Gülistan Gürbey
Zwischen Liberalisierung und traditionellem
Dogmatismus
Die türkische
Minderheitenpolitik
Mit dem dritten Anpassungspaket vom August 2002
wurden durch Änderungen im Gesetz über den
Fremdsprachenunterricht die Einrichtung von privaten Kursen
erlaubt. Diese Kurse dürfen nicht im Widerspruch zu den in der
Verfassung festgelegten grundlegenden Prinzipien der Republik und
der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk stehen. Die
Grundsätze und Verfahren bei der Eröffnung und Kontrolle
dieser Kurse wurden in einer Verordnung des Nationalen
Erziehungsministeriums geregelt.
Die entsprechende Verordnung zum Erlernen von
verschiedenen Sprachen und Dialekten, die türkische
Bürger im Alltag benutzen, trat im September 2003 in Kraft.
Damit sollten - ohne das Wort Kurdisch zu verwenden - private
Kurdischkurse ermöglicht werden. Grundsätzlich gilt, dass
die Unterrichtung des Kurdischen als Fremdsprache nach wie vor
nicht in Erwägung gezogen wird.
Für das Erlernen verschiedener,
traditionell von türkischen Bürgern in ihrem Alltag
gesprochener Sprachen und Dialekte gab es bislang noch keine
Fortschritte. Komplizierte und einschränkende Bestimmungen in
den Gesetzen und Verordnungen machten in der Praxis die
Eröffnung von Kurdischkursen unmöglich. Die Behörden
begründeten ihre Ablehnung damit, dass die Lehrpläne den
Schwerpunkt auf Kultur und Geschichte und nicht auf den
Sprachunterricht legen.
Im Rahmen des Reformpakets vom August 2002
wurden durch Ergänzung im Gesetz über den Hohen Rundfunk-
und Fernsehrat RTÜK Sendungen in unterschiedlichen Sprachen
und Dialekten, die von türkischen Bürgern im Alltag
traditionell benutzt werden, erlaubt. Diese Sendungen dürfen
ebenfalls nicht im Widerspruch zu den in der Verfassung
festgelegten grundlegenden Prinzipien und der unteilbaren Einheit
von Staatsgebiet und Staatsvolk stehen. Die Grundsätze und
Verfahren für die Produktion und Kontrolle dieser Sendungen
wurden in einer Verordnung des Hohen Rates geregelt. Sie legt fest,
dass Sendungen in Sprachen und Dialekten nur von der staatlichen
Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT produziert und nur in den
Bereichen Nachrichten, Musik und Kultur für Erwachsene
gesendet werden und nicht dem Zweck des Unterrichtens von anderen
Sprachen und Dialekten dienen sollen.
Die Sendezeit darf im Radio 45 Minuten pro
Tag und in der Woche insgesamt vier Stunden und im Fernsehen 30
Minuten pro Tag und in der Woche insgesamt zwei Stunden nicht
überschreiten. Im Fernsehen müssen diese Sendungen in
hundertprozentiger Entsprechung auf Türkisch untertitelt
werden; im Radio muss im Anschluss an das Programm die
Übersetzung ins Türkische erfolgen. Bisher produzierte
die TRT nicht nur keine einzige Sendung auf Kurdisch, sondern
beantragte beim Oberverwaltungsgericht die Annullierung der
Verordnung. Im Rahmen des sechsten Reformpaketes vom Juli 2003
wurde schließlich über die TRT hinaus auch Privatsendern
ermöglicht, Sendungen in von türkischen Bürgern in
ihrem Alltagsleben benutzten Sprachen und Dialekten
auszustrahlen.
Im Rundfunkbereich haben die Reformen, die
die Ausstrahlung von Radio- und Fernsehsendungen in anderen
Sprachen als Türkisch ermöglichen, also noch keine
konkreten Ergebnisse gezeigt. Bisher gibt es noch keine Sendung in
von türkischen Bürgern in ihrem Alltagsleben benutzten
traditionellen Sprachen und Dialekten außer in
Türkisch.
Hinzu kommt, dass der RTÜK gegen private
Radio- und Fernsehsender immer wieder schwere Strafen
verhängt, darunter die Aussetzung beziehungsweise den Entzug
der Sendelizenz. Den betroffenen Radio- und Fernsehsendern wird die
Verletzung bestimmter staatlicher Prinzipien im Zusammenhang etwa
mit separatistischer Propaganda und Aufwiegelung zu Hass
vorgeworfen. Die bisherige Praxis lässt keine problemlose
Umsetzung der genannten Gesetze erwarten.
Mit dem sechsten Reformpaket wurde erlaubt,
dass Eltern ihren Kindern den von ihnen gewünschten Namen
geben dürfen. Dennoch gibt es auch bei der kurdischen
Namensgebung immer noch Probleme. Es kommt immer wieder zu
gerichtlichen Auseinandersetzungen über die
Namensführung. Mit einem Rundschreiben vom September 2003
wurde der Geltungsbereich eingeschränkt und der Gebrauch von
Namen mit den im Kurdischen verwendeten Buchstaben q, w und x
verboten.
Mit der Verfassungsreform vom Oktober 2001
wurde auch das Verbot von Parteien erschwert: Artikel 149 sieht
mindestens eine Drei-Fünftel-Mehrheit für einen
gerichtlichen Beschluss zum Verbot einer Partei vor. Die Statuten,
Programme und Aktivitäten von türkischen Parteien
dürfen grundsätzlich ebenfalls nicht im Widerspruch zu
der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk stehen. Im
Rahmen des vierten Reformpakets wurden Änderungen am
Parteiengesetz vorgenommen: Politische Parteien können anders
als durch ein Verbot sanktioniert werden, ihnen kann teilweise oder
vollständig die staatliche Unterstützung entzogen
werden.
Bislang hat diese Verfassungsänderung
für die pro-kurdischen Parteien keine substanziellen
Verbesserungen gebracht. Dies wird auch daran deutlich, dass nach
der Reform im März 2003 die pro-kurdische HADEP auf der
Grundlage von Artikel 169 Strafgesetzbuch (Unterstützung einer
terroristischen Organisation) verboten und den 46 Parteimitgliedern
für einen Zeitraum von fünf Jahren jede politische
Tätigkeit untersagt wurde.
Das türkische Parlament ratifizierte im
Juli 2002 den Internationalen Pakt über bürgerliche und
politische Rechte und den Internationalen Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten
Nationen.
Die Türkei brachte jedoch eine
Vorbehaltsklausel im Hinblick auf das Recht auf Bildung und auf
Minderheitenrechte auf der Grundlage einschlägiger
Bestimmungen der türkischen Verfassung und des Vertrags von
Lausanne von 1923 ein. Da nach dem Lausanner Abkommen Kurden nicht
als Minderheit anerkannt sind (nur Armenier, Griechen, Juden), wird
den Kurden damit verwehrt, in den Genuss der in den internationalen
Pakten vorgesehenen politischen und kulturellen Rechte zu
kommen.
Die Aufhebung des Ausnahmezustands hat zwar
insgesamt zu einer Verbesserung des allgemeinen Klimas
geführt, dennoch bestehen weiterhin erhebliche
Schwierigkeiten, insbesondere im Bereich der Menschenrechte und der
so genannten Dorfschützer. Hinzu kommt, dass die Reformen
keine Aussagen zu der zentralen Frage der Rückkehr der
kurdischen Inlandsflüchtlinge in ihre Heimatorte machen. Die
sozialen und wirtschaftlichen Probleme sowie die mangelhafte
Bildungssituation sind akut. Nach Berichten des
Flüchtlingshilfsvereins Göç-Der ist sogar zu
beobachten, dass die staatlichen Organe vor Ort eine Rück-kehr
verhindern und bereits zurückgekehrte Inlandsflüchtlinge
durch repressive Praktiken wieder aus ihren Heimatorten
vertreiben.
Die Reformen sind insgesamt von großer
politischer Bedeutung. Von einem Durchbruch kann jedoch noch nicht
gesprochen werden, da die Reformen vor allem nicht systematisch in
die Praxis umgesetzt werden. Exekutiv- und Justizbehörden
schränken den Geltungsbereich der Reformen durch restriktive
Bedingungen und Handhabung ein, so dass die ursprünglichen
Ziele der Reformen oftmals weitgehend ins Leere laufen. Ein
erfolgreiches Funktionieren setzt aber vor allem einen Wandel in
den Einstellungen und Verhaltensweisen der politischen Klasse und
der vollziehenden staatlichen Organe voraus.
So verdeutlicht der Umgang mit der kurdischen
Sprache, dass die türkische Kurdenpolitik immer noch zwischen
traditionell dogmatischen Inhalten und Liberalisierungstendenzen
schwankt und dass es innerhalb der staatstragenden Kräfte noch
keinen Konsens über eine substantielle Änderung der
traditionellen, auf Leugnung und Repression beruhenden
Kurdenpolitik gibt. Aus der Perspektive Ankaras gilt in erster
Linie, die Regelungen im Rahmen der Anpassungspakete bezüglich
"Achtung und Schutz von Minderheiten" möglichst restriktiv zu
gestalten, um erstens die Grundlagen des homogenen Staats- und
Nationsverständnisses nicht zu gefährden, zweitens die
kulturelle Eigenständigkeit der Kurden als Gruppe nicht
anzuerkennen, und drittens sollen die Reformen so gestaltet werden,
dass sie eine Deutung als kurdenspezifische Regelung
ausschließen, somit nicht zu einer kulturellen
Eigenständigkeit der Kurden als Gruppe führen und die
Umsetzung individueller Rechte erheblich erschweren.
Die türkischen Entscheidungsträger
stehen aber weiterhin vor der großen Herausforderung,
endgültig den politischen Willen zum Bruch mit dem homogenen
Staats- und Nationenverständnis zugunsten einer substanziellen
und kontinuierlichen Demokratisierung und Liberalisierung des
Landes aufzubringen, um auch den historisch verwurzelten Konflikt
um die politisch-kulturellen Rechte der kurdischen Bevölkerung
angemessen zu regeln.
Um so wichtiger ist es, dass sowohl
Brüssel als auch Ankara einen Weg finden, auch die
Betroffenen, nämlich die Kurden, mit ihren Interessen und
Wünschen in diesen Reformprozess einzubeziehen, um einen
gemeinsamen "europäisch-türkisch-kurdischen" Konsens
über die Ziele sowie die Art und Weise der politischen
Regelung dieses nach wie vor latenten Konfliktes zu erzielen.
Bisher fehlt jedoch ein Bemühen in diese Richtung.
Dr. Gülistan Gürbey arbeitet am
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien
Universität Berlin.
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