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Ilnur Cevik
Das Verbot ist eine Hauptquelle der
innenpolitischen Spannungen
Auch am Bosporus wogt ein so genannter
Kopftuch-Streit
Die Türkei ist kein islamischer Staat, sondern ein
laizistischer Staat mit überwiegend muslimischer
Bevölkerung. Der Kopftuch-Streit erhitzt auch dort die
Gemüter. Dieser Streit, in den letzten zehn Jahren eine
Hauptquelle für innenpolitische Spannungen in der Türkei,
wurde unter der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP)
auf Eis gelegt, um die laizistische Führungsschicht nicht zu
verärgern und neue politische Zuspitzungen zu verhindern. Doch
das Thema, das in der Türkei unter den Teppich gekehrt wird,
bleibt eine wichtige Ursache für innenpolitische Spannungen im
Lande. Die Debatte hat nun auch verschiedene europäische
Länder erreicht, in denen muslimische Minderheitsgruppen das
Kopftuch zum politischen Symbol machen und so die Behörden
provozieren.
Die Türkei ist kein islamischer Staat, sondern ein Land mit
überwiegend muslimischen Bevölkerung. Die Mehrheit des
Volkes ist religiös, jedoch nicht fundamentalistisch
eingestellt, wie sich deutlich am Wahl- erfolg der
gemäßigten prowestlichen AK-Partei ablesen lässt,
die aus ehemaligen islamischen politischen Bewegungen
hervorgegangen ist. Sie erfährt inzwischen von über 43
Prozent der Bevölkerung Zuspruch und Unterstützung.
Die Kopftuch-Diskussion wurde zum ersten Mal während der
Regierung des verstorbenen Staatspräsidenten Turgut Ozal
aufgeworfen. Die Debatte konzentrierte sich auf die Frage, ob
Studentinnen an der Universität ihre Haare mit einem Kopftuch
bedecken durften. Damals drängte Ozal die Behörden, das
Kopftuch an den Universitäten nicht zu verbieten und so zu
verhindern, dass Fundamentalisten das Kopftuch als politisches
Geschenk zu benutzen.
Es gelang ihm, die Obrigkeiten zu überzeugen, dass sie mit
dem Kopftuch leben konnten, vorausgesetzt, die jungen Mädchen
versuchten nicht, es als Ausdruck politischer islamistischer
Überzeugungen zu tragen und so die Regierung herauszufordern.
Damit gelang Ozal, der als Reformer und religiös
eingestellter, aber prowestlicher Politiker bekannt war, ein
schwieriger Balanceakt, mit dem er verhindern konnte, dass die
Kopftuchdiskussion zu einem gewichtigen innenpolitischen Problem
wurde.
Allerdings verprellten die beiden politischen Führer Tansu
Ciller von der Partei des Rechten Weges (DYP) und Mesut Yilmaz von
der Mutterland-Partei (ANAP), die nach Ozal an die Macht kamen, die
muslimischen Massen. Sie zeigten wenig Sensibilität für
religiöse Empfindungen und trieben so die gläubige
Bevölkerung aus der politischen Mitte heraus in die Arme der
von Necmettin Erbakan angeführten, radikaleren islamischen
Bewegung. Dies führte schließlich dazu, dass die
islamische Bewegung in den Provinzverwaltungen zunehmend an
Einfluss gewann und schließlich 1995 als führender
Koalitionspartner an die Macht kam und Erbakan auf den Sitz des
Ministerpräsidenten beförderte.
Die politische Islambewegung entwickelte großes
Selbstbewusstsein und vermittelte den Eindruck, dass sie sich
anschickte, an den auf der Trennung von Kirche und Staat beruhenden
Werten der laizistischen Republik zu rütteln. Vor den
Wahlsiegen von 1995 hatte Erbakan den weiblichen Studenten
versprochen, dass er die Universitätspräsidenten zwingen
würde, ihnen zu huldigen, wenn er an die Macht käme. Mit
Erbakan an der Macht erwartete das laizistische Establishment das
Schlimmste und begann sich zu wehren. Das türkische
Militär schloss sich den politischen Gruppen und
Berufsverbänden an und begann einen Angriffskrieg gegen
Erbakan, der ihn 1997 aus dem Amt zwang und eine offizielle
Verfolgung politischer Islamgruppen und natürlich auch der
kopftuchtragenden Studentinnen einleitete. Diese Verfolgung war
umfassend: Frauen wurden daran gehindert, jedwede öffentlichen
Plätze mit Kopftuch zu betreten. Dies schloss auch Schulen
ein. Das Verbot galt teilweise in der gesamten Öffentlichkeit,
aber betraf hauptsächlich die Studentinnen, die entweder die
Universität verlassen oder das Kopftuch abnehmen mussten.
Einige trugen Perücken, um ihr Haar ersatzweise zu
bedecken.
Die islamische Bewegung splitterte auf. Die jungen Islamisten,
angeführt von Recep Tayyip Erdogan und Abdullah Gul
gründeten eine Reformbewegung und trennten sich von Erbakan,
dessen rigide Islambewegung sie ablehnten. Sie gründeten die
moderate AK-Partei und kappten alle Verbindungen zur Religion. Sie
bezeichneten sich als gläubige Muslime, aber sie hatten kein
religiöses Partei-Programm und lehnten den Fundamentalismus
ab. Sie versprachen tiefgehende Erneuerung und die Beendigung der
Korruption. Die türkische Bevölkerung sprach sich bei der
Wahl im November 2002 für den Wechsel aus und warf die alte
politische Führung zugunsten einer jungen Reformbewegung mit
einer überwältigenden parlamentarischen Mehrheit aus dem
Amt.
Unter der Führung von Erdogan verabschiedete die AK-Partei
tief gehende Reformen, die das demokratische System stärkten
und das Image des Landes im Hinblick auf die Achtung der
Menschenrechte dramatisch verbesserten. Sie bewies, dass sie die
Bindungen zu ihren religiösen Wurzeln abgeschnitten hatte und
einem prowestlichen Programm verpflichtet war. Außerdem
verbesserten sie die Wirtschaftskraft des Landes, wobei sie die
Inflation auf eine einstellige Zahl reduzierte und trocknete die
Quellen der Korruption aus. Der Westen äußerte Beifall,
und es schien, dass der Termin für Beitrittsverhandlungen zur
Europäischen Union in nicht allzu weiter Zukunft
läge.
Während dieses Prozesses hielt sich die AKP von allen
religiösen Themen und besonders der Kopftuch-Diskussion fern.
Die Ehefrau des stellvertretenden Premierministers und
Außenminister Gul, Kopftuchträgerin Hayrunisa, zog sogar
ihre Klage gegen die Türkei am europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte zurück. Sie hatte zuvor geltend
gemacht, dass ihre Rechte verletzt worden seien, als man ihr an der
Universität das Tragen eines Kopftuches versagt hatte.
Trotz der vorsichtigen Haltung zur Kopftuch-Diskussion bleibt
das Kopftuch ein soziales Problem, das im Verborgenen gärt. Es
ist außer Frage, dass die laizistische Führungsschicht
der Türkei dabei eine Schlüsselrolle spielt. Aus
vergangener Erfahrung heraus glauben die ultrakonservativen
Laizisten, dass die Islamisten nicht aufrichtig sind und nur auf
eine Gelegenheit warten, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Zwar gibt es
auch Stimmen wie die von Kemal Dervis, die erklären, das Thema
dürfe nicht in der Schwebe bleiben und sollte gelöst
werden - und zwar von Sozialdemokraten mit laizistischen
Einstellungen, die dies im Namen der sozialen Versöhnung tun
sollten.
Die konservativen Laizisten dagegen sind lediglich daran
interessiert, das Kopftuchthema am Leben zu erhalten als die
wirksamste Trumpfkarte, die sie gegen die AK-Partei einsetzen
können. Einige politische Beobachter glauben, dass die
AK-Partei das Problem nur allmählich lösen kann, indem
sie ein vertrauensvolles Klima schafft, das die religiösen
Massen mit den Laizisten aussöhnt. So könnten Vorurteile
ausgeräumt und weiblichen Studenten erlaubt werden, das
Kopftuch zu tragen: nicht als politisches Bekenntnis, sondern als
Ausdruck ihrer religiösen Gefühle. Ilnur Cevik
Ilnur Cevik ist Herausgeber der türkischen Zeitung "Daily
News". (Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike
Büttner)
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