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Stefanie Hoffmeister
Poesie und Lebensbilanz
Günter Kunerts verstörende Notizen und
Aufzeichnungen
Chronist des Beiläufigen" nennt sich der Dichter. Ende 1979
begann Günter Kunert, sich Notizen zu machen, über
Erlebtes und Gedachtes, über Mystik und Realität,
über Politik und immer wieder über den Zwang zum
Schreiben. Notizen sind für ihn so etwas wie Gegenwehr,
"Schutz vor Überwältigtwerden durch die Ungeheuerlichkeit
des erklärlichen menschlichen Daseins." Ein Tag ohne
Wortemachen hat für ihn gar nicht stattgefunden.
Die Themen sind breit gespannt, die Genres von großer
Vielfalt: Kürzestgeschichten (eine Kunert'sche Worterfindung),
Aphorismen und Anekdoten, Feuilletons, Parabeln und Sprüche,
Gedächtnisstützen für einen späteren Text, der
sich meist erübrigte. Die Aufzeichnungen steuern auf eine
Pointe zu. Die tut manchmal weh; ein Trostspender ist Kunert nicht.
Seine bis in die 50er-Jahre reichenden Aufzeichnungen sind nun in
einem Band zusammengefasst, in thematische Kapitel geordnet, nicht
chronologisch aufgereiht.
Von Schreiben ist die Rede, von Dichtern, Zeitgenossen und
Legenden, von Gewalt und Denkungsarten, vom Eros ("immer hat ein
erotisches Moment die Feder zu führen"), von Altern und Tod.
Kunert schreckt auf aus Selbstzufriedenheit und Behäbigkeit.
Er konstatiert und erinnert sich genau an Fakten. An Stasi-Zeiten
zum Beispiel, an Bedrängnisse in seinem DDR-Leben, wie er
getrieben wurde, in die Fremde zu gehen. Wie er sich zurechtfinden
musste mit Marianne, der Ehefrau seit Jugendjahren, wie er in die
Einsamkeit eines Dorfes zog, das längst sein Zuhause ist.
Seine Bekanntschaft mit Brecht liegt 50 Jahre zurück. Der
Meister ist ihm noch immer gegenwärtig. Über Biermann
erfahren wir, dass ihm da ein schüchterner, einsamer Mann am
Tisch gegenüber saß. Ich las schon Gegenteiliges
über den stachligen Liedermacher. Gerade diese sehr andere
Sicht Kunerts, oft stark egozentrisch, ist eine Eigenschaft, zu der
er sich als Voraussetzung fürs Schreiben bekennt. Er versetzt
den Leser in Spannung. man fühlt sich provoziert, eigene
Erfahrungen dagegen zu setzen. Kunert als gnadenloser
Gedanken-Herausforderer, - das bringt Vergnügen beim Lesen,
manchmal auch Anstrengung. Er verrät etwas von seiner
früheren Identifikation mit dem introvertierten Ich des
Dichters, dem außer dem Werk "alles andere gleichgültig
ist".
Von ewigen Wahrheiten hält er nichts. Skeptisches Denken
ist ihm Hauptantrieb beim Schreiben. Er mutet dem Leser bittere
Erkenntnisse zu, schwelgt aber auch in poetischen Bildern,
fabuliert mit unglaublicher Phantasie, erfindet Wortgebilde;
manchmal fallen ihm Sprüche ein, die launig und banal zugleich
sind, dann wieder feine Ironie und Sarkasmus.
Günter Kunert, in diesem Tagen 75 Jahre alt geworden,
widerspricht mit Lust und widerspricht manchmal auch sich selbst.
Keinen Respekt hat er vor Genies und großen Namen.
Gedankensplitter über Goethe etwa, der kein Zweifler war, gar
nicht skeptisch, "und just dies ist die Stelle, an der er sterblich
sein dürfte". E. T. A. Hoffmann, der seine kurzen 46 Jahre mit
aller Intensität für sein Schaffen nutzte, wird
bewundert. Heute, so Kunert, ist dieses Gespür für
verrinnende Zeit verloren gegangen, "als wäre unsere Existenz
ewig". Dabei, so seine Überzeugung, sei unsere Epocher weitaus
bedrohter als die voriger Jahrhunderte.
Stets verbirgt sich hinter seinen Betrachtungen ein Stück
eigene Biografie. Besonders deutlich zeigt sich das bei der
Erinnerung an die DDR-Diktatur, an die Zeiten danach, an die Wende
und Umbrüche. Er nennt - was viele fordern - Unsinn, Ost- und
Westdeutsche sollen gleich werden, eins in Fühlen und Denken.
Klüger sei, die Unterschiede als Vorzüge zu nutzen und
als Gewinn zu erkennen.
Entspannend ist zu lesen, wie er über Genüsse ohne
Reue nachdenkt. Die Stille gehört dazu, bei Lärm
könne er auf Dauer nicht leben. Kunert sucht Ruhe und stellt
fest, "nichts schwerer als das". Über Reisen fabuliert er und
Lieblingsorte, über Beziehungen, die im Laufe des Lebens
entstanden sind und wieder zerbröckelten; wenige blieben. Wenn
er über das Alter schreibt, erkennt man Aussichtslosigkeit und
Überdruss. Mit Marianne hat er sich die Grabstelle ausgesucht
für einst. Zur Ruhe kommen will er in Berlin, wo er geboren
ist, auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee.
Das letzte Kapitel widmet er dem Weltende. Das sei nicht mehr
abzuwenden. Das Nachwort will relativieren, spricht von der
Vermutung, stellt Warnschilder auf, beabsichtigt eine Art
Schocktherapie für die ignorante Menschheit. Ich lese diese
Hoffnung bei ihm nicht. Das aber ist das Großartige an seinen
Texten: Man kann sie für sich entschlüsseln, zustimmen
oder ablehnen, durchforsten, dies und jenes erneut zur Hand nehmen
und Kunert wiedersprechen, der am Ende sagt: "Das Wundern hat
aufgehört."
Günter Kunert
Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast. Aufzeichnungen.
Carl Hanser Verlag, München 2004; 335 S., 21,50 Euro
Stefanie Hoffmeister arbeitet als freie Journalistin in
Berlin.
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