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Stefan Laurin
Mehrheitswahlrecht: 34 Prozent bringen eine
Zweidrittelmehrheit
Die politischen Parteien und die Regierung in
Ankara
Atatürk hatte ein klares Ziel vor Augen,
als er aus den Trümmern des Osmanischen Reiches die moderne
Türkei formte und ihr sechs Grundsätze verordnete:
Nationalismus, Säkularismus, Modernismus, Republikanismus,
Populismus, Etatismus. Ein großer Anhänger des
Mehrparteiensystems war der Republikgründer jedoch nicht.
Als sich, kurz nach der Konstituierung des
Parlaments, der Großen Türkischen Nationalversammlung,
neben seiner eigenen Partei, der Volkspartei, die Fortschrittliche
Republikanischen Partei gründete, handelte er rasch: Die
Volkspartei wurde zur Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk
Partesi, CHP) umbenannt und die ungeliebte, eher konservative und
religiöse Konkurrenz schon 1925 verboten. Bis zum Ende des
Zweiten Weltkriegs sollte die Türkei ein Einparteienstaat
bleiben.
Erst 1950, nachdem die CHP von der langen
Regierungszeit verschlissen und von Abspaltungen geschwächt
war, kam es zu den ersten wirklich freien Wahlen. Als Sieger aus
diesen Wahlen ging die marktwirtschaftlich orientierte
Demokratische Partei (Demokrat Parti, DP) hervor, die Dank der
wirtschaftlichen Fortschritte, die in ihrer Regierungszeit gemacht
wurden, ihre Dominanz immer mehr ausbauen konnte.
In jener Zeit war die Türkei ein
Zweiparteienstaat, und das ist sie seit den Wahlen im November 2002
wieder. Seit den Parlamentswahlen 2002 wird die Türkei wieder
mit absoluter Mehrheit regiert - eine Ausnahme in den vergangenen
Jahrzehnten. Oft wirkte die Parteienlandschaft auf Beobachter
chaotisch.
Der regierenden AKP (Gerechtigkeits- und
Entwicklungspartei) steht als Opposition im Parlament nur die noch
von Atatürk gegründete, laizistische CHP gegenüber,
die von 1999 bis 2002 jedoch nicht im Parlament vertreten war. Die
AKP sieht sich als eine islamisch-demokratische Partei und
vergleicht sich mit den deutschen Christdemokraten. Von ihren
islamistischen Wurzeln hat sich die Partei offiziell getrennt.
Inwieweit dieser ideologische Wandel das Ergebnis einer politischen
Neuorientierung ist oder aber von der Angst, verboten zu werden,
diktiert wurde, wird wohl erst die Zukunft zeigen. Ihre Existenz
verdankt die AKP jedenfalls dem Verbot der islamistischen
Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) des Islamistenführers
Necmettin Erbakan, aus dessen moderatem Flügel sie sich
zusammensetzt. Dank der Erfolge bei Nachwahlen verfügt sie
mittlerweile über eine Zweidrittelmehrheit im
Parlament.
Ihre Politik ist jedoch moderat und nicht
davon gekennzeichnet, die Dominanz auszuspielen: Partei- und
Regierungschef Tayyip Erdogan will die Türkei in die EU
führen, engagiert sich auch für eine Lösung des
Zypern-Konfliktes und legt auf eine gutes Verhältnis mit dem
Nachbarland Griechenland wert.
Die Zweidrittelmehrheit der AKP geht jedoch
nicht auf einen vergleichbaren Rückhalt in der
Bevölkerung zurück, sondern auf eine Besonderheit des
türkischen Wahlrechts: Wegen des Verhältniswahlrechts und
einer Zehn-Prozent-Hürde reichten der AKP 34,2 Prozent der
abgegebenen Stimmen, um diese Fraktionsgröße zu erlangen.
Außerdem hatten sich die Wähler von den etablierten
Parteien abgewandt. Sie scheiterten alle an der
Zehn-Prozent-Wahlhürde. Die DYP von Tansu Çiller erhielt
9,54 Prozent, Devlet Bahçelis MHP 8,36 Prozent, die ANAP des
ehemaligen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz nur 5,13 und die
sozialdemokratische die DSP von Bülent Ecevit nur 1,22 Prozent
der Stimmen.
Für den radikalen Wandel der
Wählergunst gab es zahlreiche Gründe. So sind die
türkischen Wähler sehr mobil und nicht allzu eng an eine
Partei gebunden. Heftigste Stimmengewinne und Verluste sind die
Folge. Die türkischen Parteien sind zudem in hohem Maße
von ihren Vorsitzenden abhängig. Das ist in Deutschland so
kaum vorstellbar, aber in anderen europäischen Ländern
wie Frankreich, Italien oder Griechenland ähnlich, wo man
neben einem Programm auch einen charismatischen Parteivorsitzenden
braucht, um erfolgreich zu sein. Verlieren diese Parteiführer
an Strahlkraft, versinkt oftmals auch die Partei ins
Nichts.
Auch das Versagen der etablierten Eliten in
Folge des Erdbebens von 1999, als sowohl Regierung wie auch
Militär überfordert waren, haben ebenso zu einer
Veränderung der politischen Stimmung beigetragen wie die
Streitereien innerhalb des Regierungslagers, die schließlich
zum Ende der Regierung Ecevit beitrugen und zu den vorgezogenen
Neuwahlen 2002 führten.
Es gibt jedoch auch zahlreiche Kernkonflikte
innerhalb der türkischen Gesellschaft, die nie endgültig
ausgetragen wurden. Die kemalistische Ideologie von einem
säkularen, europäisch geprägten Staat, der vom
türkischen Volk getragen wird, verursacht wegen ihrer geringen
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zahlreiche Konflikte, die
sich häufig unter den Politikern, aber auch zwischen der
politischen und der militärischen Klasse, als welche sich die
türkische Armee sieht, entzünden.
Wie religiös ist die
Türkei?
Die Türkei ist kein Staat der
Türken, sondern ein Vielvölkerstaat, dessen
Bevölkerung in ihrer Mehrheit verschiedenen Varianten eines
Volksislams anhängt. Die Frage, wie religiös der
Türkei ist, wurde bislang nicht beantwortet. Sicher ist nur,
und das zeigen auch die Erfolge von Erbakan und Erdogan, dass sich
viele Türken eine größere Bedeutung der Religion im
öffentlichen Leben wünschen.
Der andauernde Konflikt mit den Kurden hat zu
zahlreichen Parteienverboten und Parteineugründungen
geführt. Bei der letzten Wahl konnte jedoch keine kurdische
Partei die Zehn-Prozent-Hürde nehmen, und auch in der
Osttürkei wurden die Parteien AKP und CHP gewählt, die
beide einen gesamttürkischen Anspruch haben.
Lange Zeit herrschte auch ein tiefer Streit
über den richtigen Weg der türkischen Wirtschaft. Der von
Atatürk vorgeschrieben Weg des Etatismus hatte nicht dazu
beigetragen, die Türkei wirtschaftlich zu entwickeln. Wie viel
Markt ist nötig, wie viel wünschenswert - auch das war
ein Konflikt, der aber mit dem Bekenntnis aller relevanten Parteien
zum EU-Beitritt endgültig zugunsten der Marktwirtschaft
beantwortet worden zu sein scheint.
Wie in den meisten Demokratien haben sich die
Extreme bei allen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten
abgeschliffen: Keine der wichtigen Parteien fordert mehr die
Einführung des Sozialismus oder die Gründung einer
islamischen Republik. Im Fordergrund stehen die Lösung der
wirtschaftlichen Probleme und die Annäherung an Europa. Mit
Utopien gewinnt man auch in der Türkei keine Wahlen mehr. Und
wer die Probleme nicht effektiv löst, wird, wie die Wahlen
2002 gezeigt haben, gnadenlos abgestraft.
Stefan Laurin arbeitet als freier Journalist
im Ruhrgebiet.
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