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Claudia Heine
Ein ungewöhnliches Schicksal: Ihre Wiege
stand im Reichstag
Wie viele Kinder im Keller des Parlaments
geboren wurden, weiß niemand
Ganz oben war sie schon, wie die meisten Besucher, die das
Reichstagsgebäude in Berlin seit seiner Wiedereröffnung
im April 1999 besichtigten. Als Elke Jöst zusammen mit ihrem
Ehemann Walter vor ein paar Jahren die weite Reise aus Hessen
antrat, um von der neuen Glaskuppel des Reichstages einen Blick auf
ihre Geburtsstadt zu werfen, hatte sie nicht daran gedacht, den
Hausherrn einmal persönlich zu treffen. Doch am 29. März
2004 war es so weit: Sie wurde von Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse (SPD) empfangen, und der Grund dafür lag ganz
unten, im Keller des Reichstagsgebäudes. Hier wurde sie im
Februar 1944 geboren, ein "Reichstagskind".
Seit im November 1943 der Großangriff alliierter Bomber auf
Berlin begonnen hatte, gehörten nächtlicher Bombenalarm,
Zerstörung und Ausnahmezustand zum Alltag. Kinder wurden
trotzdem geboren. Aber ausgerechnet im Keller des Reichstages,
dieses Symbols für Entwicklung und Zerstörung der
Demokratie in Deutschland? Seit dem Reichstagsbrand 1933, nach dem
die Kuppel nur notdürftig ausgebessert worden war, diente das
Gebäude hauptsächlich propagandistischen Zwecken der
Nationalsozialisten. Zum Beispiel wurde hier 1938 die Ausstellung
"Entartete Kunst" gezeigt. Während des Zweiten Weltkrieges
boten die vier Meter dicken Betonwände der Luftschutzbunker
einen besseren Schutz vor Bomben als die Kellerräume der
meisten Mietshäuser. Hier konnten schwangere Frauen ihre
Kinder sicherer zur Welt bringen und taten dies anscheinend
öfter als bisher bekannt.
"Geboren im Reichstagsgebäude" steht in der Geburtsurkunde
von Elke Jöst, die Wolfgang Thierse staunend in den
Händen hält: "Wir erleben ja hier im Gebäude
ständig zum Teil schwere Entbindungen von Gesetzen, aber dass
hier auch Kinder zur Welt gekommen sind, wusste ich bis vor kurzem
noch nicht", sagt er. Elke Jöst dagegen wusste schon immer von
ihrem ungewöhnlichen Geburstort, nur mehr weiß sie eben
nicht. Ihre Mutter starb, als sie drei Jahre alt war, und auch den
Vater lernte sie nie kennen. So kam sie zunächst in ein
Kinderheim in Kreuzberg, bevor sie schließlich von
Pflegeeltern adoptiert wurde. 1965, da hatte sie bereits eine
kaufmännische Lehre hinter sich, verließ sie Berlin und
zog nach Bad Kreuznach: "Durch die Mauer war das ja doch alles
ziemlich eingeengt, und wir wollten reisen und die Welt sehen", so
Jöst über die Gründe. Obwohl ihre "Wurzeln" in
Messel, einer Kleinstadt bei Darmstadt liegen, beschreibt sie
Berlin als die "Heimatstadt". Es sei eine "schöne
Überraschung, hier sein zu dürfen", sagt sie auf
Nachfrage des Bundestagspräsidenten.
Abgesehen davon, dass Elke Jöst ihre Mutter nicht selbst
über die Umstände ihrer Geburt fragen konnte: Auch die
Historiker konnten bisher nicht einheitlich klären, wo genau
sich entsprechende Räume in den Kellergewölben des
Reichstages befanden und von wem sie dort eingerichtet und
betrieben worden sind. Fest steht nur, dass in den Jahren 1943 und
1944 dort Kinder zur Welt kamen, belegt einzig durch die
Geburtsurkunden jener "Reichstagskinder", die bisher bekannt sind.
Und das sind wenige. Spekulationen, wonach es sich bei den
Räumen um eine Geburtsstation der Charité gehandelt habe,
zweifelt Volker Hess, Professor am Institut für Geschichte der
Medizin an der Charité an: "Zwar sind die Unterlagen der
Geburtsklinik im Krieg verbrannt, aber es spricht nichts
dafür, dass dort eine Klinik ausgelagert worden wäre.
Dafür existierten bereits riesige Bunkeranlagen im Zentrum
Berlins, mit Operations- und Kreißsälen."
Ein überlieferter Befehl Hitlers vom September 1940 legt
ebenfalls einen anderen Schluss nahe. In ihm ordnete er an, den
Keller des Reichstages zu einem Luftschutzraum "für Kinder und
Wöchnerinnen" auszubauen. Konzipiert war er anscheinend
für über 200 Kinder und ungefähr 40 Frauen. Demnach
hätte es sich weniger um eine Klinik im eigentlichen Sinn
gehandelt, als vielmehr um einen Ort, an den sich auch schwangere
Frauen während der Bombenangriffe zurückzogen, um
notfalls hier, in relativer Sicherheit ihre Kinder zu bekommen -
aber unter Aufsicht medizinischen Personals der Charité, wie
es Aussagen von Müttern anderer "Reichstagskinder" vermuten
lassen. Es existieren auch Unterlagen, die eine "halbe"
Kliniklösung nahelegen, nach der zumindest Teile der
geburtshilflichen Abteilung der Charité in
Übereinstimmung mit Hitlers Befehl 1940 in die
Luftschutzbunker verlagert wurden.
Michael Cullen, Berliner Historiker und Kenner der
Reichstagsgeschichte, wusste bisher wenig über diesen Teil der
Geschichte, da die meisten Materialien vernichtet wurden. Seine
Recherche im Standesamt Berlin-Mitte, in dem sich die
entsprechenden Geburtsurkunden befinden, brachten jedoch eine
kleine Sensation zu Tage: Allein von August bis Dezember 1943
wurden 19 Kinder im Reichstagsgebäude geboren. Bisher gingen
die Schätzungen insgesamt von ungefähr zehn Geburten aus.
Cullen: "Deshalb vermute ich, dass es insgesamt 80 solcher
'Reichstagskinder' geben könnte." Eine Vermutung, die sich aus
den standesamtlichen Unterlagen allein nicht erhärten
lässt, da die Akten des Jahres 1944 und 1945 in den
Kriegswirren komplett vernichtet worden sind.
Eine weitere Recherche ist also auch auf die "Reichstagskinder"
selbst angewiesen, die dazu beitragen könnten, dieses noch
weitgehend unbekannte Kapitel des Gebäudes zu
rekonstruieren.
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