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Ulrike Groop
Ein großer Schritt über die Grenze
Die neuen Grenzgänger: Wie ein polnischer
Mittelständler Arbeitsplätze in Deutschland
schafft
"Kaum zu glauben, dass die deutsche Wirtschaft
auch mal im eigenen Lande investiert!", rief einer der
Möbelpacker, als er neue Schreibtische und Stühle in eine
frisch renovierte Halle in einem Leipziger Industriegebiet
schleppte. Was der Mann nicht wissen konnte: das Geld für die
neue GmbH kommt aus Polen. Der Möbelpacker gibt das
Stimmungsbarometer recht genau wieder: In Deutschland nehmen die
Ankündigungen von Stellenstreichungen und Firmenverlagerungen
gerade gen Osten kein Ende. Doch während die deutsche
Industrie dem Standort Deutschland den Rücken kehrt, findet
der polnische Unternehmer Joachim Siekiera den Gang nach Westen und
die Schaffung von Arbeitsplätzen im Hochlohnland
Bundesrepublik höchst erstrebenswert.
In Polen und in Osteuropa sind wir im Bereich
‚Druckvorstufe für die Verpackungsindustrie' eine der
marktführenden Firmen in unserer Branche. Und wir haben auch
schon seit längerem Kunden in Westeuropa", sagt der
47-Jährige. "In Zukunft wollen wir unseren Kunden sagen
können: ‚Wir sind eine polnische Firma, aber wir
produzieren auch hier in Deutschland'."
Die Voraussetzungen für eine noch
schnellere Erledigung von Aufträgen haben sich seit dem Start
der Chespa in Leipzig in einer verkehrsgünstig gelegenen
Fabrikhalle vor den Toren der Stadt deutlich verbessert. Sieben
deutsche Angestellte sind bereits unter Vertrag, eine Expansion ist
geplant. "Die Verzögerungen von zwei bis drei Tagen, wie sie
durch die Wartezeiten beim Zoll beziehungsweise an der
deutsch-polnischen Grenze entstehen, sind ein echter
Wettbewerbsnachteil", sagt Joachim Siekiera, "abgesehen von den
Kosten, die das verursacht, ist dies in unserer Branche eigentlich
nicht mehr akzeptabel." Die damit verbundenen Probleme gehören
für die Chespa und ihre Kunden der Vergangenheit an, egal, ob
sich die Situation an der Grenze nach dem EU-Beitritt Polens im Mai
2004 zum Guten wenden wird oder nicht.
"Premiere" und "standortpolitische Sensation"
titelte die Leipziger Lokalpresse einen Artikel über die
Chespa im vergangenen Jahr. Die Ankündigung der Ansiedlung
einer neuen Firma ist in Zeiten der Rezession natürlich immer
eine Meldung wert, zumal in Leipzig, das am Image seiner Rolle als
Drehscheibe zwischen Ost und West arbeitet. Aber das Besondere ist,
dass erstmals ein polnischer Mittelständler in die
Bundesrepublik expandiert und mit polnischem Kapital
Arbeitsplätze schafft und zwar für deutsche
Arbeitnehmer.
Die Leipzigerin Marlies Ronninger steht an
einem großen Tisch und kontrolliert fertige Probeabdrucke aus
der Offset-Druckmaschine. Als die gelernte Repro-
duktionsfotografin Ende der 90er-Jahre zum zweiten Mal nach der
Wende arbeitslos wurde, war sie 45 Jahre alt. Die zu Zeiten der DDR
einst mächtige Buch- und Druckindustrie Leipzigs, Arbeitgeber
für viele Tausende, war weitgehend zusammen gebrochen. Das
Arbeitsamt verordnete Weiterbildungsmaßnahmen, Umschulung, ABM
- ohne Erfolg. "Eigentlich hatte ich die Hoffnung schon
aufgegeben", berichtet Ronninger. Doch am Tage vor ihrem 50.
Geburtstag klingelt das Telefon. Der langjährige
Arbeitskollege Detlef Hiebsch will wissen, ob sie mit ihm bei einer
neuen Firma anfangen wolle. Ronninger und Hiebsch kennen sich aus
vielen gemeinsamen Berufsjahren: zu DDR-Zeiten bei der Leipziger
Interdruck, die nach der Wende teil weise von einem der
größten westdeutschen Druckereiunternehmen
übernommen wurde. Als dieses 1997 in Konkurs geht, wird die
Leipziger Niederlassung trotz guter Zahlen und ausreichender
Aufträge mit in den Abgrund gerissen. "Dass ich erst durch
einen polnischen Unternehmer hier in Leipzig wieder Arbeit finden
würde, hätte ich mir damals auch nicht vorstellen
können", sagt Marlies Ronninger heute.
Eine glückliche Wende wie im Fall der
Marlies Ronninger klang für Arbeitnehmer in Deutschland
bislang eher wie ein Märchen oder gar wie Hohn. Denn für
sie bedeuteten deutsch-polnische Joint Ventures in aller Regel eine
Bedrohung, wenn nicht gar den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes.
Normalerweise funktioniert die Mobilität der Wirtschaft
nämlich fast ausschließlich in Richtung Osten: und wenn
Firmen aus Deutschland "nach Polen gehen", dann gehen die
Arbeitsplätze meist mit.
Die Fahrbahn in Gegenrichtung wird zumindest
in der offiziellen Wirtschaftssphäre bislang nur vereinzelt
genutzt, wenn man von den immer wieder durch die Medien geisternden
Vorzeigebeispielen wie dem polnischen Metzger, der in Berlin echte
Krakauer Würste verkauft, oder diversen Friseuren und
Bäckern in Frankfurt an der Oder absieht. Solche
Handwerksbetriebe mussten bislang für freundlich bunte Stories
in deutschen Medien herhalten, quasi als Kehrseite der
Berichterstattung über Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft.
Im Herbst 2003 kam allerdings eine wirklich neue Nuance in die
Berichterstattung, als einige deutsche Grenzgänger in
Frankfurt an der Oder von sich reden machten, die nach
längerer Erwerbslosigkeit bei polnischen Autofirmen oder
Tankstellen jenseits der Grenze Arbeit fanden. Diese Fälle
wurden in den deutschen Medien dann aber doch eher als Beleg
für die vermeintlich ausweglose Situation der Menschen in den
neuen Bundesländern interpretiert, denn als Signal für
die neuen wirtschaftliche Realitäten im zusammenwachsenden
Europa. Die Erkenntnis, dass der polnische Arbeitsmarkt, vor allem
in der Nähe der Grenze, zukünftig auch für deutsche
Arbeitnehmer interessant werden wird, muss sich erst noch einen Weg
in die Köpfe bahnen. Ein Unternehmer wie Joachim Siekiera gar,
der freiwillig im Hochlohnland Bundesrepublik polnisches Kapital
investiert, erscheint noch immer als Exot. Beim desolaten (Selbst-)
bild des Standorts Deutschland und den tief verwurzelten
Vorurteilen ist es für viele Menschen sowieso kaum
vorstellbar, dass ein polnischer Unternehmer vor allem aus
unternehmensstrategischen Gründen (und nicht aus dunklen
Motiven) nach Deutschland kommt. "Natürlich will ich vor allem
Geld verdienen", sagt Joachim Siekiera, "und das ist auch
möglich, trotz des hiesigen Lohnniveaus."
Paradoxerweise scheint die Beschreibung
osteuropäischer Musterbetriebe bei der Mehrheit der
Bevölkerung bestehende Vorurteile über die polnische
Wirtschaft zu bestärken, statt die Erkenntnis zu
befördern, dass man ja auch hierzulande davon profitieren
kann, wenn eine dynamische, schnelle und hochmotivierte Generation
von jungen Unternehmern in Wartestellung hinter der Grenze steht.
Die Hindernisse sind vielfältig, die Abschottungsmechanismen
einfallsreich bis absurd. Manchmal gleicht die Gründung einer
Niederlassung in Deutschland noch immer "einem Weg durch die
Hölle", sagt die langjährige Handelsrätin im
polnischen Generalkonsulat, Wanda Galicz-Ostrowska.
Dabei sind polnische Firmen auf dem deutschen
Markt so neu - und so selten - nun auch wieder nicht. Schon seit
langem, spätestens jedoch seit Ende der 80er-Jahre, gibt es
Handelsniederlassungen, Büros für Import oder Export,
seltener auch einmal hier nieder gelassene polnische Restauratoren
oder Modeateliers. Doch beim größten Teil der polnischen
Wirtschaftsaktivitäten hier zu Lande handelt es sich noch
immer um Subunternehmer, die von Polen aus ihre eigenen
Arbeitskräfte schmutzige und schwierige Arbeiten wie Rohbau
und Metallflechten auf Baustellen verrichten lassen. Das
produzierende Gewerbe hingegen war bislang kaum auf dem
bundesrepublikanischen Markt vertreten. Als Arbeitgeber für
besonders qualifizierte deutsche Arbeitnehmer waren polnische
Firmen hierzulande bislang fast undenkbar. Daran hat auch der
vielbeachtete Markteintritt der polnischen Tankstellenkette Orlen
vor einem Jahr nichts geändert.
Wie sehr das Bild, das sich vor allem die
Deutschen von Polen machen, noch in einem anderen Punkt hinter der
Realität hinterherhinkt, zeigt eine andere, weitgehend
unbekannte Zahl: Etwa 80.000 Deutsche arbeiten inzwischen in Polen,
meist in einem der 8.000 deutschen Unternehmen oder als
Sprachlehrerinnen und -lehrer. Wer also glaubt, dass die
deutsch-polnische Grenze bislang nur in die eine (und zwar die
für den deutschen Arbeitsmarkt schädliche) Richtung
durchlässig ist, täuscht sich. Doch all diese Fakten
können vorläufig nichts daran ändern, dass der
bevorstehende EU-Beitritt vor allem Befürchtungen hervorruft
und Ängste weckt: In den ostdeutschen Nachbarstaaten der
Beitrittsländer Polen und Tschechien fürchtete man sich
trotz Übergangsfristen mittelfristig vor Lohndumping und
Billigkonkurrenz, vor allem im Handwerk. Des weiteren werden viele
Millionen für öffentliche Infrastruktur aus
Brüsseler Fördertöpfen wegfallen, wenn die bislang
mit der höchsten Förderstufe unterstützten Regionen
ihre Hilfsgelder zukünftig an die noch ärmeren neuen
Nachbarn jenseits der Grenze weiterreichen müssen. Nach einem
kürzlich im Auftrag des sächsischen Wirtschafts- und
Arbeitsministeriums erstellten Gutachten des ifo-Instituts in
Dresden ("Auswirkungen der EU-Osterweiterung auf Wirtschafts- und
Arbeitsmarkt in Sachsen") ergibt sich für den Bereich der KMU
(Kleine und Mittlere Unternehmen) jedoch ein recht differenziertes
Bild. Die Verteilung der Chancen und Risiken der Osterweiterung
hängt nach Ansicht der Dresdner Experten von der Branche, der
Art der Produktion und der Bedeutung von Distanzkosten für die
jeweilige Sparte ab. Ausdrücklich vermerken sie, dass noch
immer eine abwartende beziehungsweise desinteressierte Haltung
vieler Unternehmen festzustellen sei; für deren
Vorbereitungsstand haben sie nur das Prädikat
"alarmierend".
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Chespa in Leipzig, die selbstverständlich nach deutschen
Tarifen bezahlt werden, müssen sich um den Vorbereitungsstand
ihres Unternehmens keine Sorgen machen. Auch vom neuen, gereizten
Ton in den deutsch-polnischen Beziehungen ist hier nichts zu
spüren. Was in dieser Firma sofort auffällt, ist die
ruhige, konzentrierte und freundlich professionelle
Atmosphäre, die dann entsteht, wenn erfahrene Mitarbeiter
voller Elan eine neue Aufgabe angehen. Ob diese positive
Grundstimmung auch damit zusammenhängt, dass keiner der hier
Beschäftigten - fast alle sind über 50 Jahre alt - noch
vor einem Jahr hoffen durfte, jemals wieder im eigenen Beruf
arbeiten zu dürfen? Aber auch die Chefs geben eine engagierte,
auf die Arbeit gerichtete Haltung vor. Ein eigenes Büro haben
sie noch nicht, das Geld für zusätzliche Ein- und
Umbauten, gar für repräsentative Büromöbel,
wurde vorläufig gespart. Dafür laufen die Geschäfte
gut, und wenn alles wie geplant verläuft, wird die Chespa in
Leipzig demnächst die Zahl ihrer Mitarbeiter erhöhen
können.
"Viele polnische Unternehmen warten mit ihrem
Gang in den Westen noch bis nach dem 1. Mai 2004", vermutet Joachim
Siekiera. "Für uns war der Start sicher etwas schwieriger, als
er nach dem EU-Beitritt Polens sein wird." Seine Entscheidung, die
Expansion in den Westen schon deutlich vor der EU-Osterweiterung im
Mai 2004 zu beginnen, hat er bis lang nicht bereut. Die
Geschäftsstrategie scheint aufzugehen, die Auftragsbücher
sind gefüllt. "Meine polnischen Unternehmerkollegen warten
noch ab und schauen, wie es mir ergeht", beschreibt Siekiera seine
Pionierrolle, die er selbst für "gar nicht so besonders"
hält. "Aber wir sind dann eben schon da, wenn die anderen
eines Tages auch hierher kommen."
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