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Johannes L. Kuppe
Gegen neues Misstrauen
Europäisches Netzwerk zur Aufarbeitung von
Vertreibungen gegründet
Im Streit um die Errichtung einer Stiftung, die sich mit der
Aufarbeitung von Vertreibungen und ihren Folgen im vergangenen
Jahrhundert in Europa beschäftigen soll, ist ein Argument
nicht zu widerlegen: Würde eine derartige Einrichtung
ausschließlich oder auch überwiegend von deutschen
Vertriebenen getragen und vielleicht auch noch ihren Sitz in Berlin
haben, wie es Erika Steinbach und Peter Glotz anstreben, würde
sie nolens volens, selbst wenn sie nur das Richtige täte, in
den Verdacht geraten, das Schicksal der deutschen Vertriebenen in
den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu rücken, deren Leiden
überzubewerten, Aufrechnungen vorzunehmen und einseitige
Geschichtsbilder zu verbreiten. Die Bundesregierung lehnt daher
einen solchen Weg ab. Im europäischen, vor allem
osteuropäischen Ausland stößt er auf großes
Misstrauen.
Notwendige Alternative
Nun wird eine klare und auch dringend notwendige Alternative ins
Auge gefasst. Am 11. und 12. März hat sich im Anschluss an
eine internationale wissenschaftliche Tagung der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn mit Teilnehmern aus acht
europäischen Ländern ein Initiativkreis für ein
"Europäisches Netzwerk: Zwangsmigrationen und Vertreibungen im
20. Jahrhundert" konstituiert, dessen Ziele in einer "Bonner
Erklärung" formuliert wurden. Dieses Netzwerk soll in
mehrjähriger Vorarbeit die Gründung einer
"Europäischen Stiftung" gleichen Namens vorbereiten.
Es ist eine historisch unumstößliche Tatsache, dass
den Vertreibungen der Deutschen die Verbrechen Nazi-Deutschlands
vorausgingen. Das Recht jeder Nation, ihrer Opfer zu gedenken und
um sie zu trauern, so die Präsidenten Polen und Deutschlands,
Kwasniewski und Rau, in ihrer Danziger Erklärung vom Oktober
2003, darf aber, um der Einigung Europas willen, nicht zu
gegenseitigen Schuldvorwürfen bei der Aufarbeitung der
Vergangenheit führen. "Vielmehr sollte die Geschichte
gemeinsam erinnert werden", heißt es daher auch in der "Bonner
Erklärung". Erinnerung und Aufarbeitung der
Vertreibungsgeschichte seien eine europäische Aufgabe. Dazu
gehöre, "nationale Geschichtsbilder füreinander zu
öffnen, um die aufkeimenden Ansätze eines
europäischen Geschichtsbewusstseins in seiner ganzen Vielfalt
zu befördern".
Die zu gründende Stiftung soll die entsprechenden
Aktivitäten auf den nationalen Ebenen einschließlich der
heute schon aktiven grenzüberschreitenden zivilen Initiativen
vernetzen, entwickeln und fördern, "nicht zuletzt in der
Gedenk- und Mahnmalkultur". Sie ist offen für alle Personen
und Institutionen, "die sich diesem Thema in europäischer
Perspektive verpflichtet fühlen". Um eine
"gesamteuropäische Öffentlichkeit" zu stimulieren, soll
die Stiftung Konferenzen und Tagungen veranstalten, transnationale
Forschungsprojekte, Ausstellungen und Dokumentationen anregen und
fördern, Informationsmaterialien für Wissenschaft und
Bildung erstellen und ein gemeinsames Internetportal
einrichten.
Die Dauerfinanzierung soll nicht national, sondern durch
europäische und internationale Institutionen erfolgen.
Nationale Anlauffinanzierungen sind wünschenswert. In ein zu
schaffendes Leitungsgremium sollten durch die jeweiligen
Staatsoberhäupter fachlich ausgewiesene Persönlichkeiten
aus den einzelnen Ländern berufen werden.
Der Initiativkreis sieht eine gründliche Vorbereitung der
Stiftungsgründung durch Schaffung mehrerer Netzwerke vor. Eine
erste Kontaktstelle für die Schaffung eines Netzwerkes
entsteht jetzt am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte
(Prof. Dr. Karl Schlögel) an der Europa-Universität
Viadrina Frankfurt (Oder), die eine internationale Konferenz zum
Migrationsthema und die Herausgabe einer Europäischen
Enzyklopädie zu den Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert
projektiert. Ein zweites Netzwerk der Orte des Geschehens und der
Erinnerung wird vorbereitet. Der Initiativkreis schlägt
schließlich die Gründung einer "International Society for
Forced Migration History" vor, welche die Arbeit der verschiedenen
Netzwerke koordinieren und schließlich die Errichtung der
"Europäischen Stiftung" vorbereiten soll.
Die "Bonner Erklärung" haben 26 der angesehensten
europäischen Wissenschaftler unterzeichnet. Angesichts des
hochsensiblen Themas, das immer noch Verletzungen schafft,
Misstrauen regeneriert und neue Empfindlichkeiten bei allen
Beteiligten weckt, gehen die Bonner Initiatoren behutsam vor. Nur
dieser Weg kann zu gesamteuropäischer Verständigung auch
in diesen Fragen führen.
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