrauen Forschern
gegenüber nicht angebracht oder gar geboten angesichts gerade
mal ein Jahr zurückliegender lauttönender
Ankündigungen aus den USA und Italien - sogar jüngst aus
London -, erste menschliche Klone seien bereits unterwegs?
Ein interessantes und empfehlenswertes, fast spannend zu
lesendes Sach- wenn nicht Fachbuch, auch wenn es Politikern oder
Juristen, die sich vielleicht seit Verlassen der Schulbank nicht
mehr mit biologischen Themen haben befassen müssen, Einiges
abverlangt.
Christiane Nüsslein-Volhard
Das Werden des Lebens.
Wie Gene die Entwicklung steuern.
C.H. Beck Verlag, München 2004; 208 S.,
50 Abbildungen, 19,90 Euro
Professor Wolfgang Hanneforth ist Biologe und hat bis zu seiner
Emeritierung an der heutigen Hochschule für Angewandte
Wissenschaften in Hamburg gelehrt.
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