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Gülcin Wilhelm
Umgebaut und fast explodiert: Dennoch ist
Istanbul faszinierend
Alte Liebe zu einer allmählich versinkenden
Stadt
Man nannte das geschlossene Salon-Deck
"lüks". Da sollte also der Luxus herrschen, den man beim
wunderschönen Blick auf beide Seiten des Bosporus genoss. Sei
es der Herr, der sich morgens vor der Arbeit ein wenig Muße
gönnen, oder die Dame, die das Vergnügen des
bevorstehenden Shoppings auf der europäischen Seite mit dem
Genuss dieses Teils der Fähre aufrunden wollte.
Die zehnminütige "Luxus-Fahrt" war gegen
einen geringen Aufpreis zu haben. Lässig legte man den Schein
auf den runden Tisch, bestellte Tee, der flott von dem
weißbefrackten Kellner serviert wurde, zündete sich eine
Zigarette an und schlug die Zeitung auf. Der neue Tag konnte
beginnen.
Dann kam in den 70er-Jahren die erste
Brücke, die den asiatischen Teil von Istanbul mit dem
europäischen verband, und gleich darauf in den 80ern
erforderte der enorme Bevölkerungszuwachs den Bau der zweiten.
Viele angenehme Komponenten, die diese hinreißende Stadt
ausmachten, gingen ebenfalls in dieser Zeit verschütt. Man
kann von Glück sagen, dass die Fähre uns, die wir dann
und wann in die Stadt fahren, um ein Stück von der
Vergangenheit zu erhaschen, erhalten blieb. Die "lüks"-Sektion
des weißen Fahrzeugs mit dem wunderschönen Laut des
Nebelhorns ist nicht zwingend, um an die Sinnenfreude der Kindheit
zurückdenken zu können: Man kann auch auf der Sitzbank an
der Seite der Fähre Platz nehmen, die Beine auf die Reling
legen und beim Anblick der Möwen und des weißen Schaums
beziehungsweise dem Einatmen der einzigartigen Geruchsmischung aus
Salzwasser-, Fisch- und Unrat sagen: Es ist doch alles beim Alten
geblieben. Einer der wenigen Augenblicke der Freude, die man
wiedererkennen kann in der Stadt, in der man groß geworden
ist, die sich aber inzwischen fremd anfühlt.
Wir Istanbuler sind in Berlin unter den
Leuten aus der Türkei eine Minderheit. Anfang oder Mitte 40,
seit den 70er-Jahren in Berlin heimisch, führen wir von
Nostalgie erfüllt solche Gespräche über die Stadt,
die üblicherweise nur erheblich ältere Menschen über
alte Zeiten führen. Weggefegt, zerstört, versaut und
kaputtgemacht wurde uns vieles in Istanbul. Umso genüsslicher
erzählen wir über die bei unseren kurzen Aufenthalten in
der Stadt erlebten kleinen Glücksmomente, über die
Rituale, die noch existieren. Diese Momente treten auf, wenn man
beispielsweise am Goldenen Horn auf den Fischerbooten gebratenen
Fisch im Brot isst, was so gut schmeckt, dass man dabei gerne die
hygienischen Regeln ignoriert. Oder aber frittierte Muscheln in
Cicek Pasaji, im Ambiente des 200 Jahre alten Innenhofes in Pera.
Auch wenn diese Köstlichkeiten im Hals stecken bleiben, sobald
der Sinnenreiz durch laute Bauchtanzmusik ausgeschaltet zu werden
droht, weil man diese Stätte eigentlich mit live gespielten
dezenten Geigen- oder Akkordeontönen assoziiert.
Oder man kann nach wie vor der spielerischen
Eleganz beider Seiten der Meerenge verfallen, dem Anblick, der sich
bietet, wenn man eine dreistündige Bosporusfahrt macht. Es ist
ebenfalls schön, sich zu jeder Tageszeit in die Menge zu
mischen in der Istiklal Caddesi, der Hauptstraße des Pera, auf
der als einziges Verkehrsmittel eine miniaturhafte rote
Straßenbahn rollt. Die dortigen traditionellen Konditoreien
mit ihren Süßigkeiten, die auf alten italienischen
Rezepten beruhen, verführen uns genauso wie in unserer Jugend.
Buchläden, Synagogen, Kirchen, Bekleidungsgeschäfte,
Restaurants, Kinos, Theater locken so viele Leute in diese schmale
Straße, dass die lärmende Atmosphäre einem
Metropolengefühl gibt.
Bitter wird es für uns dann, wenn wir
den Blick nach oben richten. Die jahrhundertealten
neoklassizistischen Häuser sind in einem Zustand, der die
Mentalität derer vor Augen führt, die zwar theoretisch
für die Restaurierung das nötige Geld besitzen, sie aber
jederzeit zugunsten geschmackloser Hochhäuser abreißen
würden, wenn man sie ließe.
Die Istiklal Caddesi führt zu Galata mit
dem 61 Meter hohen Turm, der vermutlich 1216 von Genovesen gebaut
wurde, von dessen Restaurant und Aussichts- plattform man einen
wunderschönen Blick auf die Stadt hat. Verfallen sind
allerdings auch die Häuser um diesen Turm herum, die
etagenweise von Künstlern und Intellektuellen mit Mitteln, die
sie selber aufbringen, aufgekauft und zum Eigenzweck renoviert
werden. Ein Rundgang in dem einst repräsentativen Viertel
lässt einen unweigerlich davon träumen, wie prächtig
diese Stadt mit ihrer vorhandenen Substanz aussähe, wenn die
herrschende Lebensform nicht die der Neureichen
wäre.
Obwohl diese in unserer Wahrnehmung dazu
beigetragen haben, dass wir in Istanbul zunehmend an diesem und
jenem Anstoß nehmen, wäre es zu vereinfacht, zu
behaupten, die neureiche Schicht sei schuld an allem. Sicherlich
änderten sie den Charakter mehrerer unserer
Lieblingsorte.
Wahr ist auch, dass zusätzliche zehn
Millionen Menschen nach Istanbul zogen, nachdem wir die Stadt
seinerzeit verlassen haben, was eine enorme Ausweitung mit
chaotischer Architektur mit sich brachte. Emotional schwer zu
verkraften ist es jedenfalls, wenn das Haus, in dem man groß
geworden ist, ja gar auch die dazugehörige Straße nicht
mehr zu finden sind.
Zugegeben, Bewohner jeder beliebigen
Metropole müssen sich mit dem Schicksal abfinden, dass die
gewohnte Umgebung auf einmal nicht mehr da ist. In unserem Fall
allerdings unterscheidet sich das Verlustgefühl dadurch, dass
wir Berliner aus Istanbul zuweilen über die Ursachen der
Entfremdung nachdenken müssen.
Was ist es, was einen traurig stimmt? Dass
ein Café nicht mehr existiert, in dem man als Jugendlicher
verkehrte? Oder dass alle Freiluftkinos verschwunden sind, die
früher in jedem Viertel zu finden waren? Vermisst man die
abhanden gekommenen öffentlichen Basketballplätze? Oder
stört einen vielmehr die Tatsache, dass wir mit den neuen
Einwohnern der alten Heimatstadt keine gemeinsame Sprache mehr
haben? Eine unerfüllte Liebe in jeder Hinsicht.
Die Autorin ist Verlagschefin des
Zeitungsverlags "Freitag" in Berlin.
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