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Claudia Roth
Die Beitrittsgegner tun heute so, als wäre
dies eine neue Debatte
Die Türkei gehört zu Europa
"Die Türkei gehört zu Europa
(\…) Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der
Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, dass wir in ihm
mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der
stärkste Ausdruck unser Gemeinsamkeit." Dieses Zitat stammt
nicht von Joschka Fischer oder Gerhard Schröder. Dieses Zitat
stammt vom ehemaligen EG-Präsidenten und CDU-Politiker Walter
Hallstein anlässlich der Unterzeichnung des
Assoziationsabkommens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
mit der Türkei am 12. September 1963 in Ankara.
Das Zitat belegt nicht nur eindrucksvoll,
dass seit über 40 Jahren enge Beziehungen existieren, sondern
auch dass bereits damals der Türkei die Möglichkeit einer
Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft zugesichert
wurde.
Einige Gegner eines Türkei-Beitritts in
die EU tun heute so, als wäre der Beitritt eine völlig
neue Debatte. Dabei existiert nicht nur diese gemeinsame Geschichte
zwischen der EU und der Türkei, sondern für einen
Beitritt zur EU gelten klare Regeln. Diese Kriterien wurden 1993
auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen festgelegt. Zu den politischen
Kriterien zählen stabile rechtsstaatliche und demokratische
Institutionen, die garantierte Einhaltung der Menschenrechte sowie
der Schutz von Minderheiten. Diese Bedingungen sind nicht
verhandelbar. Bevor Beitrittsverhandlungen beginnen können,
müssen sie vom Kandidaten erfüllt sein. Im Dezember 1999
auf dem EU-Gipfel in Helsinki erhielt die Türkei den
offiziellen Status eines Beitrittskandidaten. Damit ist auch die EU
eine Verpflichtung eingegangen, nämlich wenn die Türkei
die politischen Kriterien erfüllt, dann müssen
Beitrittsverhandlungen eröffnet werden, bis zu deren Abschluss
viele Jahre vergehen.
Die glaubwürdige Perspektive eines
EU-Beitritts hat in der Türkei eine enorme politische Dynamik
ausgelöst und entscheidende Menschenrechtsreformen
vorangebracht: Die Todesstrafe wurde abgeschafft, Folter verboten,
das Vereins- und Versammlungsrecht liberalisiert und die Rechte
religiöser Minderheiten gestärkt. Der Ausnahmezustand in
den kurdischen Provinzen wurde aufgehoben und der Einfluss des
Militärs eingeschränkt.
Ich bin vom Umfang und Elan der Reformen in
der Türkei tief beeindruckt. Klar ist aber auch: Die
beschlossenen Reformen reichen noch nicht aus. Wichtig sind nicht
allein die Gesetze, auf die konkrete Umsetzung kommt es an.
Für mich sind die tatsächliche Implementierung der
Reformen Gradmesser für eine umfassende Demokratisierung. Erst
wenn Folter gerichtlich und disziplinarrechtlich bekämpft
wird, wenn die Rechte der Kurden anerkannt, die Minderheiten
gleichberechtigt sind und Menschenrechte für alle gelten,
haben die Reformen gegriffen
Die CDU/CSU schlägt statt eines
Beitritts eine privilegierte Partnerschaft vor. Der Vorschlag zeugt
von mangelnden europapolitischen Kenntnissen, denn eine solche
besteht bereits - mit der Zollunion - seit 1996. Der Vorschlag
zielt auf einen Stillstand in den Beziehungen und gefährdet so
die weiteren Reformen in der Türkei. Deshalb nennt auch der
Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Volker Rühe
(CDU), die privilegierte Partnerschaft "eine unrealistische
Position".
Die Aufnahme der muslimisch geprägten
Türkei in die EU hätte Modellcharakter. Sie würde
zeigen, dass sich Islam, Demokratie und Menschenrechte verbinden
lassen. Eine solchermaßen modernisierte Türkei
könnte ein positives Beispiel für islamische Staaten
sein. Ihr EU-Beitritt ist auch wichtig, um die Kluft zwischen "dem
Westen" und "der muslimischen Welt" zu überwinden. Den Parolen
islamistischer Terroristen von einem islam-feindlichen Westen
könnte so entgegengewirkt werden. Dies brächte mehr
Sicherheit in und für Europa. Eine demokratische, fest in der
EU verankerte Türkei wäre gleichzeitig ein wichtiger
Stabilitätsfaktor für die gesamte
Nah-Mittelost-Region.
Deutschland ist seit langem der mit Abstand
größte Handelspartner der Türkei, von einer
Erweiterung würde nicht zuletzt auch die deutsche Wirtschaft
profitieren. Nicht nur wirtschaftspolitisch, auch kulturell
wäre der Beitritt ein Gewinn. Türkischer Hip-Hop aus
Kaiserslautern und Berlin hat es in die Musikcharts beider
Länder geschafft. Feridun Zaimoglu gewinnt mit seiner
Literatur den renommierten Bachmannpreis, und Fatih Akin erhielt
für seinen Film "Gegen die Wand" den Goldenen Bären. Das
alles sind Beispiele, was für kulturelle Kraft und
willkommener Reichtum aus Doppel-Infusion zweier Kulturen entstehen
kann. In Deutschland leben circa 2,2 Millionen Menschen, die aus
der Türkei stammen. Mit einem Beitritt der Türkei
würde auch die Integration der hier lebenden türkischen
Minderheit erleichtert.
Die CSU hat angekündigt den Beitritt der
Türkei zum Wahlkampfthema bei der kommenden Europawahl zu
machen und damit das Thema zu einem Religions- und Kulturkampf
aufzuladen. Innenpolitisch, gegenüber der
türkeistämmigen Minderheit, wäre ein solcher
Wahlkampf fatal. Historiker datieren das Ende des Mittelalters auf
1453. Damals fiel das christliche Konstantinopel. Wenn ich die CSU
über die Türkei reden höre, dann habe ich den
Eindruck: In den Köpfen der CSU lebt das Mittelalter fort. Die
CSU vergisst, dass Europa durch viele religiöse und
nicht-religiöse Einflüsse geprägt wurde. Die EU
definiert sich nicht über eine Religion oder über
geografische Grenzen, sondern als eine auf gemeinsamen Werten
basierende Gemeinschaft.
Bündnis 90/Die Grünen
unterstützen die Politik der EU. Die EU hat der Türkei
klare Bedingungen gesetzt. Erfüllt die Türkei diese, muss
im Dezember der Beginn der Beitrittsverhandlungen beschlossen
werden. Dafür steht die EU und dafür stehen wir im Wort.
Falls die Gegner eines Beitritts die EU dazu auffordern,
wortbrüchig zu werden, bekunden sie: Es geht nicht um
Menschenrechte, Demokratisierung und Religionsfreiheit, sondern
tatsächlich um einen christlich definierten Club, es geht
nicht um Akzeptanz, sondern um Ausgrenzung.
Claudia Roth (Bündnis 90/Die
Grünen) ist Mitglied des Deutschen Bundestages und
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung.
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